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Diagnosen der Gegenwartsgesellschaft –
»In welcher Gesellschaft leben wir eigentlich?«

Im Folgenden wird versucht, wesentliche Aspekte der Sozialstrukturen der Gegenwartsgesellschaft zu skizzieren. Als Ausgangspunkt kann eine Frage dienen, die der Wissenschaftsjournalist Armin Pongs in den 1990er Jahren verschiedenen Soziolog:innen vorlegte: »In welcher Gesellschaft leben wir eigentlich?«.

Die Frage ist als Frage des Wissenschaftsjournalismus völlig ok. Nimmt man sie jedoch als Frage an die wissenschaftliche Sozialstrukturanalyse, dann muss man sie etwas genauer untersuchen.

Reflexion der Fragestellung

Zum einen ist zu klären, was denn unter Gesellschaft zu verstehen ist. Geht es um Nationalgesellschaften, um Gesellschaften im europäischen Kontext oder geht es um die Weltgesellschaft. Zum zweiten ist anzumerken, dass die Frage suggeriert, dass sich eine Gesellschaft mit einem einzigen Label beschreiben lasse; auch das ist zu hinterfragen. Drittens ist zu reflektieren, wer mit dem wir gemeint ist, und darüber hinaus ist zu klären, ob alle, die z.B. an einem bestimmten Ort leben und arbeiten, auch in derselben Gesellschaft leben. Schließlich ist auch die Erwartungshaltung zu hinterfragen, die mit einem solchen Typ von Frage verbunden ist. Es wird davon ausgegangen, dass Soziolog_innen die Aufgabe haben, Gegenwartsgesellschaften zu etikettieren, um wesentliche Veränderungen bzw. Trends pointiert zu beschreiben – im Sinne der Kritik, im Sinne der Analyse oder im Sinne der Zukunftsdeutung. D.h. die Frage ist keineswegs so ›unschuldig‹, wie sie sich gibt; sie schreibt einen bestimmten Antworttyp vor.
Ausgehend von dem ersten Problem soll im Folgenden über mögliche Antworten für die ›deutsche Gesellschaft‹ nachgedacht werden. Dabei soll eine solche deutsche Gesellschaft als ein Ensemble von Akteuren und Institutionen begriffen werden, die gegenwärtig in dem nationalstaatlich umgrenzten Flächenraum Deutschland agieren; dabei sind diese Unternehmen, Verwaltungseinheiten oder einzelnen Menschen in verschiedenster Weise global, europäisch, aber auch regional eingebunden. Das zweite Problem wird mit der folgenden Diskussion ganz unterschiedlicher Antworten aufgenommen. Das dritte Problem begreife ich eher als Mahnung, nicht unreflektiert in Kollektiven zu denken. Gleiches gilt für die letzte Anmerkung; ich verstehe den folgenden Diskurs als eine Möglichkeit, im Kontext dieses Begriffsspiels sozialstrukturelle Erkenntnisse zu erläutern.

Mögliche Antworten

Vorab eine Bemerkung zur Vielzahl der Antworten: Sie sind nicht Ausdruck dessen, dass sich ›die Wissenschaft mal wieder nicht einigen kann‹. Man sollte sie als Ausweis der Kreativität des sozialwissenschaftlichen Diskurses, vor allem aber als Ausweis sich stets verändernder Problemlagen und Problemwahrnehmungen, begreifen. Sicherlich spielen auch wissenschaftliche Eitelkeiten eine Rolle; man sollte aber in einem konstruktiven Sinne untersuchen, was man anhand der stets zugespitzten Etikettierungen über die Gegenwartsgesellschaft bzw. über Sozialstrukturen lernen kann.

Es ist sinnvoll, die große Vielfalt von Etikettierungen, mit denen die Gegenwartsgesellschaft von den Sozialwissenschaften, von politischen Organisationen und Institutionen, von der Zivilgesellschaft oder dem Feuilleton bedacht werden, ein wenig zu ordnen. Im folgenden werden jeweils Gruppen von Antworten diskutiert, die sich der Frage aus unterschiedlichen Perspektiven nähern.

Überblick:

  • In der sozialökologischen Perspektive werden die existenziellen Probleme von Klimawandel und Artensterben auch als soziale Probleme gelesen
  • In der welt-räumlichen Perspektive werden Gesellschaften nicht zwingend als Nationalgesellschaften gefasst und in einen europäischen bzw. globalen Zusammenhang gestellt
  • In der sozioökonomischen Perspektive steht die wirtschaftliche und politische Verfasstheit von Gesellschaften im Vordergrund
  • In der sozialstrukturellen Perspektive werden soziale Gruppen analysiert, die sich durch ihre soziale Position und/oder durch soziale Etikettierungen unterscheiden
  • In der soziokulturellen Perspektive interessiert die Frage, wie soziale Ungleichheiten sich auch in kulturellen Praktiken (im Lebensstil oder im Geschmack) ausdrücken
  • In der sozialpolitischen Perspektive wird auf die Bedeutung von Institutionen des National- bzw. Sozialstaats für Sozialstrukturen fokussiert.
  • In welcher Gesellschaft leben wir eigentlich?

Am Ende findet sich der Versuch einer Antwort. Wer ein wenig ungeduldig ist (›tl;dr‹), kann natürlich direkt nachschauen. Da steht dann aber auch, dass die wesentlichen Erträge nicht in dieser Zuspitzung liegen, sondern in der konstruktiven Auseinandersetzung mit den verschiedenen Vorschlägen.

Sozialökologische Perspektive

Ich beginne mit einer Perspektive, die typischerweise nicht als ein Thema der Sozialstrukturanalyse begriffen wird. Es geht um die existenziellen Fragen, die mit der Jahrhunderte währenden Nutzung fossiler Energieträger und Rohstoffe und mit dem damit zusammenhängenden Artensterben verknüpft sind.

Beide Themen beeinflussen in erheblichem Maße die Frage, wie sich ein zukünftiges Leben und Arbeiten auf diesem Planeten gestalten wird. Sowohl die in die Vergangenheit gerichtete Frage, wie diese exzessiven Formen der Naturvernutzung zu begreifen sind, als auch die an Gegenwart und Zukunft gerichtete Frage, wie ein sozialökologischer Transformationsprozess aussehen kann, der diesen Problemlagen gerecht wird, hängen enger mit den Themen der Sozialstrukturanalyse zusammen, als man zunächst, angesichts der naturwissenschaftlich bzw. technisch dominierten Debatte um Klimawandel und Artensterben, erwarten mag.

Die Verknüpfung liefern die Konzepte der Produktionsweise und der Lebensweise. D.h. die Nutzung fossiler Energien und Rohstoffe hat erst jene Produktionsweise ermöglicht, die wir als industrielle Weise des Produzierens begreifen. Und diese Weise des Produzierens hat wiederum weitreichende Folgen für die damit verbundenen Lebensweisen und den Konsum gehabt. Mit dem Entstehen früher Konsumgesellschaften und der Produktion solcher Konsumgüter sind wesentliche Transformationen der Sozialstruktur verbunden, die in vielen Industriegesellschaften des 20. Jahrhunderts die Zurückdrängung von Armut und eine soziale Besserstellung für durchaus breitere Bevölkerungsgruppen ermöglicht haben. Jan de Vries (2008) beschreibt, wie die ›Erfindung des Frühstücks‹ einerseits die Lebensweise verändert, wie damit dann aber auch neue Bedarfe und Märkte entstehen z.B. für verschiedene Genussmittel (Kaffee, Tee, Zucker etc.) oder für Haushaltsgüter (Porzellan, Kacheln etc. ). Der Wirtschaftshistoriker Werner Plumpe (2019) vertritt in seiner Geschichte des Kapitalismus die These, dass die Produktion von Massengütern eine wesentliche Rolle in der Entwicklung des Kapitalismus spielte; so stand die Produktion von Bier später dann vor allem von (bezahlbaren) Textilien am Anfang der Geschichte der industriellen Produktion. Die Beispiele machen deutlich, dass es im Prozess der sozioökologischen Transformation um mehr geht als einen Wechsel der Energieträger.

