Theorien zweiter Ordnung

Im Kontext der Ko-Evolution von Kapitalismen und Nationalstaaten haben sich seit dem 19. Jahrhundert Institutionen, Infrastrukturen und Regularien herausgebildet, die für die Verfasstheit von Sozialstrukturen von zentraler Bedeutung sind. In den sozialwissenschaftlichen Disziplinen finden sich vielerlei Ansätze, die solche Institutionen, Infrastrukturen und Regularien aus je unterschiedlicher Perspektive analysieren. Von den Fragestellungen der Sozialstrukturanalyse ausgehend kann von ›Theorien zweiter Ordnung‹ gesprochen werden, weil sich diese nicht im engeren Sinne mit Sozialstrukturen befassen, sondern eher vergleichend deren Rahmenbedingungen (z.B. in verschiedenen Weltregionen, Nationalstaaten oder Epochen) beleuchten – der Begriff impliziert keine Wertung oder Hierarchisierung. Hier zum Vergleich die Theorien erster Ordnung.

Überblick:

Hier eine Übersicht über wichtige Ansätze solcher Theorien zweiter Ordnung.

Sozio-ökonomische Perspektive

Aus sozio-ökonomischer Perspektive geht es um Theorien der Regulation, um Varianten von Kapitalismen oder um die Bedeutung von Institutionen:

  • Im Kontext des Regulationsansatzes wird untersucht, wie die Entwicklung kapitalistischer Ökonomien mit der Herausbildung und Veränderung von Institutionen und Regelsystemen verknüpft ist. Deutlich wird dies bei Analysen des Fordismus in den prosperierenden Nationalgesellschaften nach dem Zweiten Weltkrieg. Dieser wird nicht nur als ein Produktionsmodell (z.B. industrielle und großbetriebliche Arbeits- und Fertigungsprozesse) begriffen, sondern auch als ein spezifisches Akkumulations- (z.B. Massenproduktion im nationalstaatlichen Rahmen) und Regulationsmodell (z.B.  Regulierung der industriellen Beziehungen) sowie als Sozialmodell (z.B. Entproletarisierung und Massenkonsum). Weitaus schwieriger ist es, die Charakteristika einer post-fordistischen Konstellation zu bestimmen.
  • Ähnlich wie beim Regulationsansatz geht es beim Varieties-of-Capitalism-Ansatz (Hall/ Soskice 2001) um Fragen der institutionellen Einbettung kapitalistischer Produktion, indem diese z.B. ein entwickeltes Finanzsystem, qualifizierte Arbeitskräfte, die Regulierung industrieller Konflikte oder geregelte Unternehmensbeziehungen voraussetzt.
  • Unter dem Label Institutions matter ist in den Wirtschaftswissenschaften bzw. der in Wirtschaftsgeschichte eine breite Diskussion um die Bedeutung von Institutionen für das Funktionieren von Wirtschaftssystemen und Märkten bzw. für die Herausbildung prosperierender Nationalstaaten entstanden.

Sozio-politische Perspektive

Aus sozio-politischer Perspektive werden Wohlfahrtsregime, Grenzregime  oder die Governance von Erwerbsarbeit untersucht:

  • Die auf Esping-Andersen zurückgehende Klassifizierung der Wohlfahrtsregime verschiedener (prosperierender) Nationalstaaten differenziert liberale, konservative und sozialdemokratische Modelle. Diese unterscheiden sich in ihrer Dekommodifizierung (z.B. Schutz gegen Marktrisiken), ihrem Residualismus (z.B. Bedeutung von Fürsorgeleistungen), ihrer Privatisierung, ihrem Korporatismus (z.B. sozial differenzierte Sicherungssysteme), ihrer Umverteilungskapazität und ihrer Vollbeschäftigungsgarantie. Inzwischen liegen verschiedene Vorschläge vor, dieses in den 1990er Jahren entstandene Modell zu erweitern.
  • Das Konzept des Grenzregimes (Hess et al. 2016) wird in verschiedenen sozialwissenschaftlichen Disziplinen genutzt, um zu analysieren, wie Nationalstaaten ›Grenzen‹ organisieren. Es geht um jene Regeln, Normen und Praktiken, mit denen die Bewegung von Menschen, Gütern und Dienstleistungen über Grenzen gesteuert wird. Das Grenzregime wird als ein komplexes System von staatlichen und nicht-staatlichen Akteuren, aber auch von internationalen Organisationen, NGOs und transnationalen Netzwerken begriffen.
  • Unter dem Label Governance von Erwerbsarbeit (Dingeldey et al. 2015) finden sich Analysen, die den Wandel von Erwerbsarbeit unter eine Regulationsperspektive (s.o.) untersuchen. Dabei geht es um Veränderungen der Arbeitsprozesse und der Ansprüche an die Arbeitenden, um die Veränderung der betrieblichen und gewerkschaftlichen Interessenvertretung und um Veränderungen der sozialpolitischen Einbindung von Erwerbsarbeit.

Sozial-rechtliche Perspektive

Aus sozialrechtlicher Perspektive wurde die Entwicklung von staatsbürgerlichen Rechten (bzw. Menschenrechten) analysiert:

  • Thomas H. Marshall hatte in den 1950er Jahren grundlegende Überlegungen darüber angestellt, wie mit der Entwicklung der industriellen Produktion auch die Entwicklung ziviler, politischer und sozialer Rechte einhergeht. Im Sinne einer Zeitdiagnose begreift er die Gewährung sozialer staatsbürgerlicher Rechte als ein wichtiges Moment der sozialen Integration in Gesellschaften, in denen die Erwerbsarbeit mit großen sozialen Ungleichheiten verbunden ist. Er begründet damit die soziologische Analyse der Staatsbürgerschaft.
  • Aus den Ideen Marshalls bzw. aus ihrer Kritik ist eine umfangreiche Debatte um Staatsbürgerschaft bzw. citizenship und ihren Beitrag zu sozialen Ungleichheiten entstanden. Parallel wurden historische Analysen zur Staatsbürgerschaft vorgelegt, z.B. durch Tilly und Gosewinkel. Mit der Analyse von citizenship-Regimes wurde eine Brücke zum Regulationsansatz (s.o.) geschlagen.

