
Habitus bei Bourdieu
Das Konzept des Habitus steht bei Bourdieu für ein bestimmtes Modell menschlichen Handelns. Er begreift den Habitus als ein Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsmuster, das biographisch und sozial eingebunden ist.
- Habitus als Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsmuster
- Bedeutung für die Sozialstrukturanalyse
- Erzeugung von Ungleichheiten
- Reproduktion von Ungleichheiten
- Raum der sozialen Positionen und der Lebensstile
- Habitus und Anlagesinn
- Kommentar
- Literatur
Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsmuster
Der Habitus bietet bestimmte Möglichkeiten, Situationen und Umwelten wahrzunehmen, sich in ihnen zu orientieren und er eröffnet dann ein bestimmtes Handlungsrepertoire, in diesen Situationen und Umwelten zu agieren. Im Gegensatz zu anderen Modellen, die Handlung eher situativ und individuell konzipieren, geht Bourdieu zum einen davon aus, dass dieses Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsrepertoire in Prozessen der Sozialisation und der weiteren Lebensgeschichte erworben wurde. Das Repertoire ist stets veränderbar, weist aber eine gewisse Trägheit auf und die Veränderungen des bewährten Repertoires kosten Zeit und Arbeit. Zum anderen wird davon ausgegangen, dass der Habitus kein individuelles Phänomen ist; er hat einen kollektiven Charakter, indem sich darin immer auch die umgebende Umwelt, ein spezifisches Milieu oder eine Klasse ausdrückt.
»Die von den sozialen Akteuren im praktischen Erkennen der sozialen Welt eingesetzten kognitiven Strukturen sind inkorporierte soziale Strukturen. Wer sich in dieser Welt ›vernünftig‹ verhalten will, muß über ein praktisches Wissen von dieser verfügen, damit über Klassifikationsschemata (…), mit anderen Worten über geschichtlich ausgebildete Wahrnehmungs- und Bewertungsschemata, die aus der objektiven Trennung von ›Klassen‹ hervorgegangen (Alters-, Geschlechts-, Gesellschaftsklassen), jenseits von Bewußtsein und diskursivem Denken arbeiten« (1987, S. 730).
An anderer Stelle heißt es: » Der Begriff Habitus erklärt den Tatbestand, daß die sozialen Akteure weder Materieteilchen sind, die durch äußere Ursachen determiniert werden, noch kleine Monaden, die sich ausschließlich von inneren Gründen leiten lassen und irgendein vollkommen rationales Handlungsprogramm ausführen. Die sozialen Akteure sind das Produkt der Geschichte, der Geschichte des ganzen sozialen Feldes und der im Laufe eines bestimmten Lebenswegs in einem bestimmten Unterfeld akkumulierten Erfahrung« (1992a, S. 169 f.).
Trotz dieser biographischen und sozialen Einbindung der inkorporierten Denk- und Handlungsmuster sind Menschen grundsätzlich frei, ihre Weltsicht und ihre Handlungsweisen zu verändern. Aber diese Veränderungen müssen, mit der eigenen Person wie mit der umgebenden Umwelt ›ausgehandelt‹ und in diese ›vermittelt‹ werden. Zudem sind Menschen und soziale Gruppen immer wieder mit Brüchen konfrontiert, indem sich z.B. die Lebensumstände im Nahbereich, aber auch die in einer Region gegebenen Lebens- und Arbeitsmöglichkeiten verändern (z.B. durch Krisen, wirtschaftlich-politischen Wandel oder durch Migration). Durch solche Brüche werden bewährte Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsmuster möglicherweise in Frage gestellt und es gilt, sich in neuen Situationen zu orientieren und zu agieren. Das führt bei den einen eher zu einem Wandel des Habitus, während andere eher versuchen, an bewährten Mustern festzuhalten.
Bedeutung für die Sozialstrukturanalyse
In sozialstruktureller Perspektive kann vom Habitus gesprochen werden als einer strukturierten Struktur, die strukturierend wirkt.