Risikogesellschaft

Bereits in den 1980er Jahren hatte Ulrich Beck das Konzept der Risikogesellschaft entwickelt. Er bezieht sich dabei auf ökologische wie auf soziale Risiken. Er verknüpft seine Argumentation mit einer Geschichte der Moderne und der Naturbeherrschung. »Die Gegenüberstellung von Natur und Gesellschaft ist eine Konstruktion des 19. Jahrhunderts, die dem Doppelzweck diente, die Natur zu beherrschen und zu ignorieren« (1986, S. 9). Beck unterscheidet eine erste industriegesellschaftliche Moderne, die einer »Logik der Reichtumsproduktion« folge; demgegenüber setze sich mit der zweiten fortgeschrittenen Moderne nach und nach eine »Logik der Risikoproduktion« (S. 17) durch. Es sind insbesondere zwei Gruppen von Risiken, die Beck im Auge hat: die Risiken der wissenschaftlich-technischen Entwicklung und die Risiken, die aus den Modernisierungsprozessen selbst erwachsen. Dies lässt sich an zwei Zitaten aus dem Vorwort, hier ein Link, recht gut verdeutlichen:

  • »Während in der Industriegesellschaft die ›Logik‹ der Reichtumsproduktion die ›Logik‹ der Risikoproduktion dominiert, schlägt in der Risikogesellschaft dieses Verhältnis um. (…) Im Zentrum stehen Modernisierungsrisiken und -folgen, die sich in irreversiblen Gefährdungen des Lebens von Pflanze, Tier und Mensch niederschlagen. Diese können nicht mehr – wie betriebliche und berufliche Risiken im 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts – lokal und gruppenspezifisch begrenzt werden (…).« (S. 17)
  • »Die Menschen werden freigesetzt aus den Lebensformen und Selbstverständlichkeiten der industriegesellschaftlichen Epoche der Moderne (…). Die dadurch ausgelösten Erschütterungen bilden die andere Seite der Risikogesellschaft. Das Koordinatensystem, in dem das Leben und Denken in der industriellen Moderne befestigt ist – die Achsen von Familie und Beruf, der Glaube an Wissenschaft und Fortschritt –, gerät ins Wanken, und es entsteht ein neues Zwielicht von Chancen und Risiken – eben die Konturen der Risikogesellschaft.« (S. 20)

Grundsätzlich ist den Beckschen Einschätzungen zuzustimmen. Zu überlegen ist jedoch, ob die von ihm vorgenommenen Verknüpfungen sinnvoll sind. So verknüpft er die technisch-wissenschaftlich bedingten Risiken mit den Risiken, die sich aus den Veränderungen der Haushalte, der Sozialpolitik oder der Unternehmen ergeben. Mit erscheint es sinnvoller, diese Entwicklungen zu unterscheiden. Zudem verknüpft er die sich verändernden Risikostrukturen mit einer sich verändernden Moderne; auch hier muss ich bekennen, dass mich das dahinter erkennbare Interesse an großen Entwicklungsgesetzen von Gesellschaften doch eher an das 19. Jahrhundert erinnert. Schließlich noch eine Bemerkung zur Kollektivität der umweltbezogenen Risiken. Das ist auf den ersten Blick einleuchtend, weil der Klimawandel letztlich alle trifft; umgekehrt wird inzwischen aber auch immer deutlicher, dass die Folgen z.B. der ökologischen Veränderungen weltregional durchaus unterschiedlich ausfallen und dass Menschen abhängig von den verfügbaren Ressourcen und Infrastrukturen ganz unterschiedliche Möglichkeiten haben, auf diese oft graduellen Veränderungen zu reagieren.

(Post-)fossile Gesellschaft

Die Begriffe der fossilen bzw. der post-fossilen Gesellschaft sind gegenwärtig vor allem als politische Begriffe zu verstehen, um zu verdeutlichen, wie eng die vermeintlich ›natürlichen‹ Probleme von Klimawandel und Artensterben mit der lange vorherrschenden Weise des Produzierens, Regulierens und alltäglichen Lebens (in den Industriegesellschaften des globalen Nordens) verknüpft sind. Ob eine solche post-fossile oder eine Postwachstumsgesellschaft mit den bewährten Logiken z.B. der kapitalistischen Produktion brechen muss, oder es einen ›grünen Kapitalismus‹ geben kann, ist umstritten.

Wie weitreichend sich soziale Strukturen in den gegenwärtigen und zukünftigen Transformationsprozessen verändern werden, ist nur schwer abzusehen. Die hier skizzierten sozialökologischen Konzepte sollten eher als Mahnung begriffen werden; es geht um mehr als die Transformation von Techniken und Infrastrukturen. Der preiswerte und bedenkenlose Konsum von Gütern und Dienstleistungen war immer auch Teil einer Aufstiegsgeschichte und eines Fortschrittsversprechens; damit gilt es umzugehen.

Welt-räumliche Perspektive

Im 19. und 20. Jahrhundert haben sich Nationalstaaten als eine dominante Form der Verknüpfung von territorialen und politischen Räumen weltweit durchgesetzt. Erfolgreichen Nationalstaaten gelang eine gewisse Homogenisierung ihrer Binnenräume (z.B. in ökonomischer, politischer, sozialer und kultureller Perspektive); gleichzeitig zogen sie Grenzen nach außen und regulierten die Möglichkeiten, wie Menschen, Waren und Ideen diese Grenzen überschreiten können oder auch nicht.

Europäisierung/ Globalisierung

In den letzten Jahrzehnten hat die Europäische Union zu einer wachsenden politischen, ökonomischen und sozialen Verflechtung der beteiligten Nationalstaaten beigetragen. Auch die verschiedenen Phasen der Arbeits- und der Fluchtmigration haben zu einer stärkeren sozialen Vernetzung beigetragen. Diese Prozesse lassen sich sinnvoll als Prozesse einer Europäisierung verstehen. Umgekehrt spielen die europäischen Nationalstaaten noch immer eine recht starke Rolle und es gibt wichtige (sozialstrukturell bedeutsame) Politikbereiche, wie z.B. die Sozialpolitik aber auch die Bildungspolitik, in denen eine Integration kaum vorangeschritten ist. Martin Heidenreich betont, dass es nicht einfach zu einer Ersetzung nationaler durch europäische Regulierungen komme, sondern, dass die »EU ein eigenständiges Muster der gesellschaftlichen Integration entwickelt, das (…) eher den wirtschaftlich, politisch und soziokulturell sehr heterogenen USA als dem stark integrierten europäischen Nationalstaat der Nachkriegszeit ähnelt« (2022, S. 18).

Seit den 1980er Jahren wurde von Prozessen einer fortschreitenden ökonomischen, kulturellen aber auch sozialen Globalisierung gesprochen. Augenfällig war die Intensivierung von globalen Liefer- und Produktionsketten, von weltweiten Finanzströmen, von globalen Informationsnetzwerken und kulturellen Praktiken, aber auch von globalen Migrationen und transnationalen Lebensweisen. Ähnlich wie bei Prozessen der Europäisierung wurden Prozesse der Globalisierung mit einem Bedeutungsverlust von Nationalstaaten verbunden.

Postkoloniale Gesellschaft

Von postkolonialen Gesellschaften wird gesprochen, um zu unterstreichen, welche gravierenden und langwährenden Folgen der weltweite Kolonialismus in den Ländern des globalen Südens und Nordens hatte und noch immer hat. D.h. auch die postkoloniale Konstellation ist ökonomisch, politisch, sozial und kognitiv in hohem Maße vom Kolonialismus geprägt; das gilt für die Kolonisierenden wie für die Kolonisierten. Man hat es mit einer verflochtenen Geschichte (entangled history) zu tun. Insofern ist auch die obige These vom Siegeszug des nationalstaatlichen Modells kritisch zu hinterfragen.

»Der Begriff der Kolonialität bezeichnet insgesamt jenes epistemische Herrschaftsverhältnis, in dessen Folge eine soziale Wirklichkeit hervorgebracht wird, hinter die die Beschriebenen nicht zurücktreten können, auch wenn sie sich hierin nicht – bzw. nur in fragmentierter Form – wiederfinden (…). Gleichwohl stellen dieses Wissen und die darauf gründende Weltsicht eine unausweichliche soziale Realität dar, und zwar in Form unmittelbarer Erwartungshaltungen, Zuschreibungen und Verhaltensweisen. Diese Projektionen der Anderen besondern das Gegenüber, ohne dass noch erkennbar ist, wie Fremdheit und kulturelle Differenz in diesen Prozessen erst hervorgebracht werden« (Winkel 2019, S. 296).

Sowohl Prozesse der Europäisierung wie der Globalisierung haben die Gegenwartsgesellschaft massiv verändert. Dennoch wäre es fahrlässig, die Bedeutung der Nationalstaaten zu unterschätzen:

Während der nationalstaatlich abgesteckte Horizont in der Vergangenheit nicht selten ein willkommener Wirklichkeits- und Komplexitätsbegrenzer war, steht die Sozialstrukturanalyse in welt-räumlicher Perspektive einer weitaus komplexeren Aufgabe gegenüber:  das hängt mit der  immer wieder neu zu klärenden Frage des angemessenen (räumlichen bzw. politischen) Wirklichkeitsausschnitts zusammen; das hängt aber auch damit zusammen, dass man sich mit völlig anderen Wirkfaktoren befassen muss; so werden Fragen der internationalen Beziehungen, des weltweiten Handels oder der Migration zu sozialstrukturell relevanten Fragen.

Sozioökonomische Perspektive

Die sozioökonomische Perspektive auf die Ökonomie und Politik der Gesellschaften des 19. Jahrhunderts und die daraus abgeleiteten sozialen Gruppen (zumeist wurde von Klassen gesprochen) standen am Anfang der wissenschaftlichen wie der politischen Analyse von Sozialstrukturen. In diesem Kontext ist eine breite Palette von Gesellschaftsbegriffen genutzt worden, um die sich verändernden sozioökonomischen Konstellationen zu analysieren. Zunächst geht es um das Gesamtbild, das sich aus sozioökonomischer Perspektive ergibt; die damit verbunden sozialstrukturellen Konstellationen werden anschließend behandelt.

