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Lernprozesse in der Sozialstrukturanalyse

In diesem Beitrag soll es um meine wissenschaftlichen Lernprozesse im Bereich der Sozialstrukturanalyse gehen; in ihnen spiegeln sich aber auch die sozioökonomischen und politischen Veränderungen der letzten Jahrzehnte und die Veränderungen ihrer Thematisierung im sozialwissenschaftlichen wie im politischen Feld. Über die Verquickung dieser drei Ebenen gestalten sich Lernprozesse recht komplex; hinzu kommen die Eigenlogiken des retrospektiven Erzählens.

Ein soziologisches Studium in den 1970er Jahren

Ich möchte versuchen, zunächst eine Art Nullpunkt meiner Zugänge zu Fragen der Sozialstruktur zu beschreiben. Ich beziehe dabei auch eher persönliche Momente ein, weil sie meines Erachtens wichtige Hinweise zum Verständnis und zur kritischen Reflexion des Blicks auf ›Sozialstrukturen‹ eröffnen.

Im Rahmen meiner schulischen Ausbildung und meines Studiums in den 1970er Jahren spielte die Beschäftigung mit ›dem Kapitalismus‹ eine wichtige Rolle. Das Konzept fungierte als ein all-inclusive-Paket für junge Studierende der Sozialwissenschaften. Es erschuf ein zusammenhängendes Phänomen (die bürgerliche Gesellschaft, das kapitalistische System) und bot einen umfassenden theoretischen Zugang zu diesem so konstruierten Gegenstand. Es offerierte Orientierung im politischen Feld und gab politischen Interventionen eine Richtung. Das war im Großen ein Bild der vergangenen und zukünftigen gesellschaftlichen Entwicklungen und ein Bild wichtiger Akteure (der ›Arbeiterklasse‹). Die Frage des ›richtigen‹ politischen Bewusstseins fungierte als eine wichtige Verknüpfung von Lebenspraxis und politischem Handeln. Es bot aber auch Orientierung im Nahbereich, im politischen wie im wissenschaftlichen Umfeld ließen sich die Einen und die Anderen unterscheiden. Auch für die für Jugendliche existenziellen Fragen nach der eigenen Verortung, nach dem Umgang mit eigenen Ängsten und Nöten eröffnete sich ein Interpretationsangebot, man wusste um die ›Ängste im Kapitalismus‹, suchte nach einer Verknüpfung von Marxismus und Psychoanalyse. ›Marx‹ interessierte mich als politischer Ökonom und als Gesellschaftstheoretiker, weniger als politischer Ratgeber als der er in den politischen Diskursen jener Jahre eine wichtige Rolle spielte. So konnten auch linke Sozialdemokrat:innen und Gewerkschafter:innen als Orientierungspunkte fungieren. Ich hatte das Glück, mich der sogenannten ›undogmatischen Linken‹ zurechnen zu können. Man hoffte auf grundlegende gesellschaftliche Veränderungen, aber die galt es, im Sinne des ›Marsches durch die Institutionen‹, in ganz verschiedenen ›Arbeitsfeldern‹ umzusetzen; und es galt ›Verbündete‹ (die ›Lohnabhängigen‹ und andere Interessengruppen) zu gewinnen. Sicherlich beeindruckten die ›Befreiungsbewegungen‹, die sich im Kontext der postkolonialen Konstellation herausgebildet hatten; auch die ›Kulturrevolution‹ und die Idee eines ›neuen Menschen‹ übten in heute beschämender Weise eine gewisse Faszination aus.

Das hier gezeichnete Bild, das die Suchbewegungen eines jungen Sozialwissenschaftlers in den Vordergrund rückt, ist jedoch in verschiedener Weise verkürzt. Das Studium beinhaltete zwar eine mehrsemestrige Lektüre des ›Kapitals‹; es ging aber auch um die jüngsten empirischen Studien zur Industrie- und Betriebssoziologie, zum ›Arbeiterbewusstsein‹, zu Klassen und Schichten. Im Kontext von Studienprojekten – so die heutige Diktion – setzte man sich damit auseinander, wie die politökonomischen Konzepte für die Analyse von Unternehmensbilanzen und Volkswirtschaftlicher Gesamtrechnung oder für die empirische Bestimmung von Klassen genutzt werden können. Auch Fragen der Stadtsoziologie wurden theoretisch und empirisch angegangen – und wurden zum Thema meiner ersten wissenschaftlichen Abschlussarbeit. Die Statistikausbildung und die darüber hinaus erworbenen Programmiererfahrungen prädestinierten für die Durchführung empirischer Forschungsprojekte. Die Studienzeit fiel schließlich auch mit dem Entstehen der neuen sozialen Bewegungen zusammen. Die zweite Frauenbewegung und die Anfänge der Lesben- und Schwulenbewegung waren im Studium wie im privaten Leben allgegenwärtig; auch die sogenannte ›Dritte-Welt-Bewegung‹ war präsent.