D.h. der Habitus wurde in einem gewissen sozialen Umfeld erworben und trägt so die Spuren der sozialen Positionierung z.B. des Elternhauses und des umgebenden Milieus; es ist also eine durch die Vergangenheit strukturierte Struktur.
Umgekehrt liefert der Habitus Möglichkeiten, die komplexen Sozialwelten der Gegenwart zu ordnen, indem er bestimmte Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsangebote macht; er fungiert dabei als eine die Gegenwart und Zukunft strukturierende Struktur.
Habitus als Moment der Erzeugung von Ungleichheiten
Indem Menschen und soziale Gruppen habituell bedingt mit unterschiedlichen Denk- und Handlungsmustern arbeiten, werden soziale Unterschiede verstärkt.
»Der Habitus bewirkt, daß die Gesamtheit der Praxisformen eines Akteurs (oder einer Gruppe von aus ähnlichen Soziallagen hervorgegangenen Akteuren) als Produkt der Anwendung identischer (oder wechselseitig austauschbarer) Schemata zugleich systematischen Charakter tragen und systematisch unterschieden sind von den konstitutiven Praxisformen eines anderen Lebensstils« (1987, S. 278). Insofern liefert das Konzept einen Beitrag zum Verständnis sozialer Differenzierungsprozesse. D.h. soziale Gruppen lassen sich nicht nur als Gruppen mit unterschiedlichen Kapitalien und Ressourcen begreifen, es sind auch Gruppen, die sich durch ähnliche Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsweisen auszeichnen.
Habitus als Moment der Reproduktion von Ungleichheiten
Indem der Habitus so die soziale Vergangenheit einer Person oder Gruppe mit der Gegenwart und der nahen Zukunft verbindet, liefert er wichtige Einsichten in die Mechanismen der Reproduktion von Sozialstrukturen. Diese reproduzieren sich nicht nur über die Weitergabe von Rechten und materiellem Besitz oder über sozial differenzierende Institutionen (z.B. des Bildungssystems und der Arbeitsmärkte), sondern auch über die Weitergabe von Habitusmustern, die Menschen und sozialen Gruppen nahelegen, wo ihr Platz auf dieser Welt ist.
Habitus als Link zwischen dem Raum der sozialen Positionen und dem Raum der Lebensstile
In seinen Studien zum sozialen Raum (z.B. Bourdieu 1987) konzipiert Bourdieu diesen Raum in doppelter Weise: als einen Raum der sozialen Positionen (z.B. berufliche Positionen) und als einen Raum der Lebensstile (z.B. kulturelle Praktiken und Geschmacksurteile). Die empirischen Untersuchungen zeigen, dass diese beiden Räume in gleicher Weise strukturiert sind; Bourdieu spricht von einer Homologie (Gleichgestalt) dieser Räume.
Für die Erklärung dieser Homologie kommt dem Habitus eine wichtige vermittelnde Rolle zu. Er ist, wie oben ausgeführt, einerseits als das Produkt vergangener Positionierungen zu begreifen und er bringt andererseits die gegenwärtigen Handlungsmuster und dazu passende Orientierungsmuster hervor. »Insofern unterschiedliche Existenzbedingungen unterschiedliche Formen des Habitus hervorbringen, d.h. Systeme von Erzeugungsmustern, die kraft einfacher Übertragungen auf die unterschiedlichsten Bereiche der Praxis anwendbar sind, erweisen sich die von den jeweiligen Habitus erzeugten Praxisformen als systematische Konfigurationen von Eigenschaften und Merkmalen und darin als Ausdruck der Unterschiede, die (…) als Lebensstile fungieren (1987, S. 278 f.).
Über den Habitus werden also sowohl die Praktiken wie die Bewertungen dieser Praktiken hervorgebracht. »Der Habitus ist gleichzeitig ein System von Schemata der Produktion von Praktiken und ein System von Schemata der Wahrnehmung und Bewertung der Praktiken. Und beide Male kommt in seinen Operationen die soziale Position zum Ausdruck, in denen er sich entwickelt hat. Folglich produziert der Habitus Praktiken und Vorstellungen, die klassifiziert werden können, die objektiv differenziert sind; als solche sind sie jedoch unmittelbar nur für Akteure wahrnehmbar, die den Kode besitzen, die zum Verständnis ihres sozialen Sinns notwendigen Klassifikationsschemata. In diesem Sinne impliziert der Habitus einen sense of one‘s place wie einen sense of others‘s place« (1992b, S. 144).