Kapitalismus/ Kapitalistische Gesellschaft

Das Konzept des Kapitalismus und der kapitalistischen Gesellschaft wird seit dem späten 19. Jahrhundert im politischen wie im sozialwissenschaftlichen Kontext zu einem zentralen Bestandteil der Beschreibung und Erklärung von Sozialstrukturen, insbesondere von Klassenstrukturen. Obwohl Marx eher von der bürgerlichen Gesellschaft (s.u.) gesprochen hatte, wird insbesondere im politischen Raum die Kritik am Kapitalismus oder am ›kapitalistischen System‹ zu einer zentralen Figur der Sozialkritik. Auch in den Sozialwissenschaften fungierten das Konzept des Kapitalismus und die damit verbundenen Produktionsverhältnisse als eine wichtige Erklärung sozialer Ungleichheiten.

Diesen Diagnosen kann man zunächst folgen; für ein Verständnis sozialer Ungleichheiten ist es sehr wichtig, sich für die ›produktive Basis‹ der untersuchten Gesellschaften zu interessieren und hier liefert das Konzept des Kapitalismus einen bedeutenden Beitrag. Damit ist aber noch nicht gesagt, ob man auch von kapitalistischen Gesellschaften sprechen sollte. Ein solcher Schluss birgt die Gefahr des Ökonomismus – die doch grob vereinfachende Vorstellung, man könne aus den Analysen der kapitalistischen Produktionsweise die Verfasstheit der umgebenden Gesellschaften gleichermaßen ›ableiten‹.

Zunächst gilt es zu klären, was man mit dem Kapitalismuskonzept klären kann (und was nicht). Das Konzept beschreibt eine Weise der gesellschaftlichen Produktion, bei der die Verwertung von Kapital im Zentrum steht; es geht, ohne der sogenannten Werttheorie von Karl Marx folgen zu wollen, um die Produktion von Mehrwert, um die Erzielung von Gewinnen. Die Befriedigung von Bedürfnissen oder der Erhalt einer lebenswerten Umwelt sind demgegenüber zunächst nachrangig. Diese allgemeinen Bestimmungen müssen weiter aufgeschlüsselt werden; dabei sei auf drei Debatten verwiesen:

  • Vom Kapitalismus zu Kapitalismen: Eine Analyse kapitalistischer Produktionsverhältnisse im Weltmaßstab oder im historischen Verlauf macht deutlich, dass es ausgesprochen unterschiedliche Rahmenbedingungen sein können, unter denen die Produktion von Mehrwert gelingen kann. Es gibt vielleicht einige elementare Voraussetzungen, wie die Sicherung von Eigentumsrechten und gewissen Freiheitsrechten oder die Existenz und Regulierung von Märkten (für Rohstoffe, Produktionsmittel und die gefertigten Produkte, aber auch für Arbeitskräfte) und Infrastrukturen. Darüber hinaus können es aber ganz unterschiedliche institutionelle Rahmenbedingungen sein, die die kapitalistische Produktion ermöglichen: unterschiedliche Formen der politischen Regulierung (z.B. von Märkten, aber auch von sozialen Sicherungssystemen) oder unterschiedliche Formen, in denen wesentliche Produktionsvoraussetzungen (Finanzmittel, Qualifikationen, technisches Wissen, Energieträger, Infrastrukturen, rechtliche Rahmenbedingungen) bereitgestellt werden. Angesichts dieser Vielfalt von möglichen institutionellen Settings, die Prozesse der Kapitalverwertung ermöglichen, sprechen Peter A. Hall und David Soskice (2001) von ›Varietäten des Kapitalismus‹. Ausgehend von dieser Perspektive oder der Frage nach den regulativen Rahmenbedingungen von Produktionsprozessen, wie sie im Kontext der Regulationstheorie verfolgt werden, lassen sich dann ganz unterschiedliche historische und weltregionale Varietäten bestimmen. Mithin sollte man also nicht von Kapitalismus sprechen, sondern von Kapitalismen.
    Mit der Einsicht, dass man es mit ganz unterschiedlichen Kapitalismen zu tun hat, verliert dann auch die Rede von kapitalistischen Gesellschaften ihre Eindeutigkeit. Es finden sich sehr verschiedene Formen der sozialen und politischen Einbettung kapitalistischer Muster der Produktion.
  • Komplexe Verhältnisse von Ökonomie und Politik: Insbesondere in der politischen und alltagsweltlichen Verwendung des Kapitalismuskonzepts findet sich nicht selten ein vereinfachender Ökonomismus und Finanzialismus; so heißt es – oft auch antisemitisch konnotiert – ›Geld regiert die Welt‹. Man hat es demgegenüber mit recht unterschiedlichen Verzahnungen von Politik und Ökonomie zu tun. Der Industriekapitalismus ist in Deutschland u.a. mit dem Eisenbahnbau und immer wieder mit der Produktion von Rüstungsgütern groß geworden; es ist also nicht nur der Massenkonsum, von dem Plumpe gesprochen hatte, es sind immer wieder auch jene ganz speziellen Märkte, die über staatliche Interventionen entstehen. So haben die mehrheitlich öffentlich organisierten Gesundheits- und Pflegeversicherungen in Deutschland ganz spezifische und sehr lukrative Märkte für Gesundheit und Pflege entstehen lassen. Auch die jüngsten Krisen haben deutlich gemacht, welch zentrale Rolle die Politik bei der Bewältigung z.B. der Euro- und der Finanzmarktkrise gespielt haben.
  • Vielfalt der Produktionskonzepte: Der industrielle Kapitalismus des späten 19. Jahrhunderts ist zum Sinnbild von Lohnarbeit, Entfremdung und Ausbeutung geworden. Derartige Arbeitsverhältnisse sind im Weltmaßstab, aber auch in Europa keineswegs verschwunden; die Arbeitsbedingungen in Minen und Plantagen, in den Produktionsketten der Textil- und Bekleidungsindustrie, der Lebensmittelversorgung oder der weltweiten Logistik sprechen für sich. Die Marxsche Erwartung, dass sich mit dem Kapitalismus auch die freie Lohnarbeit durchsetze, wurde enttäuscht; verschiedenste Formen der Zwangsarbeit und der unfreien Arbeit bestehen fort.
    Umgekehrt haben sich mit der zunehmend technisierten und informatisierten Produktion von komplexen Waren und Dienstleistungen und mit den regulatorischen Erfolgen von Gewerkschaften bzw. anderen Institutionen (z.B. der ILO) aber auch ganz neue Produktionskonzepte entwickelt. Sicherlich bleibt für viele Arbeitskräfte die Lohnabhängigkeit eine elementare Erfahrung; innerhalb dieser Grundform finden sich dann aber völlig unterschiedliche Formen, wie Hierarchien, Arbeits- und Beschäftigungsverhältnisse gestaltet werden. Auch die These, dass die industrielle Form des Großbetriebs zur zentralen oder gar alleinigen Produktionsform wird, hat sich nicht bewahrheitet; man hat es in der Gegenwartsgesellschaft mit einem breiten Spektrum von großen, mittelständischen und kleinen Betrieben zu tun. An diesen Beispielen wird deutlich, dass ein einfacher Schluss von der Produktionsweise auf die Bedingungen des Arbeitens und Lebens, mithin auf Gesellschaften, zu kurz greift.
Marktwirtschaft/ Neoliberalismus/ Marktgesellschaft

Der Begriff der sozialen Marktwirtschaft ist im Westdeutschland der Nachkriegsjahrzehnte zu einer wichtigen Selbstbeschreibung geworden. Er wurde im politischen Raum bemüht; er hat aber auch in das alltagsweltliche Selbstverständnis Eingang gefunden (vgl. auch Ulrike Herrmann 2019). Er fungierte im politischen Raum als Abgrenzung gegenüber den Etikettierungen der Weimarer Zeit (Klassengesellschaft) bzw. des Nationalsozialismus (Volksgemeinschaft); zeitgenössisch war er auch ein Gegenbegriff zu der Planwirtschaft bzw. der (perspektivisch) klassenlosen Gesellschaft in der DDR. Im alltagsweltlichen Bereich konnte der Begriff die für viele erfahrbaren Verbesserungen der Einkommen, des Konsums und der sozialstaatlichen Versorgung aufnehmen.
Wenn man das Konzept als einen wissenschaftlichen Terminus der Sozialstrukturanalyse nutzen möchte, so beschreibt es zum einen jene Veränderung, die bereits weitaus früher – in Deutschland vielleicht eher in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts – einsetzen, als wesentliche Voraussetzungen für eine Marktwirtschaft geschaffen wurden: z.B. Gewerbefreiheit, Berufsfreiheit oder Freizügigkeit. Zum anderen werden damit jene fundamentalen Veränderungen der Sozialstruktur angesprochen, die mit dem erheblichen Ausbau des Sozialstaats in Westdeutschland einhergingen.
Wirtschaftstheoretisch ist das Konzept der sozialen Marktwirtschaft im Rahmen des Ordoliberalismus zu begreifen; eine sehr interessante historische Analyse dieses Ansatzes findet sich bei Quinn Slobodian (2019).