Sozio-historische Perspektive

Aus sozio-historischer Perspektive interessiert die Herausbildung und Veränderung von Institutionen:

  • Im Kontext einer Geschichte des Kapitalismus bzw. der Kapitalismen (z.B. Plumpe 2019, Lenger 2023) wird den institutionellen Rahmenbedingungen nachgegangen, die die rasante wirtschaftliche und soziale Entwicklung in vielen Ländern des globalen Nordens ermöglicht haben.
  • In fokussierter Form wird von einer institutionellen Revolution (Wischermann/Nieberding 2004) gesprochen, in deren Verlauf im 19. und frühen 20. Jahrhundert jene politischen, wirtschaftlichen und sozialen Institutionen (z.B. Privateigentum, Arbeitsmarkt, Kapitalmarkt, Arbeits- und Sozialrechte) entstehen, die für Sozialstrukturen bis heute von zentraler Bedeutung sind.

Sozio-geographische Perspektive

Aus sozio-geographischer Perspektive werden die räumlichen Veränderungen untersucht, die mit der völlig neuen Weise der Produktion und Reproduktion einhergehen, so z.B. mit der Entstehung und Veränderung von Industrieregionen und großen Städten:

  • In der Sozialgeographie (Werlen 2008) geht es um das Zusammenspiel von räumlichen und sozialen Strukturen. Mit der Kritik an einer essenzialisierenden und nationalisierenden Perspektive geht dann immer auch die Frage einher, wie Räume hergestellt werden und wie sich diese Raumkonstrukte aus einer transnationalen Perspektive darstellen.
  • Die Wirtschaftsgeographie (Bathelt/ Glückler 2018) analysiert die räumliche Seite wirtschaftlicher Prozesse. Sie fragt »nach der spezifischen räumlichen Organisation wirtschaftlichen Austauschs und sozialer Institutionen im Produktionsprozess und interessier[t] sich für die räumliche Differenzierung der Art und Weise, wie Wirtschaft in lokalisierten Lebensverhältnissen praktiziert wird« (Bathelt/ Glückler 2018, S. 17).

Gemeinsamkeiten

Diese Ansätze weisen eine Reihe von strukturellen Ähnlichkeiten auf. Das hängt mit der Frage nach der Herausbildung und Veränderung von Institutionen und Infrastrukturen zusammen. So rangieren die Analysen eher auf einer Mesoebene; oft wird eine transdisziplinäre Perspektive genutzt; man verwendet eher Theorien mittlerer Reichweite bzw. institutionalistische Ansätze (Neo-Institutionalismus, historischer Institutionalismus). Zudem ist die empirische Orientierung stark ausgeprägt.

All diese Ansätze sind für das Verständnis von Sozialstrukturen, ihrer Entwicklung bzw. Variation von Bedeutung. Sie alle liefern einen Beitrag zu der Frage, wie im Wechselspiel von wirtschaftlichen und politischen Entwicklungen soziale Ungleichheiten entstehen,  wie sie z.B. nationalstaatlich moderiert werden und wie sie sich reproduzieren bzw. verändern.

Im Prinzip sind diese Überlegungen die logische Konsequenz der These Marshalls (2000, S. 64 f.), dass in heutigen Gesellschaften Klassen nicht länger als eine Institution eigenen Rechts zu begreifen seien,  sondern nur aus dem Zusammenwirken verschiedener Institutionen zu verstehen seien.

Literatur

Acemoglu, Daron/ James A. Robinson 2013: Warum Nationen scheitern. Die Ursprünge von Macht, Wohlstand und Armut, Frankfurt/Main: S. Fischer Verlag.

Bathelt, Harald/ Johannes Glückler 2018: Wirtschaftsgeographie. Ökonomische Beziehungen in räumlicher Perspektive, Stuttgart: Verlag Eugen Ulmer

Dingeldey, Irene/ Holtrup, André/ Warsewa, Günter 2015: Wandel der Governance der Erwerbsarbeit, Wiesbaden: Springer VS

Hall, Peter A./ Soskice, David 2001: Varieties of Capitalism. The Institutional Foundations of Comparative Advantage, Oxford: Oxford University Press

Hess, Sabine/ Bernd Kasparek/ Stefanie Kron/ Mathias Rodatz/ Maria Schwertl/ Simon Sontowski 2016: Der lange Sommer der Migration. Grenzregime III, Hamburg: Assoziation A

Lenger, Friedrich 2023: Der Preis der Welt. Eine Globalgeschichte des Kapitalismus, München: C.H. Beck

Marshall, Thomas H. 2000 [1950]: Staatsbürgerrechte und soziale Klassen, in: Jürgen Mackert/ Hans-Peter Müller (Hrsg.), Citizenship – Soziologie der Staatsbürgerschaft, Opladen: Westdeutscher Verlag, S. 45-102

Plumpe, Werner 2019: Das kalte Herz. Kapitalismus. Die Geschichte einer andauernden Revolution, Berlin: Rowohlt Berlin

Werlen, Benno 2008: Sozialgeographie. Eine Einführung, Bern, Stuttgart, Wien: Haupt

Wischermann, Clemens/ Anne Nieberding 2004: Die institutionelle Revolution. Eine Einführung in die deutsche Wirtschaftsgeschichte des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, Stuttgart: Franz Steiner Verlag

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