Der französische Soziologe Pierre Bourdieu hat neben seinen empirischen Analysen zum sozialen Raum ein komplexes Theorieprogramm vorgelegt, das sich mit der Frage sozialer Klassen und mit den gesellschaftlichen Praktiken und Institutionen des Klassifizierens befasst. In seinen Arbeiten sind beide Aspekte miteinander verschränkt, hier werden sie nacheinander dargestellt.
Klassen im sozialen Raum
Bourdieu begreift Klassen zum einen im Kontext von Produktionsverhältnissen, indem er sich im Marxschen Sinne für Fragen des Produktionsmittelbesitzes und der Herrschaft interessiert, indem er dann aber auch die Branchen- und Berufsstrukturen und deren historische Veränderungen betrachtet. So analysiert er auf der einen Seite Gruppen wie das Kleinbürgertum und die Bauernschaft, die einen säkularen Bedeutungsverlust (in Bezug auf Größe und soziale Anerkennung) erfahren mussten. Auf der anderen Seite interessieren die in den 1970er Jahren aufsteigenden Berufe (z.B. Kulturvermittler:innen oder Berufe im Kontext des expandierenden Bildungs- und Sozialsystems).
Zum anderen begreift Bourdieu Klassen im Sinne von »kulturellen Produktionsverhältnissen« (1985, S. 31). D.h. die sozioökonomischen Unterschiede sind mit (vielfältigen und latenten) gesellschaftlichen Praktiken des Klassifizierens (z.B. mit subtilen Formen der Ab- oder Aufwertung) verknüpft. So untersucht er im Rahmen seiner Sozialraumanalyse die Doppelstruktur dieses Raumes, den er als einen (sozioökonomischen) Raum der sozialen Positionen und als einen (soziokulturellen) Raum der Lebensstile begreift. Lebensstilen sind für Bourdieu ein »System von klassifizierten und klassifizierenden Praktiken i.e. von Unterscheidungszeichen« (1987, 280).
Vor diesem Hintergrund begreift er Klassen in einem sozioökonomischen, wie in einem soziokulturellen Sinne. So bezeichnet er z.B. die führenden Gruppen in Kulturwesen, Bildung oder Wissenschaft als beherrschte (im sozioökonomischen Sinne) Herrschende (im soziokulturellen Sinne). Grundsätzlich geht Bourdieu davon aus, dass die Verhältnisse der soziokulturellen Herrschaft die Verhältnisse der sozioökonomischen Herrschaft stützen bzw. legitimieren. D.h. die Inhaber von führenden bzw. mächtigen Positionen werden nicht selten als die dafür auserlesenen begriffen, weil sie die ›richtige‹ Bildung, den richtigen Geschmack, das richtige Elternhaus, aber auch das richtige Geschlecht und die richtige ›Hautfarbe‹ haben. Als ein wesentliches verknüpfendes Element zwischen der sozioökonomischen und der soziokulturellen Welt fungiert der Habitus, der durch die Lebensgeschichte der sozialen Positionierungen geprägt ist (strukturierte Struktur) und der dann im Sinne eines Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungs›generators‹ (strukturierende Struktur) die weitere Praxis prägt; das betrifft z.B. bildungs- und erwerbsbezogene Entscheidungen, Orientierungsmuster oder kulturelle Praktiken.
Mit diesem Konzept wird deutlich, dass Sozialstrukturen nicht allein als materielle Strukturen oder als Strukturen von Ressourcen (Kapitalien) zu begreifen sind, sondern auch als kognitive und inkorporierte Strukturen.
Ausgehend von diesen Überlegungen sieht Bourdieu den sozialen Raum durch zwei Dimensionen strukturiert, das Gesamtvolumen des ökonomischen und kulturellen Kapitals bzw. die Relation dieser beiden Kapitalien. Dementsprechend geht er von einer Kreuzstruktur der herrschenden Gruppen aus; Gruppen mit hohem Gesamtkapital, bei denen entweder der ökonomische (z.B. Unternehmer:innen) oder der kulturelle Anteil (z.B. Bildungseliten) überwiegt. In diesem so strukturierten Raum unterscheidet er dann neben den beiden Fraktionen von herrschenden Klassen, Mittelklassen (das alte und neue, wie das exekutive Bürgertum) und schließlich die beherrschten Klassen – diese werden leider wenig konturiert.