Das Konzept des Neoliberalismus – ich beschränke mich hier auf die Funktion des Konzepts als Zeitdiagnose bzw. als sozialstrukturelle Diagnose – fungierte seit den 1990er Jahren im politischen aber auch im sozialwissenschaftlichen Raum als eine sehr einflussreiche Beschreibung und Analyse jener ökonomischen und politischen Veränderungen, die sich in vielen Industriegesellschaften finden lassen (vgl. dazu den docupedia Artikel von Philipp Ther). Die wissenschaftlichen Analysen, die sich mit dem Neoliberalismus befassen, erforschen die Veränderungen, die sich im Bereich der Politik (z.B. Deregulierungen, Privatisierungen, Vermarktlichungen) und der Ökonomie (z.B. Share-holder-value-Orientierung, Finanzialisierung) vollzogen haben. Vor allem geht es um eine veränderte Perspektive auf die Beziehungen von Wirtschaft, Politik und Gesellschaft. Dabei fungiert das Konzept des Neoliberalismus auch in den wissenschaftlichen Diskursen nicht selten als eine Neuauflage des Kapitalismuskonzepts; es wird zu einer catch-all-Erklärung, die oftmals den Einfluss des Ökonomischen überschätzt und manchmal sogar Züge einer Verschwörungserzählung hat – vieles erinnert an die Rede vom Kapitalismus als einem zusammenhängenden omnipotentes System. Wissenschaftlich betrachtet erscheinen sowohl die Bündelung von Phänomenbeschreibungen wie auch die nahegelegten ursächlichen Bezüge – im politischen Diskurs vielleicht noch nachvollziehbar – abenteuerlich. Mein Vorschlag verweist schlicht darauf, den einzelnen Veränderungen (im wirtschaftlichen, im politischen und im privaten Leben) mit der Sorgfalt wissenschaftlicher Analyse nachzugehen und nicht dem aus dem politischen Raum stammenden Ensemble von Phänomen und Erklärungen aufzusitzen. Dabei gilt es auch, die Varietäten der Kapitalismen im Auge zu behalten.

Das Konzept der Marktgesellschaft ist in Deutschland seit den 1980er Jahren verstärkt genutzt worden, um wesentliche von den Zeitgenöss_innen wahrgenommene Veränderungen der deutschen Gesellschaft zu charakterisieren. Es macht sich an jenen Veränderungen fest, die mit der Transformation der Industriegesellschaft und mit den Veränderungen ihrer Regulierung einsetzten; es bezieht sich auch auf Entwicklungen, die nicht selten unter dem Label Neoliberalismus subsumiert wurden. Das Konzept findet sich sowohl in zeit- und kulturkritischen Diagnosen wie in sozialwissenschaftlichen Analysen. Ich habe das Konzept selbst genutzt, um in einem nicht-kulturkritischen Sinne jene Veränderungen zu beschreiben (Weischer 2022), die mit einem Voranschreiten marktlichen Denkens im Bereich der Politik wie der privaten Lebensverhältnisse einhergehen. Dabei wird ein solches marktliches Denken nicht zwingend als ein (von wem auch immer) aufgepfropftes Denken begriffen; ich lese es eher im Sinne Fernand Braudels (1986), der sich für die jahrhundertelange Vor- und Frühgeschichte von Marktwirtschaften interessierte; Menschen ›handeln‹ eben.

Leistungsgesellschaft/ Arbeitsgesellschaft

Das Konzept der Leistungsgesellschaft gewann seit der Mitte der 1960er Jahre in den politischen (und wissenschaftlichen) Diskursen an Einfluss (vgl. Verheyen 2018). Es ist in Abgrenzung zum fast zeitgleich diskutierten (und weitaus populäreren) Konzept der Klassengesellschaft zu begreifen. Als ein wissenschaftlicher Begriff ist das Konzept bedeutungslos; man kann es zunächst als einen Hinweis auf sich verändernde Selbstverständigungen lesen.

Eine andere Lesart der in der Nachkriegszeit durchaus populären Formel der Leistungsgesellschaft bietet Hans-Ulrich Wehler in seiner deutschen Gesellschaftsgeschichte an. Er konstatiert bereits für die nationalsozialistische Zeit eine »weitverbreitete Überzeugung, in einer mobilitätsfreundlichen, ungleich offener als vor 1933 wirkenden Gesellschaft zu leben, die sich auf den Weg zu einer streng meritokratischen, sozialegalitären ›Leistungsgemeinschaft‹ befand« (2003, S. 684). D.h. der in den 1950er Jahren beobachtbare Wechsel der gesellschaftlichen Selbstbeschreibung hatte eine erschreckende Vorgeschichte in der rassistisch grundierten Volksgemeinschaftsideologie des Nationalsozialismus. Schließlich ist auch zu beachten, dass sich Leistung in diesem Verständnis stets auf Leistungen in der Erwerbsarbeit beziehen und somit alle anderen Arbeitsleistungen ausgeblendet werden.

Der Begriff der Arbeitsgesellschaft ist ein sozialwissenschaftliches Konzept. Es soll verdeutlichen, dass die Arbeitsprozesse und die Verortung von Menschen in diesen Arbeitsprozessen eine zentrale Rolle für die soziale Stellung haben. In gewisser Weise folgt das Konzept dem der Leistungsgesellschaft, hat jedoch einen weniger wertenden und diskriminierenden Charakter. Insbesondere, wenn man mit dem Begriff auch wirklich die Gesamtheit gesellschaftlicher Arbeit in den Blick nimmt, erscheint dieses zunächst eher unspektakuläre (und vermeintlich selbstverständliche) Konzept überaus tauglich, wesentliche Charakteristika der sozialen Strukturierung von Gegenwartsgesellschaften zu begreifen.

  • Mit der Marxschen Unterscheidung von unternehmerischer und abhängiger Arbeit sind wesentliche sozialstrukturelle Positionierungen verbunden; dann sind es aber auch die Binnenunterschiede nach dem Sozialversicherungstyp, nach den Qualifikationsniveaus oder nach der Beschäftigungssicherheit, die soziale Differenzierungen hervorbringen.
  • Arbeitseinkommen und die damit zusammenhängenden Ansprüche an Renten und Pensionen bzw. die darüber akkumulierten Rücklagen sind die zentrale Quelle von Einkommen und Vermögen; umgekehrt sind es fehlende Einkommen, die zu den latent prekären Positionen von Nicht-Erwerbstätigkeiten beitragen.
  • Die Arbeitszeit umfasst weite Teile der gestaltbaren Lebenszeit; auch die langen Zeiten der Ausbildung sind mehr oder weniger auf spätere Arbeitstätigkeiten ausgerichtet. Schließlich ist auch die Altersphase nicht selten von der Erwerbsgeschichte geprägt – materiell, gesundheitlich, sozial aber auch kognitiv. Über diese Zeit werden dann ganz unterschiedliche Arbeits- und Lebenserfahrungen kumuliert.
  • Arbeit ist ein Erfahrungsraum von Abhängigkeit und Unabhängigkeit. Die Marxsche Unterscheidung von unternehmerischer und abhängiger Arbeit impliziert nicht nur mitunter gewaltige Unterschiede in Einkommen und sozialer Positionierung. Mit der unternehmerischen Tätigkeit sind ganz bestimmte Freiheiten und Risiken verknüpft; dabei ist natürlich die Spanne zwischen Scheinselbständigen, Soloselbständigen und Selbstständigen mit mehr oder weniger großen Betriebe enorm. Viele abhängig Beschäftigte sind mit dem Basisrisiko der Lohnarbeit konfrontiert; sie können aus verschiedensten (oft nicht beeinflussbaren) Gründen ihren Arbeitsplatz verlieren; innerhalb dieser Lohnabhängigen sind dann aber, meist entlang der Stellung in der Hierarchie, erhebliche Unterschiede der Beschäftigungssicherheit oder auch der Autonomie zu beobachten.
    Ein ganz eigener Erfahrungsraum ist schließlich die haushaltliche Arbeit von (unbezahlten) Männern, Frauen oder von mehr oder weniger prekär entlohnten Dienstkräften. Verglichen mit der organisierten und regulierten Arbeit in der Produktionssphäre zeichnet sich Reproduktionsarbeit eher durch ein geringes Maß an Kalkulierbarkeit und Reguliertheit aus; in der Haushaltssphäre geht es immer wieder aufs neue darum, die Unwägbarkeiten der Erwerbsarbeit und der Sorgearbeit abzufedern.
  • Arbeit ist schließlich ein Ort der Erfahrung von sozialen und gesellschaftlichen Einbindungen, ein Ort, an dem Anerkennung erfahren oder versagt wird. Es wird erkennbar, dass Menschen, aber auch die verschiedenen Institutionen, in denen sie arbeiten, zur Kooperation (und zum Arrangement) verdammt sind, wenn sie erfolgreich arbeiten wollen. Über diese Einbindung wird Vergesellschaftung greifbar. Im Betrieb oder in der Verwaltung werden auch soziale Unterschiede und Hierarchien erfahren; dass betrifft jenseits des Materiellen die Grade der Autonomie, der Wertschätzung und der Anerkennung. Grundsätzlich liegen Solidarität und Konkurrenz nicht selten nebeneinander.

Wenn man diese Überlegungen einmal auf das hier zugrunde gelegte Verständnis von sozialer Ungleichheit bezieht, dann wird deutlich, wie weit die materiellen Erträge, aber auch die kumulierten sozialen, symbolischen und psychischen Erfahrungen der verschiedensten Formen von Arbeit die soziale Lage prägen. In diesem Sinne bietet das Konzept der Arbeitsgesellschaft kaum zu überschätzende Möglichkeiten der Analyse von Sozialstrukturen. Manche dieser Arbeitserträge und -erfahrungen hängen im weiteren Sinne mit einem spezifischen Kapitalismus zusammen; es sind aber darüber hinaus auch weitaus ältere Konventionen der Teilung und Bewertung von Arbeiten, die sich verändernden Techniken und die (weltweiten) Organisationsformen von Arbeiten und von Betrieben, die hier wirksam werden.

