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Schlüsselfragen der Sozialstrukturanalyse

Auf dieser Seite werden einige für die Sozialstrukturanalyse typische Schlüsselfragen diskutiert.

Überblick:

Das ›System‹ und der/die ›Einzelne‹ – Wie entstehen soziale Ungleichheiten?

Solche Gegenüberstellungen finden sich in vielfältiger Weise in den alltäglichen wie in wissenschaftlichen Diskursen: Individuum und Gesellschaft, die ›Verhältnisse‹ und die kleine Frau/der kleine Mann.

Strategisch ist es sinnvoll, zunächst diese Dichotomien zu hinterfragen und die so unterstellte Polarität aufzulösen. Man sollte genauer benennen, was jeweils gemeint ist. Am einen Pol geht es um die Regelsysteme, die wirtschaftliches Handeln regulieren, um große ökonomische Akteure, um Nationalstaaten und ihre vielfältigen Institutionen (z.B. das Bildungs-, das Erwerbs- oder das Rechtssystem). Es geht aber auch um kognitive Strukturen, z.B. um Geschlechterbilder, um Rassismen. Auf der anderen Seite gilt es, sich zu verdeutlichen, wieviel Gesellschaft in diesen formal autonomen Individuen steckt. Sie werden sozialisiert, gebildet, beraten; sie sind ohne gesellschaftliche Infrastrukturen kaum lebensfähig. Man kann diese Gegenüberstellung auch als Ausdruck eines Handlungsproblems begreifen. Wir können und müssen unser Leben in die Hand nehmen, Entscheidungen treffen handeln. Umgekehrt sind wir stets mit dem gegenwärtigen wie vergangenen Handeln anderer konfrontiert. Wir sind allerorten mit den (materiellen, institutionellen und kognitiven) Erbschaften vergangener Tage konfrontiert. Wir leben in einer Welt von Institutionen (Nationalstaaten, Betriebe, Schulen, Familien, Verwaltungen), die oft eine lange Geschichte haben. Wir leben in einer Welt von Bildern und Geschichten.

Nach diesem Ausflug in die Soziologie zu der Frage zurück. Wenn man die Polarität auflöst, sind beide Antworten ›richtig‹. Soziale Ungleichheiten entstehen auf der Makroebene über die Art und Weise wie Arbeit geteilt wird, wie sich Nationalstaaten abgrenzen, organisieren und in (friedliche oder unfriedliche) Beziehungen treten, wie sich Bewertungen von Personengruppen durchsetzen und bei der Teilung von Arbeit oder der Vergabe von Rechten genutzt werden. Soziale Ungleichheiten entstehen auf der Mesoebene, wenn Schulen unterschiedliche Abschlüsse attestieren, wenn Betriebe ihre Belegschaften entlang solcher Abschlüsse unterschiedlich wertschätzen und entlohnen. Schließlich entstehen soziale Ungleichheiten aber stets auch auf der Mikroebene, wenn (z.B. in Deutschland 84 Mio.) Menschen (vor dem Hintergrund einer bestimmten sozialen Herkunft und einer bestimmten Kapitalausstattung) in Familien, in der Schule oder am Arbeitsplatz (nicht immer freie) Entscheidungen treffen und darüber mittelbar immer auch ihre soziale Positionierung beeinflussen.

Class, Gender und Race – Wie wirken sozioökonomische Ungleichheiten mit Rassismus und Sexismus zusammen?

Die Frage, in welchem Verhältnis die sozioökonomischen Ungleichheiten mit jenen Ungleichheiten stehen, die auf die spezifische Abgrenzung und Bewertung von Personengruppen (z.B. entlang von geschlechtlichen, ethnischen, religiösen oder phänotypischen Merkmalen) zurückgehen, gehört zu den klassischen Themen bei der Befassung mit sozialen Ungleichheiten. Im politischen Diskurs war man im Deutschland des frühen 20. Jahrhunderts zu der Unterscheidung von einem sozioökonomischen Hauptwiderspruch (der Klassenfrage) und so genannten Nebenwidersprüchen (z.B. der Geschlechterfrage) gekommen. Im wissenschaftlichen Raum wird im Kontext intersektionaler Forschungsansätze nach dem Zusammenwirken von Class, Gender und Race gefragt.