Das Bild ist aber auch in anderer Weise unvollständig; es sind die Anfänge einer Bildungs- und Berufskarriere eines sozialen Aufsteigers aus der unteren Mittelschicht. Diese Herkunftserfahrungen implizierten eine eigenartige Melange von Bildungsferne und Bildungsfaszination. Ich hatte ein Gymnasium besucht, aber es war das mathematisch naturwissenschaftliche Gymnasium und nicht das (sozial verschlossene) humanistische und nicht das (geschlechtlich verschlossene) neusprachliche Gymnasium; es war bezüglich der Schülerschaft und lange Zeit auch bezüglich der Lehrerschaft ein männliches und weißes Gymnasium. Im Studium wurden diese Aufstiegserfahrungen nicht thematisiert; man  befasste sich zwar mit dem restringierten Code und der klassenspezifischen Sozialisation, aber das spielte auf einem anderen Planeten. Die weitgehend männliche Hochschullehrerschaft konnte noch mehrheitlich ›Klavier spielen‹. Auch unter den Studierenden war die soziale Herkunft kaum ein Thema; im Kontext der Bildungsexpansion und des zweiten Bildungsweges hatte es durchaus eine gewisse Zahl von potentiellen Aufsteiger:innen an die Hochschulen verschlagen.

Grundsätzlich war dieses Jahrzehnt noch immer von einem technisch, wissenschaftlich aber auch einem individuellen und sozialen Fortschrittsoptimismus geprägt. Die akademisch betrachtet noch jungen Sozialwissenschaften waren mit großen Aufklärungs- und Emanzipationsversprechungen gestartet; der Glaube an die Planbarkeit gesellschaftlicher Entwicklung war noch wenig gebrochen. Der Ausbau des Sozialstaats hielt zunächst noch an. Umgekehrt waren die ersten ökonomischen Einbrüche deutlich erkennbar; der lange Anstieg der Arbeitslosenzahlen setzte schon Mitte der 1970er Jahre ein. Auch die ökologische Krise wurde thematisiert: die Studie des Club of Rome gehörte zur Schullektüre; die Bürgerinitiative gegen das örtliche AKW hatte sich bereits gegründet. Aber diese Krise lag in weiter Ferne.

Die Bedeutung von Institutionen

Gegenüber der im wissenschaftlichen wie im politischen Raum vorherrschenden Fokussierung auf soziale Großgruppen (Klassen, Schichten oder Berufsgruppen) eröffnete mir die Analyse von sozial differenzierenden Institutionen neue Zugänge zum Verständnis von Sozialstrukturen. Es waren vor allem zwei Fragestellungen, die eine solche institutionelle Perspektive hervorbrachten:

Variationen der politischen Regulierung von Kapitalismen

Die Regulationstheorie interessiert sich für das historisch variierende Zusammenspiel von verschiedenen Grundmustern gesellschaftlicher Produktion (handwerkliche, kleinindustrielle, großindustrielle oder flexibilisierte Produktion ― so genannte Akkumulationsregime) mit daran angepassten Mustern der politischen Regulierung (Regulationsmodi) und Mustern der Vergesellschaftung, des Konsums bzw. der Lebensweise. Exemplifiziert wird das am Beispiel des Fordismus (für die USA vgl. Aglietta 1979). Dieser beinhaltete jenseits der technischen Spezifika (standardisierte Massenproduktion) ― idealtypisch betrachtet ― bestimmte Formen der Produktionsorganisation (große Industriebetriebe mit eher gering qualifizierten aber auskömmlich entlohnten Arbeitskräften), bestimmte Weisen der politischen Regulierung (Wohlfahrtstaaten, korporative Aushandlung der industriellen Beziehungen), bestimmte Weisen der sozialen Organisation (Kleinfamilien) und des Konsums (Konsum von industriell gefertigten Massengütern, die an Märkten erworben werden).  Die großbetriebliche Organisation implizierte darüber hinaus bestimmte Muster der Finanzierung von Unternehmen, der Arbeitsorganisation, aber auch der gewerkschaftlichen Organisation.  Übersetzungen dieses Modells in die deutschsprachigen wissenschaftlichen und politischen Diskurse finden sich bei Hirsch/ Roth (1986).