Industriegesellschaft/ postindustrielle Gesellschaft/ Dienstleistungsgesellschaft

Der Begriff der Industriegesellschaft wird in den Sozialwissenschaften Mitte der 1960er Jahre zu einem zentralen Konzept. Das hängt damit zusammen, dass dieses Label in den seinerzeit oft politisierten Diskurswelten einen gemeinsamen Nenner anbietet, dass das Modell der Industriegesellschaft im Kontext verschiedener Paradigmen als ein Fortschrittsmodell begriffen wurde und dass diese Industrie schließlich auch für viele erfahrbar war, indem sie ganze Regionen prägte und zu Industrieregionen machte. Indem nicht nur von Industrie, sondern auch von Industriegesellschaft gesprochen wird, soll verdeutlicht werden, dass die industriellen Formen der Produktion und der Arbeit auf die gesamte Gesellschaft ausstrahlen. Das von de Vries (2008) favorisierte Konzept der ›industrious revolution‹ – damit werden die der industriellen Revolution vorausgehenden Produktivitätssteigerungen in Landwirtschaft und Gewerbe bezeichnet – verweist auf die sehr lange Vorgeschichte des industriellen Arbeitens.

Bereits zum Höhepunkt der begrifflichen Verwendung des Konzepts stand in den 1970er Jahren seine Bedeutung und empirische Evidenz dann aber auch schon in Frage. Man sprach von einer postindustriellen oder auch von Dienstleistungsgesellschaften. Ein Blick in die amtliche Statistik der Wirtschaftssektoren diente als Beweis. Je nachdem, wie man die sektorale Zuordnung ermittelt, auf Ebene des Betriebsschwerpunktes oder des Berufes, findet sich etwa 1965 (Berufe) bzw. 1971 (Betriebsschwerpunkt) der Umschlagpunkt, zudem gleichviel Beschäftigte im sekundären wie im tertiären Sektor tätig sind.

Diesen vermeintlich gut belegten Diagnosen soll hier entschieden widersprochen werden. Der Widerspruch gründet sich zum einen auf vielerlei Inkonsistenzen in der theoretischen und empirischen Fundierung der Tertiarisierungsthese; vor allem ist auf die ausgesprochene Heterogenität des Dienstleistungsbereichs (z.B. unternehmensnahe, distributive, sozialstaatliche und schließlich private Dienstleistungen) und die damit ganz unterschiedlichen Faktoren zu verweisen, die den unbestreitbaren Anstieg von Dienstleistungsarbeit bewirken. Zum anderen ist die Frage zu stellen, ob es sinnvoll ist, von einer Dienstleistungsgesellschaft zu sprechen. Auch das mag angesichts der Technisierung und Informatisierung vieler Arbeitsplätze sinnfällig erscheinen; es ist aber auch eine Konsequenz der veränderten weltweiten Arbeitsteilung. Betrachtet man die Produkte, die uns umgeben, so sind es vorwiegend industriell hergestellte Produkte; auch viele der Dienstleistungen sind in hohem Maße von einer industriellen Produktionslogik geprägt, wenn man z.B. die Arbeitsbedingungen in der Logistik oder in der Systemgastronomie betrachtet. Vor diesem Hintergrund wird hier vorgeschlagen, von einer transformierten Industriegesellschaft zu sprechen.

Die in diesem Abschnitt dargestellten sozioökonomischen Ansätze bieten in meinen Augen die weitaus besten Voraussetzungen für ein angemessenes Verständnis von sozialen Ungleichheiten bzw. von Sozialstrukturen. Man sollte sich in der Makroperspektive für die Entwicklung von Kapitalismen (und ihrer Regulierung) interessieren; man sollte sich aber auch für die hier am Konzept der Arbeitsgesellschaft entfalteten Aspekte interessieren. Auch für das Verständnis der weltweiten Produktions- und Machtverhältnisse ist die sozioökonomische Perspektive nicht zu unterschätzen. Umgekehrt gilt es, sich stets zu vergewissern, was mit dieser Perspektive nicht erklärt werden kann. Es sind z.B. die weiter unten diskutierten soziokulturellen Praktiken der Differenzierung, es sind die Praktiken des Othering, es sind die vielgestaltigen Praktiken der Diskriminierung und der sozialen Schließung. Sie werden vielleicht in der einen oder anderen Weise auch für sozioökonomische Differenzierungsprozesse in Dienst genommen, aber man kann sie kaum aus der sozioökonomischen Perspektive begründen.

Sozialstrukturelle Perspektive

In diesem Abschnitt geht es um jene Analysen der Gegenwartsgesellschaft, die man wohl am ehesten auf einer Website zu Sozialstrukturanalysen vermuten würde. Mit dem allmählichen Verblassen der ständischen Ordnung kommt etwa ab dem 19. Jahrhundert die Frage auf, wie man die einzelnen Sozialgruppen dieser neuen Formation bzw. ausgehend von Herrschaftsverhältnissen auch die Gesellschaft als Ganze bezeichnen könnte. Die Rede vom ›Verblassen‹ soll darauf hinweisen, dass es zwar durchaus Brüche in der gesellschaftlichen Entwicklung gibt, die mit Revolutionen oder mit dem Zusammenbruch von Regimen zusammenhängen, dass aber die Veränderungen von Sozialstrukturen stets weitaus träger verlaufen – das war ja auch mit der hier favorisierten Unterscheidung von sozialen Positionen und sozialen Lagen verdeutlicht worden.

Bürgerliche Gesellschaft/ Bürgergesellschaft

Mit Bürger_innen sind im deutschsprachigen Raum zum einen Staatsbürger_innen gemeint; zum anderen wird das Bürgertum als eine soziale Gruppe (das Wirtschaftsbürgertum, das Bildungsbürgertum aber auch das Kleinbürgertum) begriffen.

Dementsprechend bezeichnet der Begriff der Bürgergesellschaft Gesellschaften, in denen wesentliche Freiheits- und Gleichheitsrechte durchgesetzt werden konnten. Das trifft im Deutschland des 20. Jahrhunderts auf die Gesellschaft der Weimarer Republik, auf die westdeutsche Nachkriegsgesellschaft und schließlich auf die sich seit den 1990er Jahren herausbildende gesamtdeutsche Gesellschaft zu. Kritisch ist jedoch zu fragen, in welchem Maße diese Rechtsverhältnisse auch in der sozialen Praxis für alle Gruppen (z.B. für Frauen oder Migrant_innen) durchgesetzt werden konnten.

Das Konzept des Bürgertums und der Bürgerlichen Gesellschaft ist demgegenüber weitaus komplexer:

  • Es ist ein bedeutendes Konzept im politischen Raum, indem die bürgerliche Gesellschaft als ein Fortschrittsmodell favorisiert wird bzw. umgekehrt einer oft radikalen Kritik unterworfen wird.
  • Es spielt in soziokultureller Perspektive (s.u.) eine wichtige Rolle, indem mit dem Bürgertum ein gewisses Selbstverständnis, ein Lebensstil, aber auch ein Familienmodell verbunden wird, auf das man sich bezieht oder von dem man sich abgegrenzt.
  • Schließlich geht es um die Analyse von sich verändernden Herrschaftsverhältnissen. So werden in der wissenschaftlichen Analyse jene Gesellschaften als bürgerliche Gesellschaften bezeichnet, in denen das Bürgertum die wirtschaftliche, politische bzw. kulturelle Vorherrschaft erlangt hat.

Für die hier verfolgte Frage, nach der adäquaten Benennung der Gegenwartsgesellschaft,  wäre der Begriff der bürgerlichen Gesellschaft durchaus angemessen, im politischen wie im sozialen Sinne; er ist aber auch recht unspezifisch. Unklar ist zudem, in welchem Maße heutzutage vom Bürgertum bzw. der Bürgerlichkeit noch jene soziokulturelle Ausstrahlung ausgeht, die im 19. und frühen 20. Jahrhundert vorherrschte.

Klassengesellschaft/ Marktklassengesellschaft

Der Begriff der Klasse war und ist im politischen, im alltagsweltlichen wie im wissenschaftlichen Raum stets mit großen Unschärfen verbunden. Während es im 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in allen Sphären recht üblich war, von Klassen zu sprechen, wendet sich in den beiden deutschen Nachkriegsgesellschaften die Konstellationen; mehr denn je wird die Rede von Klassen zu einem Politikum.Am Beispiel des Klassenbegriffs wird deutlich, dass die Benennung sozialer Gruppen und Differenzen in hohem Maße länderspezifisch (und historisch) geprägt ist; so finden sich z.B. in Großbritannien bzw. den USA sehr spezifische Verwendungsweisen des Klassenkonzepts.
Im deutschsprachigen Bereich ist auch das Konzept der Klassengesellschaft sowohl im politischen wie im wissenschaftlichen Raum ein schon immer sehr umstrittenes Konzept gewesen; dennoch sollte man sich damit sorgfältig auseinandersetzen, um zu klären, wie weit es zur Analyse der Gegenwartsgesellschaft genutzt werden kann.

