Von Klassen wird gesprochen, um ökonomisch bedingte Ungleichheiten in einer Gesellschaft zu thematisieren. Meist hängen diese mit der Stellung im Produktionsprozess (z.B. Selbstständige vs. Lohnabhängige) und/oder mit der beruflichen Stellung zusammen. Klassen werden dann aber auch als soziale Gruppen, verschiedentlich auch als politisch agierende Gruppen, begriffen.
Jenseits dieser allgemeine Bestimmung wird der Klassenbegriff jedoch sehr unterschiedlich verwandt. Das hängt damit zusammen,
- dass er als ein wissenschaftlicher, ein politischer und ein alltagsweltlicher Begriff genutzt wird,
- dass er in verschiedenen Sprachwelten und Weltregionen mit unterschiedlichen Bedeutungen verwandt wird,
- dass er in verschiedenen Theoriezusammenhängen je unterschiedlich verwendet wird und dass verschiedene Theoretiker:innen Klassen- und Schichtenbegriffe nicht in einem ausschließenden Sinne verwenden.
Gesellschaftliche Thematisierung von Klassen
Der Gebrauch des Klassenbegriffs für die Bezeichnung sozialer Gruppen bzw. die Sozialstruktur einer Nationalgesellschaft weist große länderspezifische Unterschiede auf; exemplarisch sei dies an drei Ländern verdeutlicht:
- In Deutschland wird der Klassenbegriff spätestens im 19. Jahrhundert zu einem im alltäglichen wie im politischen Raum einflussreichen Begriff. Sowohl Karl Marx wie auch Max Weber übernehmen ihn umstandslos, um größere soziale Gruppen in der deutschen Gesellschaft zu benennen. In Westdeutschland ist der Klassenbegriff nach der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft (und der Volksgemeinschaftsideologie) im Kontext der wirtschaftlichen Besserstellung vieler sozialer Gruppen in der Nachkriegsprosperität aus dem alltäglichen wie dem politischen Raum nach und nach verschwunden. Demgegenüber wird er in der Deutschen Demokratischen Republik zu einer zentralen Instanz der Abgrenzung, indem man auf die Entwicklung einer klassenlosen Gesellschaft hinarbeitete und sich von den Klassengesellschaften der Vergangenheit bzw. des Westens abgrenzte.
- In England wird bis heute von Klassen gesprochen, um strukturelle Ungleichheiten zu benennen. David Cannadine kommt in seiner Analyse zum Gebrauch des Klassenbegriffs in Großbritannien zu der Einschätzung: »Throughout the last three centuries of Britain’s history, there has been much less evidence of class consciousness and class conflict than Marx (…) asserted. But there has also been a great deal of consciousness of class as social description and social identity: most usually of class as hierarchy; sometimes of class as ›upper‹, ›middle‹ and ›lower‹ (…). For Britons are always thinking about who they are, what kind of society they belong to, and where they themselves belong in it« (1998, S. 23).
- Trotz der gegenüber Europa nicht geringen Unterschiede in der wirtschaftlichen, politischen und sozialen Entwicklung ist der Klassenbegriff in den USA im alltäglichen, im politischen wie im wissenschaftlichen Raum durchaus geläufig. In Bevölkerungsumfragen wird regelmäßig nach der sozialen Selbstverortung gefragt; so rechnen sich im Jahr 2022 2% der Upper-, 14% der Upper-middle-, 38% der Middle-, 35% der Working- und schließlich 11% der Lower-Class zu (Gallup Poll Social Series. Economy And Personal Finance, April 2022). »Social class has long existed in tension with other forms of social difference such as race, gender, and sexuality, both in academic and popular debate. While Marxist influenced class primacy perspectives gained prominence in US sociology in the 1970s, they faded from view by the 1990s, replaced by perspectives focusing on culture and institutions or on intersectional analyses (…). More recently, class and capitalism have reasserted their place on the academic agenda, but continue to coexist uneasily with analyses of oppression and social difference« (Eidlin/ McCarthy 2020, S. 1).