Praktiken des Klassifizierens
Ohne die Bedeutung sozioökonomischer Differenzierungen gering zu schätzen, wendet sich Bourdieu in seinen Analysen insbesondere der Frage zu, wie gesellschaftliche Klassifizierungsprozesse funktionieren. Diese Analysen fokussieren auf drei Felder: alltagsweltliche, politische und wissenschaftliche Klassifizierungen.
Alltagsweltliche Klassifizierungen
Während in der Marxschen Perspektive Phänomene des Bewusstseins typischerweise eher als abgeleitete Phänomene verstanden wurden, begreift Bourdieu die sozialen Akteure als Produzenten von (klassifizierten) sozialen und kulturellen Praktiken, die ihrerseits aber auch klassifizierend sein können (1987, S. 728). Dementsprechend müsse »die Gesellschaftstheorie (…) ein ihr voraus liegendes praktisches Wissen von Gesellschaft unterstellen und ihrem Gegenstand integrieren« (Bourdieu 1987, S. 728). So schiebe sich die strukturierende Tätigkeit von Akteuren zwischen die soziale Lage und die beobachtbaren Praxisformen und Vorstellungen (S. 729). Diese strukturierende Tätigkeit sei habituell geprägt. »Als eine Art gesellschaftlicher Orientierungssinn (sense of one’s place), als ein praktisches Vermögen des Umgangs mit sozialen Differenzen, nämlich zu spüren oder zu erahnen, was auf ein bestimmtes Individuum mit einer bestimmten sozialen Position voraussichtlich zukommt und was nicht, und untrennbar damit verbunden, was ihm entspricht und was nicht, lenkt der Geschmack [hier im Sinne von Habitus C.W.] die Individuen mit einer jeweiligen sozialen Stellung sowohl auf die auf ihre Eigenschaften zugeschnittenen sozialen Positionen als auch auf die praktischen Handlungen, Aktivitäten und Güter, die ihnen als Inhaber derartiger Positionen entsprechen, zu ihnen ›passen‹« (S. 728).
Bourdieu geht davon aus, dass diese habitualisierten Klassifikationsschemata auf gewissen grundlegenden Wahrnehmungsmustern basieren. Er erläutert diese an einfachen Gegensatzpaaren wie »hoch (oder erhaben, rein, sublim) und niedrig (schlicht, platt, vulgär), (…) fein (oder verfeinert, raffiniert, elegant, zierlich) und grob (oder dick, derb, roh, brutal, ungeschliffen)« (S. 730). Solche formalen Gegensätze sind »mehr oder weniger diskret auf die fundamentalsten Gegensätze der sozialen Ordnung bezogen« (S. 731). Diese und andere Rangordnungen und Klassifikationssysteme (z.B. Stigmatisierungen) sind in die Sprache eingewoben und werden über Institutionen wie z.B. Familie oder Schule weitergegeben. »Die Klassifikations- und Ordnungssysteme bildeten keine derart hart umkämpften Streitobjekte, trügen sie nicht bei zum Bestand der Klassen, indem sie mittels der entsprechend dem Ordnungssystem strukturierten Vorstellungen die Wirksamkeit der objektiven Mechanismen noch verstärken« (S. 749).
Politische Klassifizierungen
Neben den Klassifizierungsprozessen in der Alltagswelt geht Bourdieu der Thematisierung von Klassen im politischen Raum nach. Er beobachtet im Frankreich der 1970er Jahre die Arbeit von (linken) Parteien und Gewerkschaften, die als Fürsprecher der Arbeiterklasse fungieren und (im Marxschen Sinne) ihre Einheit beschwören; er bezieht sich aber auf die Idealisierung der Arbeiterklasse in vielen Ländern Westeuropas. In diesem Zusammenhang spricht er von einer Arbeitsklasse als ›Wille und Vorstellung‹. Auch wenn diese Beispiele heute eher ›antiquiert‹ erscheinen, werden die dahinterstehenden Analysen zu Mechanismen der Repräsentation und Delegation und zur Rolle von fürsprechenden Organisationen nicht hinfällig. So werden soziale Gruppen (z.B. der Mittelstand, die Unterschicht, einzelne Berufsgruppen, die Armen) oder Personengruppen (z.B. die Frauen, die Migrant:innen, die Geflüchteten) in einem »langwierigen kollektiven Arbeitsprozeß« geschaffen. »Ohne nur reines Kunstprodukt zu sein (…) hat jeder dieser Repräsentationsverbände, die wiederum repräsentierte[n] Körperschaften mit einer bekannten und anerkannten sozialen Identität entstehen lassen« (1985, S. 36). Auch die Kategorisierungen z.B. der amtlichen Statistik und der sozialwissenschaftlichen Analyse fungieren in diesem Sinne. »Jede Aussage, in der ein Kollektiv Subjekt des Satzes ist – Volk, Klasse, Universität, Schule, Staat –, unterstellt die Frage der Existenz dieses Kollektivsubjekts als bereits gelöst (…). Der Wortführer ist jener, der, indem er von und anstelle einer Gruppe spricht, hinterrücks deren Existenz postuliert, der sie kraft der jedem Akt der Benennung innewohnenden Magie instituiert« (1985, S. 40).