Im politischen Raum war es stets ein zentrales Konzept der Gesellschaftskritik, indem betont wurde, dass die Gleichheits- und Mobilitätsversprechen der bürgerlichen Gesellschaft keinesfalls für alle umgesetzt werden konnten. Nicht selten wurde auch von einem Klassenkampf gesprochen. Unter der nationalsozialistischen Zwangsherrschaft soll das Konzept der Volksgemeinschaft die Erinnerung an die Klassengesellschaft tilgen. Eine besondere Aufladung erfuhr das Konzept in der Phase nach dem Zweiten Weltkrieg im politisch und wirtschaftlich geteilten Deutschland. So wurde seitens der DDR die Klassengesellschaft des Westens fundamental kritisiert; demgegenüber sah man sich auf dem Weg in eine klassenlose Gesellschaft. Im westlichen Teil wurde demgegenüber die ›Gleichmacherei‹ im Osten (bzw. deren Gefahr im Westen) kritisiert.

In sozialwissenschaftlichen Analyse wird der Begriff in verschiedener Weise benutzt. In historischer Perspektive wird das Konzept der Klassengesellschaft dem der ständischen Gesellschaft gegenübergestellt. So spricht Max Weber von Marktklassen, um zu verdeutlichen, dass die Zuweisung zu einer bestimmten Klasse nicht länger mit geburtsständischen Prinzipien verknüpft ist, sondern zunehmend über Märkte (vor allem Arbeitsmärkte) vermittelt wird. Während über diesen Umbruch ein weitreichender Konsens besteht, entspannt sich eine stete Debatte, ob auch die Gegenwartsgesellschaft als Klassengesellschaft bezeichnet werden könne.

Für die Benennung der Gegenwartsgesellschaft als Klassengesellschaft sprechen sozial betrachtet die großen sozialen Unterschiede, die sich im nationalgesellschaftlichen Rahmen finden lassen. Dafür sprechen auch die stets begrenzte soziale Mobilität und die ausgeprägte Reproduktion von Bildungsungleichheiten über die Generationen. In politischer Perspektive hat man es mit Politiken zu tun, die vorhandene Privilegien absichern und ausweiten wollen, mithin mit einer Form von Klassenpolitik. Die Rede von einem Klassenkampf klingt vielleicht etwas martialisch; es wäre jedoch fatal, die Schärfe dieser Auseinandersetzungen zu unterschätzen. Schließlich hat man es auch mit einer Art von soziokulturellem Klassenkampf zu tun. Unterschichten, weniger Leistungsfähige oder Arbeitslose werden nicht nur materiell schlecht gestellt, sie erfahren auch Ausgrenzung und Diskriminierung. Die Effekte des Klassismus und der Distinktion wurden in den letzten Jahren in der Literatur eingehend dargestellt.

Gegen die Etikettierung als Klassengesellschaft sprechen sozial betrachtet, die doch wenig konturierten und abgegrenzten sozialen Unterschiede. Der Schluss von der sozioökonomischen Positionierung auf die soziale Lage wird (zunehmend) schwierig; das hängt mit den Effekten des Sozialstaats, aber auch mit den Effekten der sozialen und temporalen Kumulierungsprozesse zu tun. Es gibt durchaus Armut, aber für manche ist sie eben auch eine nur temporäre Phase. Politisch betrachtet ist das Wirken von einflussreichen Lobbygruppen unbestreitbar; ob es dabei aber zu einer unmittelbaren Verknüpfung von politischen Interessengruppen und sozialen Gruppen kommt, ist unklar. Auch das Phänomen des Klassismus und der von Bourdieu konstatierte Habitus ist für die Reproduktion sozialer Ungleichheit bedeutsam; ob diese habituellen Prägungen aber entlang scharfer Klassengrenzen verlaufen, ist fraglich. Schließlich stellt sich auch das Problem, wie sich andere Achsen der sozialen Differenzierung (z.B. sexistischer oder rassistischer Art) mit der Klassenachse vermitteln lassen.

Das Konzept der Klassengesellschaft impliziert eine Aussage über gesellschaftliche Machtverhältnisse. D.h. die verschiedenen sozialen Gruppen unterscheiden sich nicht nur in Kapitalien und Lebensstilen; es geht auch um erhebliche Unterschiede in den Möglichkeiten, auf die Gestaltung und Regulierung dieser Gesellschaften Einfluss zu nehmen und bestehende Privilegien und Vermögen zu verteidigen. Es ist jedoch zu fragen, ob sich derartige Machtverhältnisse nicht komplexer gestalten, als es das Bild einer herrschenden Klasse nahelegt.

Mittelstandsgesellschaft/ Polarisierte Gesellschaft

Schon am Anfang des 20. Jahrhunderts lässt sich angesichts der stark wachsenden Arbeiterklasse eine ausgeprägte Sorge um das Schicksal des Mittelstandes beobachten. Zu Beginn der 1950er Jahre diagnostiziert Helmut Schelsky (1953) dann eine nivellierte Mittelstandsgesellschaft; er begründet dies mit den kollektiven Aufstiegsprozessen der Industriearbeiterschaft bzw. den eher individuellen Aufstiegen in die Gruppe der technischen und verwaltenden Angestellten, mit der Nivellierung von Lebensstilen und schließlich mit einer allgemein größeren sozialen Mobilität. Ohne die weitere Entwicklung der Einkommen und des Sozialstaats absehen zu können, war er damit zu einer durchaus treffenden Einschätzung gekommen; wenig später sprechen Sozialhistoriker von einem Ende der Proletarität (Mooser 1983). Mit der Transformation der Industriegesellschaft ab den 1980er Jahren, mit der Deregulierung von Arbeits- und Beschäftigungsverhältnissen seit den 1990er Jahren, mit der Reorganisation der Sozialversicherungen in den 2000er Jahren und mit einer Phase starker Zuwanderung in den 2010er Jahren, stellt sich die Frage, ob auch heute noch von einer solchen Mittelstandsgesellschaft gesprochen werden kann, wo doch (auch in Deutschland) Prozesse der Polarisierung nur allzu oft diagnostiziert werden.

Ich möchte an dieser Stelle die These einer wachsenden Polarisierung der Gegenwartsgesellschaft zumindest für Deutschland zurückweisen; vielleicht kann man z.B. bezogen auf die Einkommensverteilung von einer größeren Auffächerung von Einkommenslagen sprechen. Der Begriff der Polarisierung suggeriert aber die tendenzielle Herausbildung von zwei Polen, gewissermaßen Armen und Reichen. Ähnlich funktioniert das Bild einer sich immer weiter öffnenden Schere. Beides lässt sich mit den vorliegenden Verteilungsdaten nicht nachweisen. Der Vorschlag der Auffächerung soll auf die vielfältigen Lagen zwischen den ›Ganz-Reichen‹ und den ›Ganz-Armen‹ verweisen; genau diese Zwischenlagen sind für das gesellschaftliche Zusammenleben sehr bedeutsam. Es ist eher umgekehrt eigentlich erstaunlich, dass angesichts des durchgängigen Qualifizierungszuwachses, einer großen Varietät der haushaltlichen Erwerbsmodelle und einer nicht geringen Zuwanderung von weniger Qualifizierten die Ungleichheiten, nach dem Anstieg um die Jahrtausendwende doch recht stabil bleiben.**

Auch die Ungleichheiten bei den Vermögen sind sehr groß (und sollten verringert werden); man muss aber auch bedenken, dass dabei die sogenannten Sozialvermögen der Sozialversicherten nicht berücksichtigt sind, dass Betriebsvermögen auch die Voraussetzung für die Schaffung von Arbeitsplätzen sind und dass auch der typische Vermögensaufbau im Lebensverlauf einen Teil dieser Ungleichheiten erklärt.

Mithin spricht vieles für die These einer Mittelstandsgesellschaft. Man sollte sich diese jedoch nicht allzu romantisch vorstellen. Es gibt eine große Gruppe, für die die Zurechnung zur Mitte immer prekär bleibt und oft mit großem Einsatz erhalten werden muss.

Entstrukturierte Gesellschaft/ Individualisierung

Die von Schelsky vertretene Botschaft bezog sich nicht nur auf eine Verschiebung sozialer Lagen zur Mitte; er sprach auch von einer nivellierten – heute würde man sagen entstrukturierten – Gesellschaft. Diese sei »nicht mehr von der Struktur der jeweiligen Sozialschichtung her zu verstehen, sondern sie ist wesentlich von ihrer Mobilität (…) und der ihnen zugehörigen sozialen Mentalität her zu begreifen« (1955, S. 228).

Auch ausgehend von theoretischen Ansätzen, die eigentlich eher dem Klassenkonzept nahe stehen, kommen Autoren zu solchen Diagnosen der Entstrukturierung; so nutzt Reinhard Kreckel (1992) einen Terminus des Sozialhistorikers E.P. Thompson und spricht von einer ›Klassengesellschaft ohne Klassen‹; Karl-Siegbert Rehberg (2006) eröffnet den Soziologiekongress 2004 mit einem Vortrag zur ›unsichtbaren Klassengesellschaft‹.