Ich würde vorschlagen, zunächst Prozesse der sozioökonomischen Positionierung und Prozesse des Othering systematisch zu unterscheiden; dann aber auch deren Zusammenwirken zu analysieren. Die Unterscheidung verschiedener Geschlechter ist im Sinne der Veranderung zunächst als ein Konstrukt zu begreifen, das dann aber dadurch wirkmächtig wird, dass es als Personenstand verrechtlicht wird, dass es in Sozialisationsprozessen Teil von Selbst- und Fremdzuschreibungen wird, dass es über Prozesse der Arbeitsteilung in unterschiedliche Arbeitsfelder und schließlich in unterschiedliche biographische Wege führt, die sich dann wiederum in je eigenen Erfahrungen und (kumuliert betrachtet) unterschiedlichen Habitus ausdrücken.

Grundsätzlich hängt die Frage, wie in gesellschaftlichen Produktionsprozessen die Arbeit geteilt wird, nur wenig mit der Frage zusammen, wie diese so abgegrenzten Positionen dann besetzt werden. Wenn nun aber die Etikettierungen von Arbeit mit spezifischen Etikettierungen von Personengruppen einhergehen – wenn also die vermeintlich fürsorglichen Frauen die Sorgearbeiten übernehmen – wird es komplizierter. So erscheinen Arbeitsteilungen gewissermaßen ›natürlich‹ begründet. Ganz ähnlich ist es, wenn Nicht-Weiße, denen man entlang lang eingeübter rassistischer Konstrukte gewisse Eigenschaften unterstellt, eher die weniger geachteten Jobs übernehmen. Ein Zusammenspiel der Charakterisierung von Positionen und Personengruppen findet sich auch in der Reproduktionsarbeit. Insofern lässt sich konstatieren, dass das Repertoire der Veranderung in sozioökonomischen Prozessen der Arbeitsteilung nicht selten genutzt wird, um soziale Unterschiede zu legitimieren, indem man sie mit vermeintlich natürlichen Unterschieden in Zusammenhang bringt. So kann dann die schlechtere Bezahlung von Arbeit oder die Nichtentlohnung von häuslicher Arbeit gerechtfertigt werden.

Die Klärung der Frage nach den Zusammenhängen von class, gender und race hängt vor allem davon ab, was man unter class versteht. Typischerweise wird class als ein Synonym für sozioökonomische Ungleichheiten gelesen; man könnte (im Kontext der Sozialstrukturanalyse) class lediglich im Sinne von sozialer Herkunft begreifen. Dann ließe sich die Frage etwas anders fassen, indem man fragt, welche Rolle die Veranderungen entlang geschlechtlicher, herkunftsbedingter oder rassistischer Merkmale in Prozessen der Arbeitsteilung spielen.

Dahinter steht zum einen die Überlegung, dass diese Veranderungen eine sehr wichtige Rolle für das Verständnis von sozialen Ungleichheiten und ihrer Reproduktion spielen. Zum anderen sollte aber bedacht werden, dass sich die Art und Weise, wie zu einem bestimmten Zeitpunkt in einer bestimmten Gesellschaft mit diesen Veranderungen gearbeitet wird, immer wieder neu untersucht werden muss. D.h. das Zusammenspiel, die Intersektion, dieser Veranderungen wird immer wieder neu verhandelt bzw. erkämpft. Die lange Geschichte der Teilung von Arbeits- und Lebenschancen bzw. -risiken nimmt in verschiedenen Ländern einen durchaus wechselvollen Verlauf. D.h. die nach wie vor bedeutsame Frage nach den Verhältnissen von class, gender und race lässt sich auf dieser grundsätzlichen Ebene nicht klären. Man kommt nicht umhin, immer wieder aufs Neue zu untersuchen, wie Mechanismen des othering (z.B. nach geschlechtlichen, ethnischen, herkunftsbezogenen Zurechnungen) in Prozessen der gesellschaftlichen Arbeitsteilung oder allgemeiner in Prozessen der Zuweisung von Lebenschancen verwandt werden – wohlwissend um die lange Vorgeschichte und die Institutionalisierungen bzw. die allgegenwärtigen Symbolisierungen solcher Diskriminierungen.

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Strukturiertheit und Systemik von sozialen Ungleichheiten – Gibt es noch Klassen/ Klassengesellschaften?