Wie in dem obigen Zitat bereits angedeutet läßt sich im 21. Jahrhundert eine Rethematisierung von Klassen beobachten. Dabei sind es zum einen wachsende soziale Ungleichheiten, Erfahrungen der Ausgrenzung und der geringen Aufstiegsmöglichkeiten, die das Klassenmodell als adäquate Etikettierung einer gesellschaftlichen Konstellation erscheinen lassen. Zum anderen geht es – oft vermittelt über autosoziobiograhische Texte z.B. von Annie Ernaux, Didier Eribon, Édouard Louis oder bell hooks – um die biographisch prägenden Erfahrungen einer bestimmten Klassenherkunft und um die damit verbundenen Diskriminierungen (Klassismus).
Theoretische Perspektiven auf das Klassenkonzept
Exemplarisch lassen sich die unterschiedlichen theoretischen Perspektiven auf Klassen an den folgenden Konzepten verdeutlichen:
- Bei Karl Marx, dem das Klassenkonzept gern zugeschrieben wird, finden sich ganz verschiedene Klassenbegriffe. So spricht er in historischer Perspektive von Klassen bzw. Klassenkämpfen als einem Motor der sozioökonomischen Entwicklung; als Zeitgenosse benennt er eine Vielzahl von Klassen und Klassenfraktionen (z.B. in Frankreich); in politischer Perspektive unterscheidet er Klassen in einem deskriptiven Sinne (Klassen an sich) von politisch handelnden Klassen (Klassen für sich). Schließlich geht er davon aus, dass es mit der weiteren Entwicklung des Kapitalismus zu einer Polarisierung von Klassenkonstellationen (Bourgeoisie vs. Proletariat) komme.
- Auch Max Weber arbeitet mit dem Klassenkonzept. So findet sich bei ihm die Unterscheidung von Besitzklassen (z.B. Besitzer:innen von Kapitalien und Grundbesitz, von Produktionsanlagen oder von versklavten Menschen und umgekehrt Besitzlose), von Erwerbsklassen (z.B. Unternehmer:innen, Bäuer:innen, Handwerker:innen, Arbeiter:innen) und von sozialen Klassen, die sich z.B. über soziale Vernetzungen und typische Auf- und Abstiege auszeichnen.
- Bei Pierre Bourdieu werden Klassen sowohl als politisch-ökonomische Gruppen (von Herrschenden bis zu Beherrschten) wie als soziokulturelle Gruppen (von den oberen Klassen über verschiedene Gruppen des Bürgertums bis zu den unteren Klassen) begriffen. Parallel interessiert er sich für die zeitlichen Veränderungen der Klassenstruktur wie für die typischen biographischen Wege (Laufbahnklassen). Zudem hinterfragt er den Klassenbegriff, indem er ›reale Gruppen‹ von ›theoretischen‹ oder ›wahrscheinlichen Klassen‹ unterscheidet. Schließlich spricht er als politischer Beobachter von ›repräsentierten Klassen‹, wenn (linke) politischer Parteien und Gewerkschaften sich als Fürsprecher von Klassen begreifen.
Empirische Zugänge zum Klassenkonzept
Im Folgenden sollen einige Ansätze vorgestellt werden, mit denen eine klassenorientierte Perspektive auf Sozialstrukturen empirisch umgesetzt wird.
- Das von Eric Olin Wright vorlegte Klassenmodell folgte auf der einen Seite der Marxschen Perspektive; auf der anderen Seite werden aber zwei wesentliche Revisionen vorgenommen. Im Gegensatz zur Marxschen Polarisierungsthese werden die Prozesse der Ausdifferenzierung betrieblicher Hierarchien berücksichtigt. Im Unterschied zur Konzentrationsthese werden auch die Betriebs- und Beschäftigungsformen in den fortbestehenden (oder neu entstandenen) mittelständischen und kleinen Betrieben in die Betrachtung einbezogen.