Habitus und Anlagesinn
Der Habitus impliziert immer auch einen gewissen Anlagesinn. Ein solcher Anlagesinn führt die Menschen (mit erhöhter Wahrscheinlichkeit) in Arbeits- und Lebenssituationen, in denen ihre Kapital- und ihre habituelle Ausstattung am besten genutzt werden kann. So treffen die meisten Menschen in ihrem Lebensweg auf Umstände, »die in Einklang mit denjenigen Umständen stehen, die ihren Habitus ursprünglich geformt haben«; sie machen Erfahrungen, »die dann wieder ihre Dispositionen verstärken« (1996, S. 168).
Kommentar
Das Habituskonzept ist als ein Forschungskonzept bzw. eine Forschungshaltung entwickelt worden. Es sei »eine besondere Art, die Praxis in ihrer spezifischen und vor allem zeitlichen Logik zu konstruieren und zu verstehen« (1996, S. 153). Daher ist das Konzept für sozialwissenschaftliche Analysen von genereller Bedeutung.
Für die Sozialstrukturanalyse im Besonderen liefert es wichtige Beiträge zum Verständnis der Stabilität und der Reproduktion sozialer Ungleichheiten, indem deutlich wird, dass soziale Strukturierungen über materielle und institutionelle Strukturen hinausgehen und sich auch in inkorporierten mentalen Strukturen (z.B. in habituellen Prägungen) ausdrücken. Während sich materielle Ungleichheiten z.B. über Prozesse der Umverteilung abmildern lassen und institutionelle Ungleichheiten durch ein chancengerechteres Bildungssystem reduziert werden können, erweisen sich die inkorporierten Strukturen als weitaus hartnäckiger.
Literatur
Klassische Texte
Bourdieu, Pierre 1987: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt: Suhrkamp
Bourdieu, Pierre 1992a: Ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, soziales Kapital, in: ders., Die verborgenen Mechanismen der Macht, Hamburg: VSA
Bourdieu, Pierre 1992b: Sozialer Raum und symbolische Macht, in: ders. 1992: Rede und Antwort, Frankfurt: Suhrkamp, S. 135-154
Bourdieu, Pierre 1993: Der sprachliche Markt, in: ders., Soziologische Fragen, Frankfurt: Suhrkamp, S. 115-130
Bourdieu, Pierre/ Loïc J.D. Wacquant 1996: Reflexive Anthropologie, Frankfurt: Suhrkamp
Krais, Beate/ Gunter Gebauer 2002: Habitus, Bielefeld: transcript
Neuere Debatten
Atkinson, Will 2016: Beyond Bourdieu. From Genetic Structuralism to Relational Phenomenology, Cambridge: Polity Press
Atkinson, Will 2021: Fields and individuals. From Bourdieu to Lahire and back again, in: European Journal of Social Theory, 24, 2, S. 195–210
https://doi.org/10.1177/1368431020923281
Hadas, Miklós 2022: Outlines of a theory of plural habitus. Bourdieu revisited, Abingdon, Oxon, New York, NY: Routledge
Jaquet, Chantal 2018: Zwischen den Klassen. Über die Nicht-Reproduktion sozialer Macht, Konstanz: Konstanz University Press
Lahire, Bernard 2011: The Plural Actor, Malden, MA: Polity Press
Thatcher, Jenny/ Ingram, Nicola/ Burke, Ciarán/ Abrahams, Jessie 2016: Bourdieu: The Next Generation. The development of Bourdieu’s intellectual heritage in contemporary UK sociology, London, New York: Routledge
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- Lebensstile bei Bourdieu
- Kapitalien bei Bourdieu
- Klassen und Klassifizierungen bei Bourdieu
- Sozialer Raum