Die Frage, ob es angemessen sei, von Klassen und Klassengesellschaft zu sprechen, gehört vermutlich (zumindest in Deutschland) zu den umstrittenen Fragen der Sozialstrukturanalyse. Es wird darum gestritten, wie ausgeprägt und welcher Art die Unterschiede zwischen verschiedenen sozialen Gruppe sind. Geht es nur um Unterschiede in der materiellen Situation, oder spielen auch kulturelle Differenzen und vor allem Machtunterschiede eine wichtige Rolle. Dementsprechend wird dann diskutiert, ob es sinnvoll ist, Gegenwartsgesellschaften als Klassengesellschaften zu begreifen.

Das Konzept der Klasse sollte zunächst einmal als ein politisches Konzept begriffen werden. So wurde im 19. und 20. Jahrhundert immer wieder versucht, Klassen politisch zu adressieren, zu organisieren. Insbesondere die Arbeiter:innenschaft sollte sich ihrer elenden Lage bewusst werden, sich organisieren und ihre Interessen durchsetzen. Auch in der Öffentlichkeit wie in der Alltagswelt wurde häufig von Klassen gesprochen. Dementsprechend nutzten viele Wissenschaftler:innen in dieser Zeit wie selbstverständlich den Klassenbegriff. Nach dem Zweiten Weltkrieg gestaltet sich die politische wie die wissenschaftliche Verwendung des Konzepts komplizierter. Durch die West-Ost- bzw. die Blockkonfrontation wird der Begriff weiter aufgeladen. Im wissenschaftlichen Feld fungiert der Begriff in sehr unterschiedlichen Varianten; das hängt auch mit den verschiedenen Sprachräumen zusammen.

Ein wesentliches Problem der Verwendung des Klassenkonzepts für sozialwissenschaftliche Analysen ist zum einen die Vielgestalt des Konzepts. Die lange Geschichte von Klassentheorien und das Changieren zwischen politischer und wissenschaftlicher Analyse impliziert, dass Klassen stets in sehr unterschiedlicher Perspektive begriffen wurden:

Sogenannte Klassentheorien fungierten im politischen Raum oft als universelle politische Handlungsanleitung und -begründung. Auf sie wurde in den Kämpfen der Arbeiterorganisationen zurückgegriffen; sie dienten aber auch als Hintergrundkonzept für die oft mörderischen „Gesellschaftsexperimente“ des 20. Jahrhunderts, die allesamt klassenlose Gesellschaft anstrebten. Auch im wissenschaftlichen Raum waren Klassentheorien oft mit einem umfassenden Erklärungsanspruch gesellschaftlicher Phänomene verbunden.

Man sollte dem Konzept der Klasse im wissenschaftlichen Raum ausgesprochen vorsichtig begegnen, ohne dabei aber die mit der Thematisierung von Klassen angesprochenen Phänomene und Fragen geringzuschätzen. Den sozioökonomisch bedingten Ungleichheiten kommt eine große Bedeutung zu; es erscheint sinnvoll, sich für Machtverhältnisse (und Ausbeutung) zu interessieren und auch die Frage, wie sich die sozioökonomischen Verhältnisse in Erfahrungen, Weltsichten und Handlungsweisen niederschlagen, erscheinen interessant. Das alles bedeutet jedoch nicht, damit auch die Klassentheorien als eine Art all-inclusive-Lösung aller Fragen der Sozialstrukturanalyse zu übernehmen. Polemisch gesprochen, sollten sozialwissenschaftliche Analysen nicht den verlockenden Abkürzungen und Erklärungsversprechen folgen, die sogenannte Klassentheorien (aber auch universale Theorien des Kapitalismus) anbieten.

Im Folgenden soll versucht werden, entlang der oben aufgeführten Dimensionen des Klassenkonzepts einige summarische Aussagen über die Sozialstruktur Deutschlands zu treffen.

In allen hier aufgeführten Dimensionen kann die Klassenperspektive erhellend sein. Es ist jedoch zu fragen, ob es wirklich einen analytischen Mehrwert hat, wenn man annimmt, in all diesen Sphären sei ein einheitliches Regelsystem am Werk. Die Fragestellungen, die aus der Klassenperspektive erwachsen, sind durchaus sinnvoll; die Analysen und mithin auch die Antworten müssten jedoch weitaus differenzierter ausfallen. Es gibt große Unterschiede in den Arbeits- und Lebenslagen und auch große Unterschiede in der Macht, über politische und ökonomische Belange entscheiden zu können, aber man macht es sich letztlich mit der Klassenformel zu einfach.