- Das von Robert Erikson und John Goldthorpe in den 1980er Jahren vorgelegte Modell der EGP-Klassen ergänzt die Frage des Produktionsmittelbesitzes um die Frage, wie sich die Beschäftigungsverhältnisse und Qualifikationsstrukturen in den komplexer werdenden Unternehmen und öffentlichen Verwaltungen gestalten. In diesem Sinne werden Beschäftigtengruppen nach der Qualifikation, nach Arbeitsinhalten aber auch nach Beschäftigtenverhältnissen unterschieden.
- Das Klassenmodell nach Daniel Oesch setzt sich von dem EGP-Modell ab, da dies doch stark durch die Strukturen der klassischen Industriegesellschaft und ihre männlich dominierte Arbeitswelt geprägt sei. Das von Oesch entwickelte Modell unterscheidet verschiedene Logiken (worklogics) der abhängigen und selbstständigen Arbeit. Die abhängige Arbeit differenziert er in Berufe, die einer technischen, einer organisationalen und einer interpersonalen bzw. dienstleistungsorientierten Arbeitslogik folgen. Innerhalb dieser Logiken unterscheidet er dann nach dem Qualifikationsniveau bzw. der Betriebsgröße.
- In der sozialhistorischen Forschung der Bielefelder Schule (z.B. Hans-Ulrich Wehler oder Jürgen Kocka) wurde das Klassenkonzept genutzt, um im Rahmen einer deutschen Gesellschaftsgeschichte langfristige sozialstrukturelle Veränderungen von den Anfängen der Industriegesellschaft bis in Gegenwart zu analysieren.
Kommentar
Ganz ähnlich wie beim Schichten- ist auch beim Klassenbegriff vor einem nominalistischen Verständnis zu warnen. D.h. es gilt, in dem theoretischen bzw. politischen Kontext zu klären, was damit jeweils gemeint ist. Nicht selten wird der Klassenbegriff auch in einem eher deskriptiven Verständnis gebraucht, so dass er kaum gegenüber sozialen Schichten abzugrenzen ist. An den Beispielen wird aber auch deutlich, dass der Klassenbegriff durchaus als wissenschaftlicher Begriff genutzt werden kann, wenn seine politischen Implikationen reflektiert werden. Es gilt aber sorgfältig zu benennen, wie Klassen abgegrenzt werden und wie diese Abgrenzungen begründet werden und welche analytischen Absichten damit verfolgt werden.
Weblinks
Pleinen, Jenny 2015: Klasse, in: Docupedia-Zeitgeschichte
Literatur
Bader, Veit M./ Benschop, Albert/ Krätke, Michael R./ van Treeck, Werner (Hrsg.) 1998: Die Wiederentdeckung der Klassen, Berlin: Argument-Verlag
Bourdieu, Pierre 1985: Sozialer Raum und ›Klassen‹. Leçon sur la leçon, Frankfurt am Main: Suhrkamp
Breen, Richard 2005: Foundations Of A Neo-Weberian Class Analysis, in: Erik Olin Wright (Hrsg.), Approaches to Class Analysis, Cambridge: Cambridge University Press
Cannadine, David 2000: Class in Britain, London: Penguin
Dahrendorf, Ralf 1957: Soziale Klassen und Klassenkonflikt in der industriellen Gesellschaft, Stuttgart: Enke Verlag
Eidlin, Barry/ Michael A. McCarthy 2020: Introducing Rethinking Class And Social Difference, in: Political Power and Social Theory, Volume 37, S. 1–23
Goldthorpe, John H. 2007: Soziale Klassen und die Differenzierung von Arbeitsverträgen, in: Gerd Nollmann, Sozialstruktur und Gesellschaftsanalyse. Sozialwissenschaftliche Forschung zwischen Daten, Methoden und Begriffen, Wiesbaden: VS Verlag, S. 39–71
Oesch, Daniel 2013: Occupational Change in Europe. How Technology and Education Transform the Job Structure, Oxford: Oxford University Press
Wright, Erik Olin/Cynthia Costello/David Hachen/Joey Sprague 1982: The American Class
Structure, in: American Sociological Review, Vol. 47, No. 6, S. 709–726