Die Regulationstheorie brach mit den Zusammenbruchsprognosen Marxscher Provenienz und betonte die »bemerkenswerte Flexibilität und Reorganisationsfähigkeit« (S. 42) des Kapitalismus. Man hielt zugleich an dem Anspruch umfassender Gesellschaftsbeschreibungen fest; mit der Frage nach den politischen Regulierungen und Institutionen, die eine bestimmte Weise des Produzierens überhaupt erst ermöglichen, wird jedoch der latente Ökonomismus aufgeweicht. Auch die Unterscheidung verschiedener Phasen der kapitalistischen Entwicklung erinnert an das Marxsche Modell, nunmehr aber in einer nicht finalisierten Variante. Am wichtigsten ist jedoch, dass sich die Beziehung zwischen ökonomischer Positionierung und sozialer Lage weitaus vermittelter darstellt als in den Marxschen Diagnosen von Verelendung und Polarisierung. Das mit dem Fordismus (in den prosperierenden Ländern) oftmals verbundene »Ende der Proletarität« (Mooser 1984) hängt mit dem Ausbau der Sozialstaaten und mit säkularen Anstiegen des (durchschnittlichen) Lohniveaus zusammen. Damit entsteht auf der einen Seite ein neues Wirtschaftsmodell, indem der Massenkonsum (Plumpe 2019, S. 425ff) eine wichtige Rolle spielt; auf der anderen Seite entsteht eine Lohnarbeitsgesellschaft (Castel 2000, S. 283ff), in der die große Mehrheit der abhängig Beschäftigten ein neues Niveau der sozialen Sicherheit erreicht und in der sich neue Möglichkeitsräume (der Bildung oder des sozialen Aufstiegs) eröffnen.

In dem später entwickelten Ansatz, der nach den Varietäten des Kapitalismus (Hall/ Soskice 2001) fragt, findet sich die Frage nach den regulativen Rahmenbedingungen verschiedener Weisen des Produzierens wieder; anstelle einer zeitlichen Abfolge stehen hier eher Varianten der politischen Regulierung im Fokus, die sich in einzelnen Ländergruppen finden lassen.  Während für die Frage nach den Varietäten des Kapitalismus eher das Finanzsystem und die Unternehmensbeziehungen bzw. die Ausbildung von Arbeitskräften und die industriellen Beziehungen im Vordergrund stehen, wird in anderen Typologien eher nach den Varietäten von Wohlfahrtsstaaten (Esping-Andersen 1990) gefragt.

Wenn man nun die Dispute um die Frage der zeiträumlichen bzw. der nationalräumlichen Abgrenzung der entwickelten Modelle beiseite lässt und sich auch auf ein Nebeneinander von Regulierungsmodi oder auf Ungleichzeitigkeiten einlässt, bieten diese Ansätze und die möglichen Erweiterungen (z.B. auf postsozialistische Länder) ein gutes Werkzeug, das sich jenseits generalisierender Fragestellungen auch für die Analyse von Sozialstrukturen verwenden lässt. Insbesondere die Phase des Fordismus geht in vielen Ländern mit relativ geringeren monetären Ungleichheiten, mit hoher sozialer Mobilität und dem Ausbau sozialstaatlicher Leistungen einher. Ausgehend davon kann dann untersucht werden, wie sich mit den Veränderungen dieses Produktions- und Regulierungsmodells auch Sozialstrukturen verändern. Am Beispiel des Fordismus kann verdeutlicht werden, wie Veränderungen der Produktionsweise, der Regulierungsweise und schließlich der Lebensweise (idealtypisch) miteinander verknüpft sind. 