Schließlich ist auch auf die systematischen Leerstellen von Klassenkonzepten zu verwiesen. Die werden insbesondere entlang der Frage deutlich, wie sich Klassenkonzepte mit intersektionalen oder transnationalen Perspektiven verbinden lassen.  In der intersektionalen Perspektive wird deutlich, wie jene sozioökonomischen Differenzierungen, die vom Klassenkonzept thematisiert werden, überlagert werden von Unterscheidungen, die mit dem Geschlecht, der ethnisch-kulturellen Zurechnung oder der sozialen Herkunft zusammenhängen. Es wird deutlich, dass die lange Geschichte von Klassentheorien stets mit einer ausgeprägten Fixierung auf entlohnte Erwerbsarbeit einherging, mithin mit einer Geringschätzung wichtiger anderer Formen gesellschaftlichen Arbeitens und Lebens. Es wird deutlich, wie in Migrationsgesellschaften sozioökonomische Ungleichheiten mit Ungleichheiten zusammenhängen, die mit verschiedenen Migrationsgeschichten verschränkt sind. Auch in der transnationalen Perspektive wird deutlich, dass das Klassenkonzept (trotz des im politischen Raum favorisierten Internationalismus) immer auch ein Konzept war, das vorrangig im nationalstaatlichen Rahmen genutzt wurde. D.h. es ist nicht in der Lage, jene komplexen Lebenswirklichkeiten zu erfassen, die sich im Kontext von Migrationen und transnationalen Lebensweisen einstellen.

Nationen und Klassen – Wie hängen weltweite und nationale Ungleichheiten zusammen?

Soziale Ungleichheiten sind alles andere als ein neues Phänomen. Mit der sich entwickelnden Welt der Nationalstaaten und mit der Durchsetzung von Verfassungen, die zunächst nur für weiße Männer ein Gleichheitsgebot verankern, verändert sich der Blick und der gesellschaftliche Umgang mit sozialen Ungleichheiten. Diese Entwicklungen werden in den früh industrialisierten Ländern des 19. Jahrhunderts insbesondere über die Entstehung einer ›sozialen Frage‹ erkennbar, die dann am Anfang der Entwicklung von sozialstaatlichen Institutionen steht.

Die Verhandlung von sozialen Ungleichheiten auf der nationalen Ebene impliziert zum einen, dass wie bereits erwähnt bestimmte Gruppen innerhalb eines Nationalstaats von den Gleichheitsrechten, aber auch von den politischen und sozialen Rechten ausgeschlossen werden. Das gilt für Frauen, für sogenannte Minderheiten, aber auch für exkludierte Gruppen, die in der Sprache der ständischen Gesellschaft ›unehrenhaften‹ Berufen nachgingen.

Zum anderen hat die nationale Thematisierung sozialer Ungleichheiten den Effekt, das die Ungleichheitsverhältnisse zwischen den Nationalstaaten oder zwischen Nationalstaaten und kolonisierten Regionen aus dem Blick geraten. Zwar gab es bereits von Beginn an den Kampf der Frauen für politische und soziale Rechte, es wurden die Probleme von Kolonialismus und Sklaverei diskutiert, aber es gelang lange Zeit nicht, die Gruppe der ›Gleichen‹ tatsächlich zu erweitern. Stärkere Veränderungen setzten zunächst nach dem Ersten und vor allem dem Zweiten Weltkrieg ein; Völkerbund und UNO entstanden, die Charta der Menschenrechte wurde verabschiedet und in der Phase der Dekolonisierung entstand eine Vielzahl neuer Nationalstaaten.

Der Mainstream des wissenschaftlichen Diskurses über soziale Ungleichheiten öffnet sich erst in der Phase der zweiten Globalisierung ab den 1980er Jahren für eine transnationale Perspektive. Auch in medienöffentlichen Diskursen sind soziale Ungleichheiten im Weltmaßstab wie auch im europäischen Maßstab präsenter geworden.

Für ein Verständnis sozialer Ungleichheiten ist es bedeutsam beide Ungleichheitsebenen parallel zu betrachten. So sind die einzelnen Nationalstaaten nach wie vor die zentrale Instanz, um soziale Ungleichheiten im nationalen Rahmen zu begrenzen; über ihre Migrationspolitik sind prosperierende Nationalstaaten zudem Akteure, die (in begrenztem Maße) auch das europäische oder globale Ungleichheitssystem verändern können. Schließlich sind die Nationalstaaten wie auch global agierende Unternehmen Akteure, die z.B. über ihre Außen-, Militär-, Handels- und ›Entwicklungspolitik‹ oder über Investitionen und Produktionsbeziehungen Verhältnisse sozialer Ungleichheit im internationalen Maßstab beeinflussen.