Ulrich Beck diagnostiziert für die westdeutsche Gesellschaft der 1980er Jahre einen Individualisierungsschub, der jedoch einen langen historischen Vorlauf habe; so beschreibt er die längerfristige Herauslösung der Individuen aus ständisch geprägten Klassenkulturen und die Abschwächung der »familialen Bindungs- und Versorgungsgefüge« (1986, S. 208), die insbesondere für Frauen folgenreich sei. Das führe in der individualisierten Gesellschaft zu einem neuen Modus der gesellschaftlichen Integration. Einerseits werde das Individuum zur zentralen »lebensweltlichen Reproduktionseinheit des Sozialen« (S. 209); andererseits lassen sich aber auch Prozesse der Standardisierung (vermittelt durch Arbeits- und Konsummärkte) und der Institutionalisierung (z.B. durch Institutionen des Sozialstaats) von Lebenslagen beobachten.

Das dem wissenschaftlichen Diskurs entstammende Konzept einer funktional differenzierten Gesellschaft geht vor allem auf Niklas Luhmann zurück, der von einer historischen Abfolge von Differenzierungsformen ausgeht. Ausgehend von segmentär differenzierten eher räumlich getrennten und relativ egalitären Vergesellschaftungsformen, z.B. in Stämmen bzw. Dörfern, bilden sich nach und nach Strukturen einer stratifikatorischen Differenzierung (hierarchisch geordnete soziale Schichten oder Klassen) heraus. In den komplexer werdenden Gesellschaften vollzieht sich dann in der Neuzeit ein Wandel zu funktionalen Differenzierungsprinzipien, der mit der Herausbildung je eigener Funktionssysteme (z.B. Politik, Wirtschaft, Recht, Wissenschaft) einhergeht. In solchen funktional differenzierten Gesellschaften bestimme sich die Lage der Menschen vorwiegend über das Zusammenwirken der verschiedenen Funktionssysteme. Damit werden Konzepte, die von eher stratifikatorischen bzw. strukturalen Ungleichheiten ausgehen, in Frage gestellt.

Vergleicht man die zuletzt betrachteten Ansätze so ist ihnen die These einer Entstrukturierung oder einer Abschwächung sozialer Strukturierung gemein; die Begründungen fallen dann jedoch recht unterschiedlich aus.

Mit den nun folgenden Konzepten werden sozialstrukturelle Phänomene oder Gruppen in einer anderen Weise beleuchtet. Es geht nicht in erster Linie um Gruppen, die entlang von sozioökonomischen Merkmalen (Beruf, Einkommen etc.) gebildet werden; sondern es geht darum, wie sich über vielfältige Prozesse des Othering soziale Gruppen herausbilden, die dann mit den zuvor diskutierten sozioökonomischen Differenzierungen in Zusammenhang stehen. Schließlich geht es darum, in weit sich Migrationsgesellschaften durch spezielle Sozialstrukturen auszeichnen.

Patriarchale Gesellschaft

Der Begriff der patriarchalen Gesellschaft bzw. des Patriarchats wird sowohl in politischen wie in sozialwissenschaftlichen Diskursen gebraucht. Während die patriarchale Herrschaft in ständisch-feudalen Gesellschaften allgegenwärtig aber auch selbstverständlich ist, wird deren Fortbestand mit den Gleichheitsgeboten der bürgerlichen Revolutionen und der Modernisierung begründungsbedürftig. Es entsteht ein Sekündärpatriarchalismus (René König) bzw. eine neopatriarchale Geschlechterordnung (Ilse Lenz). Die neopatriarchale Ordnung findet sich in Gesellschaft und Politik, sie wird aber durch die männliche Herrschaft in der Familie abgestützt. Im 20. Jahrhundert wird mit der fortschreitenden Modernisierung dieses Muster durch eine differenzbegründete Ordnung (Lenz) abgelöst. Die Erwerbstätigkeit von Frauen nimmt zu; zudem verändern auch die wohlfahrtsstaatlichen Angebote die familiäre Konstellation. Es entsteht eine vermeintlich biologisch legitimierte differenzbegründete Geschlechterordnung. Diese »verankerte eine tiefe geschlechtliche Ungleichheit. Aber dennoch konnte sie u.a. aufgrund der Normen der Gleichwertigkeit und der polaren funktionalen Arbeitsteilung der Geschlechter mit ihren anerkannten, aber abgegrenzten Feldern breite Mehrheiten von Frauen und Männern integrieren« (2017, S. 205). In den postindustriellen Wohlfahrtsstaaten komme es schließlich zu einer Pluralisierung der Geschlechter- und Partnerschaftsmodelle. Das hänge mit den Veränderungen am Arbeitsmarkt und in den Haushalten zusammen, ist aber auch verschiedenen sozialen Bewegungen (Bewegungen von Frauen und LGBTIQ) zu verdanken, die einen Teil ihrer Anliegen durchaus erfolgreich umsetzen konnte. Diese Entwicklungen werden als die Anfänge einer flexibilisierten Geschlechterordnung interpretiert.

Weiße Gesellschaft

Das Konzept einer weißen Gesellschaft wird als Selbstbeschreibung in Deutschland vor allem in sozialen Bewegungen genutzt, findet aber im Kontext der rassismuskritischen Forschung allmählich systematischen Eingang in den sozialwissenschaftlichen Diskurs.

Susan Arndt kommt 2021 zu dem Fazit: »Rassismus ist eine der schlimmsten, weltumfassendsten und langwierigsten Katastrophen der Menschheitsgeschichte. (…) Er hat sich strukturell nachhaltig in Machthierarchien eingeschrieben, reguliert ökonomische und politische Dynamiken ebenso wie Gesetzgebungen, Moralvorstellungen und Wissensarchive, sowohl global wie lokal, strukturell wie als Alltagsbedrohung« (S. 416).

Für Deutschland lässt sich aufzeigen, dass es seit dem 19. Jahrhundert zu einer fortwährenden sozialen Unterschichtung der deutschen Gesellschaft kommt. Das beginnt mit der sogenannten Wander- oder Saisonarbeit im ländlichen Bereich und mit der Arbeitsmigration im Kontext des Aufbaus von Infrastrukturen (Kanäle, Eisenbahnen) und der Industrie (z.B. Bergbau, Hüttenwesen und Bauwirtschaft). Das wird begleitet von der Zuwanderung von Frauen in hauswirtschaftliche Berufe. Die Arbeitsmigration wird in Kriegszeiten aber auch durch verschiedenste Formen der Zwangsarbeit ergänzt und ersetzt. Diese Unterschichtung setzt sich dann nach dem Zweiten Weltkrieg fort; zunächst sind es Flüchtlinge und Vertriebene, die immer auch jene Arbeiten übernehmen, die belastend und gering entlohnt sind. Es folgt die Arbeits- und Familienmigration aus den Anrainerstaaten des Mittelmeers und schließlich die Gruppe der Spätaussiedler_innen und der Geflüchteten. Nicht zu vernachlässigen ist auch, dass damit nicht selten ein unsicherer, prekärer oder nicht-legaler Aufenthalts- und Arbeitsstatus (und sehr eingeschränkte soziale Rechte) verbunden sind. In der DDR sind es die sogenannten Vertragsarbeiter_innen, die in Wohnheimen kaserniert eher belastende und monotone Tätigkeiten übernehmen mussten.

Ein Blick in die Armutsstatistik zeigt, dass die Armutsquote von Menschen mit einem ›Migrationshintergrund‹ gegenwärtig doppelt so hoch ist wie bei den Autochthonen.

Diese Geschichte der sozialen Unterschichtung wird von einem langfristig wirksamen Rassismus begleitet: dazu gehört die lange Vorgeschichte des Antisemitismus, des Antislavismus und des Antiziganismus aber auch die Geschichte des Orientalismus; dazu gehört die organisierte Verfolgung, Vertreibung und Ermordung zu Zeiten der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft; dazu gehört aber auch der wenig thematisierte Rassismus der westdeutschen und der ostdeutschen bzw. der wiedervereinigten deutschen Gesellschaft.

Migrationsgesellschaft/ postmigrantische Gesellschaft

Vor diesem Hintergrund ist es gerechtfertigt von einer Migrationsgesellschaft zu sprechen. Wir haben es mit einer langen Geschichte der Aus- und Einwanderung, aber auch der Binnenwanderungen (z.B. Ost-West, Stadt-Land) zu tun, die die Sozialstrukturen immer wieder nachhaltig verändert haben. Für die Autochthonen waren damit nicht selten auch Möglichkeiten des sozialen Aufstiegs verbunden. Diese Migrationen und die damit oft verknüpften Unterschichtungen führen zu komplexen Intersektionen; die sozial Schlechtergestellten werden oft auch als Andere begriffen, als die ›von drüben‹, als ›die Polacken‹, als die ›Südländer‹ oder als die ›Muslime‹.

Mit dem Vorschlag, von einer postmigrantischen Gesellschaft zu sprechen, soll dem Problem begegnet werden, dass mit der Rede von ›Migrant_innen‹ bzw. von ›Menschen mit einem Migrationshintergrund‹ systematische Effekte der Etikettierung verbunden sind. D.h. Migrant_innen werden über Kulturalisierungen und Rassifizierungen zu essenziell anderen, während umgekehrt ihre soziale und intersektionale Differenz zum Verschwinden gebracht wird.