Stabilität und Wandel von sozial differenzierenden Institutionen

Der Wirtschaftshistoriker Douglass C. North begreift Institutionen als von Menschen erdachte Beschränkungen, die wirtschaftliche, politische und soziale Interaktionen strukturieren. Sie fungieren auf einer formellen (z.B. Verfassungen, Gesetze oder Eigentumsrechte) wie auf einer informellen (z.B. Bräuche, Konventionen) Ebene; schließlich sind sie ― so wäre zu ergänzen ― auch auf einer kognitiven Ebene (z.B. Vorstellungen von Rationalitäten und Normalitäten) zu verstehen. »They evolve incrementally, connecting the past with the present and the future; history in consequence is largely a story of institutional evolution in which the historical performance of economies can only be understood as a part of a sequential story. Institutions provide the incentive structure of an economy; as that structure evolves, it shapes the direction of economic change towards growth, stagnation, or decline« (North 1991, S. 97).

Das aus der Wirtschafts- bzw. Techniksoziologie stammende Konzept der Pfadeffekte interessiert sich für die Folgeeffekte (Entwicklungspfade) früher institutioneller Entscheidungen. Ein klassisches Beispiel sind technische Entscheidungen, wie z.B. die QWERTY-Tastatur, die sich nicht nur materiell realisiert, sondern auch in den Fertigkeiten aller daran Ausgebildeten widerspiegelt. Für die Sozialstrukturanalyse weitaus interessanter sind jene Pfadeffekte, die mit den gestuften Systemen der schulischen und beruflichen Bildung, mit einem hierarchisierten und verrechtlichten System beruflicher Positionen oder mit Systemen der sozialen Sicherung (Umlage- vs. Kapitaldeckungsverfahren) zusammenhängen. Dabei ist es bedeutsam, dass es nicht nur bestimmte organisationale Muster sind, an denen sich solche Pfadabhängigkeiten beobachten lassen; es sind auch die damit verbundenen kognitiven Muster. So bilden sich mit den sozial differenzierenden Institutionen stets auch Vorstellungen heraus, die z.B. die über Bildungsabschlüsse lebenslänglich differenzierten Erwerbsverläufe und die daraus resultierenden Unterschiede in den Einkommen und der sozialen Sicherung als gerechtfertigt erscheinen lassen.

Wischermann/ Nieberding (2004) analysieren jene im 19. und frühen 20. Jahrhundert anzusiedelnde ›institutionelle Revolution‹, in der wesentliche Grundmuster der bis heute bestehenden Wirtschafts- und Sozialordnung entstanden sind. Kathleen Thelen (2004) untersucht die lange Geschichte beruflicher Bildungseinrichtungen und rekonstruiert das Nebeneinander und die Verknüpfung von institutioneller Reproduktion und institutionellem Wandel. »The language of stasis and inertia is particularly unhappy because as the world around institutions is changing their survival will not necessarily rest on the faithful reproduction of those institutions as originally constituted, but rather on their ongoing active adaptation to changes in the political and economic environment in which they are embedded« (S. 293).

Was bringt die institutionelle Perspektive?

Für das Verständnis von Sozialstrukturen spielt die Analyse der sozial differenzierenden Institutionen, die die Teilung der Arbeit auf der einen und die Kategorisierung von Personengruppen auf der anderen Seite organisieren, und ihr Zusammenspiel unter sich verändernden ökonomischen und politischen Rahmenbedingungen eine zentrale Rolle. Diese Institutionen sind als ein strukturierendes Moment sozialer Differenzierung zu begreifen.

Die institutionelle Perspektive ermöglicht eine Verknüpfung von makro- und mikrosoziologischen Analysen. So lassen sich z.B. auf der Makroebene die Effekte eines gegliederten und verrechtlichten Bildungssystems aufzeigen; auf der Mikroebene lässt sich beobachten, wie einzelne Lehrkräfte (als Vertreter:innen dieser Bildungsinstitutionen) Ausbildungswege und Lebensverläufe prägen.

Die hier skizzierten Lernprozesse lassen sich nur schwer mit einzelnen biographischen Etappen verknüpfen; ein wenig können dies die Erscheinungsdaten der hier aufgeführten Schlüsselpublikationen leisten. Zudem täuscht die Retrospektive und die argumentative Verdichtung über die Komplexität solcher wissenschaftlichen Suchprozesse, über Irrlichter und Sackgassen hinweg.

Literatur

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