Neben diesem Zusammendenken von nationaler und internationaler Ebene gilt es dann aber auch, jene Praktiken in den Blick zu nehmen, die quer zu den nationalstaatlichen Grenzen verlaufen. Das sind einerseits Praktiken von Migration und transnationaler Arbeits- und Lebensweise; es sind andererseits auch transnationale Praktiken des Handelns und des Produzierens. Auf beiden Wegen werden länderübergreifend Sozialstrukturen verändert und Vernetzungen hergestellt. (vgl. Faist 2018)

Strukturierung und Autonomie – Wie wirken Sozialstrukturen auf das Handeln ein?

Die Frage wie Sozialstrukturen auf die jeweils handelnden Akteure einwirken, lässt sich idealtypisch recht präzise klären, wenn man verschiedene Grundtypen von Sozialstrukturen unterscheidet, so z.B.

• Sozialstrukturen, die mit der Staatsbürgerschaft und anderen Rechten verknüpft sind

• Sozialstrukturen, die sich in ökonomischen Kapitalien ausdrücken

• Sozialstrukturen, die sich in inkorporierten kulturellen Kapitalien und in Habitus ausdrücken

• Sozialstrukturen, die sich in Veranderungen und deren Bewertung ausdrücken

D.h. Sozialstrukturen drücken sich Rechten und Infrastrukturen aus, sie drücken sich in materiellen Größen, sie setzen sich aber auch in den Körpern fest.

Grundsätzlich ist zu konstatieren, dass Sozialstrukturen in Marktgesellschaften zumeist nicht deterministisch wirken, sie wirken eher indem sie bestimmte Entscheidungen und Praktiken wahrscheinlicher machen als andere. Und die Ausprägung dieser Wahrscheinlichkeiten ist von sehr vielen Faktoren abhängig.

Wenn man (in freien Marktgesellschaften) zunächst einmal von autonomen Individuen ausgeht, dann sollte man zuerst einen Blick auf die Erbschaften werfen, mit denen diese biographisch betrachtet starten. Sie werden als Menschen mit bestimmten staatsbürgerlichen Rechten zufällig in einem bestimmten Land geboren – das ist das Ergebnis der so genannten ›birth-right-lottery‹ (Shachar 2009). Sie werden bei Geburt einem bestimmten Geschlecht zugeordnet. Sie sind darüber hinaus mit bestimmten körperlichen Merkmalen ausgestattet, die (von ihnen und anderen) in ihrem Lebensweg immer wieder geschlechtlich, rassistisch oder ableistisch gelesen werden. Sie verfügen über bestimmte psychische Dispositionen und bestimmte Habitus. Schließlich werden sie auch in bestimmte haushaltliche und lokale Konstellationen hineingeboren. Sie haben teil an der materialen aber auch der sozialen Situation, in der der elterliche Haushalt leben muss; sie haben Teil an den Infrastrukturen, die in einem Land und an einem bestimmten geographischen und sozialen Ort verfügbar sind. D.h. neben ökonomischen und kulturellen Kapitalien werden eben auch Rechte und Wertschätzungen und schließlich auch Haltungen und Orientierungsmuster vererbt.

D.h. die Menschen werden frei geboren, aber ihr eigener Rucksack, wie auch der Rucksack, der sie umgebenden Gesellschaft, ist bereits wohl gefüllt. Neben den typischerweise in der Sozialstrukturanalyse reflektierten Einflussfaktoren sind dann vor allem zeitspezifische Faktoren zu berücksichtigen. Die Menschen werden in Krieg und Frieden, Prosperität und Mangel, Boom und Krise geboren. Auch die demografische Konstellation spielt eine nicht unwichtige Rolle.

Umgekehrt sind Menschen in liberalen Marktgesellschaften autonom, es gibt vielerlei Förder-, Bildungs- und Beratungsangebote. Menschen werden ermuntert, ihr Leben in die Hand zu nehmen; sie werden unterstützt, sich aus Gewaltverhältnissen und Abhängigkeiten zu befreien. Es gibt nicht wenige, die sich auch unter ungünstigen Rahmenbedingungen als mehr oder weniger resilient erweisen. Es gibt jedoch auch viele Hinweise, dass es alles andere als einfach ist, sich aus seinem Herkunftsmilieu zu entfernen. Bourdieu hatte einmal vom Schweiß des Aufstiegs bzw. der Aufsteiger:innen gesprochen. Das trifft sicherlich nicht nur auf Bewegungen im sozialen Raum zu, es gilt auch für Bewegungen im Raum der Geschlechter und des Begehrens, es gilt schließlich auch für Bewegungen in politischen und kulturalisierten Räumen, wie sie z.B. mit Migrationen (oder mit Systemtransformationen z.B. in Ostdeutschland) verbunden sein können.