Der gemeinsame Nenner der sozialstrukturellen Perspektive liegt darin, dass Sozialstrukturanalysen vor allem als die Analyse distinkter Sozialgruppen begriffen werden, die sich in Arbeits- und Lebensbedingungen signifikant unterscheiden.
Diese Perspektive kommt vermutlich der Vorstellung von Sozialstrukturen am nächsten. Soziale Gruppe werden erkennbar, wenn Metallarbeiter:innen oder Erzieher:innen auf der Straße bzw. in den Betrieben für ihre Rechte kämpfen, wenn Frauen den vorherrschenden Rassismus anprangern oder wenn sich Migrant:innen zu Interessenverbänden zusammenschließen. Umgekehrt werden diese Gruppenkonstrukte immer wieder zur Verteidigung von Privilegien genutzt,  wenn in klassistischer Manier der schrumpfende Mittelstand beklagt oder in rassistischer Manier die „hart arbeitenden Menschen“ oder die „Leistungsträger“ beschworen werden.
Wenn es in diesen Kontexten gelingt,  über sozialstrukturell abgegrenzte Gruppen in einer analytischen und nicht essenzialisierenden bzw. beschwörenden Weise zu sprechen,  dann können diese Konzepte durchaus geeignet sein, um Ergebnisse empirischer Analysen verdichtet zu beschreiben.

Soziokulturelle Perspektive

Für das Verständnis von Sozialstrukturen ist es bedeutsam, sich jenseits der sozioökonomischen Differenzierungen auch dafür zu interessieren, wie diese mit Verhältnissen der sozialen Zugehörigkeit bzw. Distinktion und der sozialen Anerkennung bzw. Diskriminierung verknüpft sind. Während der Begriff der Wohlstandsgesellschaft eher als sozialgeschichtlicher Marker für die prosperierenden Gesellschaften der Nachkriegsjahrzehnte fungiert, verweist das hier als Oberbegriff konstruierte Label (Gesellschaft der ›Feinen Unterschiede‹) auf die komplexen Effekte, die unterschiedliche Formen des Konsums, des Geschmacks oder des Lebensstils für die Affirmierung von Sozialstrukturen erbringen.

Wohlstandsgesellschaft/ Konsumgesellschaft

Die in vielen westeuropäischen Ländern beobachtbare Nachkriegsprosperität hat für erhebliche Teile der Bevölkerung deutliche Einkommenszuwächse erbracht – in der Sozialgeschichte wird von einer Phase der Entproletarisierung der unteren Lagen gesprochen. In diesem Zusammenhang wurde von Konsum- oder Wohlstandsgesellschaften gesprochen. Ulrich Beck hat jedoch stets betont, dass es sich dabei um einen ›Fahrstuhleffekt‹ handele, bei dem breite Teile der Gesellschaft eine Etage höher fahren, ohne dass sich jedoch die soziale Schichtung also die Relationen verschiedener sozialer Gruppen wesentlich verändern.

Gesellschaft der ›Feinen Unterschiede‹

Historisch betrachtet lässt sich mit den sogenannten bürgerlichen Konsumrevolutionen seit dem 18. Jahrhundert z.B. in den Niederlanden und Großbritannien beobachten, wie Praktiken des Konsums neben ihrer Materialität immer auch als Mittel der Markierung von Zugehörigkeit aber auch von Differenz verwendet werden. Diese Möglichkeiten des distinktiven Konsums erweitern sich mit der einsetzenden Massenproduktion von Textilien oder mit der Nutzung von Konsumgütern aus der Kolonialwirtschaft (z.B. Tee, Kaffee, Kakao, Zucker).

Die Analysen Pierre Bourdieus (1987) – eine wichtige Publikation wurde im Deutschen mit ›Die Feinen Unterschiede‹ betitelt – zeigen auf, wie sozioökonomische Differenzierungen (z.B. nach Berufen, nach Einkommen oder der sozialen Herkunft) mit Differenzen der Lebensstile (z.B. des Geschmacks und der kulturellen Praktiken) einhergehen. Für die Sozialstrukturanalyse ist vor allem das Konzept des Habitus bedeutsam; d.h. Bourdieu begreift diese Lebensstile nicht im Sinne von Konsumstilen, die sich, ein hinreichendes Einkommen vorausgesetzt, sehr unterschiedlich gestalten können. Vielmehr zeigt er auf, dass diese Lebensstile und die damit verbundene Weise, die soziale Welt wahrzunehmen und in ihr zu agieren, entscheidend mit dem Habitus zusammenhängen, mit jenen im Lebens- aber auch Generationenverlauf erworbenen sozial geprägten Orientierungsmustern, die einerseits Resultat der vergangenen sozialen Positionierungen sind, die dann aber auch das gegenwärtige Handeln in entscheidender Weise prägen. Darüber entstehen Gesellschaften, in denen die sozioökonomische Ordnung gewissermaßen in einer habituell verankerten Ordnung der Lebensstile und Orientierungsmuster verdoppelt wird. In diesem Sinne kann man dann von unterschiedlichen – nicht unbedingt scharf abgegrenzten – sozialen Milieus sprechen, in denen gewisse soziale Positionierungen mit den habituell vermittelten Lebensstilen und Orientierungen korrespondieren.

Die soziokulturelle Perspektive lenkt den Blick darauf, dass sich soziale Ungleichheiten jenseits materieller und monetärer Faktoren auch in kulturellen Praktiken oder in der Art und Weise, wie sich Menschen in Gesellschaften verorten und orientieren, ausdrücken. D.h. es geht um Lebensstile oder um Muster der Abgrenzung und Zurechnung zu sozialen Gruppen; soziale Ungleichheiten drücken sich auch in Körper und Geist der sozial unterschiedlich Positionierten aus.

Sozialpolitische Perspektive

Der Begriff der Wohlfahrtsgesellschaft soll hier in dem Sinne verstanden werden, dass damit Gesellschaften bezeichnet werden, in denen nicht unerhebliche Teile des Sozialprodukts im Sinne verschiedenster Sozialpolitiken verwendet werden. Die (im wissenschaftlichen Kontext) zu findende alternative Lesart, die den Begriff der Wohlstandsgesellschaft gegen den des Wohlfahrtsstaates abgrenzt und nach den Akteuren und der Erbringung wohlfahrtlicher Leistungen fragt, soll hier nicht weiter verfolgt werden.

Die Grundzüge einer solchen Wohlfahrtsgesellschaft zeichnen sich in Deutschland bereits mit der Einrichtung der ersten Sozialversicherungen und des öffentlichen Bildungssystems heraus; entscheidend ist dann aber die Phase der Nachkriegsprosperität, in der hohe wirtschaftliche Wachstumsraten mit einem erheblichen Ausbau der Sozialpolitik und des Bildungswesens einhergehen. Wenngleich der Ausbau des Wohlfahrtsstaates gemessen an der Sozialleistungsquote seit der Jahrtausendwende bei ca. 30% stagniert und sich auch manche Prinzipien der Leistungsvergabe verändert haben (z.B. das im Kontext der Hartz-Reformen favorisierte Prinzip des ›Fordern und Fördern‹), modifizieren die wohlfahrtsstaatlichen Institutionen die Sozialstruktur der Gegenwartsgesellschaft in entscheidender Weise, indem sie die Risiken des Lebensverlaufs (Krankheit, Invalidität) und die marktbedingten (Arbeitslosigkeit, Erwerbsminderung) Risiken abfedern. Nimmt man noch die Bildungsausgaben (ca. 4-5% des BIP) hinzu, wird deutlich, in welchem Maße die Lebensverläufe der Gegenwartsgesellschaft durch sozialstaatliche Institutionen und Leistungen geprägt sind.

In welcher Gesellschaft leben wir eigentlich?

Nun folgt trotz der angeführten Bedenken eine Antwort auf die Frage nach den Charakteristika der Gegenwartsgesellschaft. Es ist sinnvoll, von

intersektional klassifizierten Arbeitsgesellschaften in einer national- bzw. ökonomisch hierarchisierten Welt

zu sprechen. Im Zentrum der Argumentation steht dabei die Frage, wie Arbeit (i.w.S.) geteilt und bewertet wird:

Jenseits dieser Zuspitzung lassen sich diese ganz unterschiedlichen Diagnosen noch in einer etwas anderen Weise subsumieren; sie beschreiben – von den wenigen hier zurückgewiesenen Etikettierung abgesehen – je andere für sich bedeutsame Aspekte von Sozialstrukturen.

Schließlich sei noch einmal an die Frage erinnert, ob ›wir‹ alle in derselben Gesellschaft leben. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts hatte Georg Simmel Prozesse der Vergesellschaftung über die Metapher sich kreuzender sozialer Kreise beschrieben. Das Bild ist eigentlich noch immer tauglich, um jene komplexen Verhältnisse von ökonomischen, politischen, rechtlichen, sozialen und diskursiven Einbindungen zu beschreiben, die diesseits und jenseits nationalstaatlicher Grenzen Vergesellschaftung ausmachen. Auch der hier wie selbstverständlich gebrauchte Begriff der Gegenwartsgesellschaft ist zu hinterfragen; wir leben in derselben chronologischen Zeit, aber wir leben auch jenseits unserer eigenen Biographie in einer Welt von Institutionen, Strukturen, Konventionen etc., die ihre je eigene Geschichte und Zeitordnung haben.

Literatur