Soziale Ungleichheit und Klimawandel – Wie hängt das zusammen?

Die Geschichte der sozialen Ungleichheiten ist aufs engste mit der Geschichte des globalen Naturverbrauchs verknüpft, der heute mit Klimawandel und Artensterben unübersehbar wird. D.h. jene Prozesse der gesellschaftlichen Produktion und Reproduktion, die in manchen Weltteilen zu einem fundamentalen Wandel von Arbeits- und Lebensbedingungen beigetragen haben (und in anderer Regionen eher Stillstand oder Niedergang bewirkt haben), sind auch für den kontinuierlichen Anstieg der CO2-Emissionen und den dramatischen Rückgang von Artenvielfalt verantwortlich.

Die CO2-Emissionen hängen mit den Energieträgern zusammen, die in Produktions- und Reproduktionsprozessen genutzt werden, mit den Produkten und Produktionsverfahren, die wir nutzen. Derzeit verengt sich der dominante Diskurs auf die noch am ehesten wahrnehmbaren Probleme des Klimawandels; dabei sind die Probleme des Artensterbens und der damit zusammenhängende Naturverbrauch ein gleichermaßen großes Problem. D.h. es geht nicht nur um jenes Feld, auf dem sich am ehesten technische Lösung vorstellen lassen, um einen Wechsel von Energieträgern. Es geht vielmehr darum, welche Produkte und Dienstleistungen wir wie herstellen wollen; und es geht darum, wie und wie häufig wir diese Produkte verwenden.

Der überaus enge Zusammenhang von Produktions- und Lebensweise läßt sich an der Geschichte des Automobils aufzeigen.

Diese Beispiele mögen genügen, um aufzuzeigen, dass allein die Fragen der Automobilität sehr weitgehend mit sozialen Fragen verknüpft sind. Das lässt sich nicht nur auf der nationalen, sondern auch auf der globalen Ebene beobachten, wenn man den Wegen der Rohstoffe, der Energie aber auch den Wegen der Produkte und des Abfalls folgt. So landen nicht wenige Autos nicht im Hochofen, sondern führen ein drittes und viertes Leben in ganz verschiedenen Weltregionen. 

Erste Hinweise auf den Zusammenhang von relativer Einkommensposition und CO2-Emissionen erbringt die folgende Abbildung.

Eigene Darstellung nach Daten von Chancel (2022)

Es werden zum einen die großen Unterschiede zwischen den Weltregionen deutlich; so liegt der CO2-pro-Kopf-Verbrauch in den USA mehr als 12 mal über dem in Subsahara-Ländern. Zum zweiten wird deutlich, wie sich innerhalb dieser Weltregionen der CO2-Fussabdruck nach Einkommensgruppen unterscheidet. Auf globaler Ebene liegt der jährliche Pro-Kopf-Verbrauch der ärmsten 50% bei 1,6, der mittleren 40% bei 6,6 und der obersten 10% bei 31,0 Tonnen; betrachtet man nur die oberen 1% des Einkommensspektrums sind es sogar 110 Tonnen. Auf die Einkommensreichsten 10% entfallen 2019 etwa 48% aller CO2-Emissionen. Noch ungleicher wird das Bild, wenn man statt der jährlichen Fußabdrücke, die kumulierten Fußabdrücke in den Blick nimmt (vgl. dazu den World-Inequality Report 2022, S 119f).

Die Frage ist nun aber, wie dieses Wissen für die Debatte um Strategien zur Begrenzung des Klimawandels genutzt werden kann.

Trotz dieser sehr unterschiedlichen sozialen Verteilung der Fußabdrücke gilt es, sich der eingangs skizzierten komplexen Zusammenhänge von umweltrelevanten Praktiken und sozialer Lage bewusst zu werden. Dementsprechend müssen alle Interventionen, die zu einer Reduktion von Emissionen und zum Erhalt der Artenvielfalt beitragen sollen, immer auch in der sozialen Dimension geprüft werden.

Literatur