Solche Klassifizierungs- und Repräsentationsprozesse sind als ein wesentlicher Teil von Kämpfen im politischen bzw. sozialen Raum zu begreifen. »Inwieweit eine Gruppe im offiziellen Rangsystem vertreten ist oder nicht, hängt weitgehend von ihrer Fähigkeit ab, sich bemerkbar zu machen, sich anerkennen zu lassen, mithin sich, zumeist nach hartem Kampf, einen Platz in der Sozialordnung zu erstreiten« (1987, S. 750). In diesem Sinne lassen sich Bourdieus Konzepte auch heute nutzen, um z.B. im Kontext von sozialen Bewegungen (Frauenbewegung, LGBTIQ-Bewegungen, antirassistische Bewegungen) Kämpfe um Anerkennung zu analysieren.
Wissenschaftliche Klassifizierungen
Schließlich hat sich Bourdieu mit den Prozessen der sozialwissenschaftlichen Klassifizierungen befasst. Im Kontext seiner Klassenanalysen sieht er die Potentiale der wissenschaftlichen Analyse in der Benennung ›theoretischer‹ oder ›wahrscheinlicher Klassen‹. Er versteht darunter ähnliche sozialräumliche Positionierungen, die sich durch ein ähnliches Bündel von Ressourcen, eine ähnliche Geschichte und schließlich auch über ähnliche Muster der Orientierung und Selbstverständigung auszeichnen. Diese theoretischen Klassen sind scharf zu unterscheiden von den ›realen Klassen‹, die sich alltagsweltlich beobachten lassen, und den ›repräsentierten Klassen‹ (1985, S. 40), die im politischen Raum beschworen werden.
Bourdieu hat sich eingehend damit befasst, in welchem Verhältnis diese verschiedenen Praktiken der Klassifizierung stehen. So sei die sozialwissenschaftliche Klassifizierung in mehrfacher Hinsicht gesellschaftlich eingebunden, indem Sozialwissenschaftler:innen zugleich sozialisierte Akteure in einer spezifischen (z.B. geschlechtlichen, ethnischen, weltgesellschaftlichen und sozialen) Position sind, indem die sozialwissenschaftlichen Klassifizierungen oft auf politisch verwandte Klassifizierungen zurückgreifen und indem schließlich die Ergebnisse der wissenschaftlichen Klassifikationsarbeit auch in den politischen Raum zurückfließen. Bourdieu fordert daher, dass sich die sozialwissenschaftlichen Klassifizierer:innen einer ›Sozioanalyse‹ stellen müssen, indem sie diese (biographischen, politischen und zeitgenössischen) Einbindungen reflektieren.
Kommentar
In Darstellungen zur Entwicklung von Klassentheorien wird Bourdieu meist eher der Weberschen Tradition zugerechnet; es werden jedoch auch seine Bezüge auf Marx herausgestrichen. Er ist eigentlich einer der ersten, der eine mehr oder weniger ausgearbeitete Theorie von Klassen vorgelegt hat. Sein Schwerpunkt liegt dabei in der Zusammenführung einer (von ihm nicht weiter vertieften) sozioökonomischen und einer soziokulturellen bzw. sozialanthropologischen Perspektive, die sich für die gesellschaftlichen Praktiken des Klassifizierens interessiert. Er liefert damit wesentliche Erkenntnisse zum Verständnis der Reproduktion und Legitimation von sozialen Ungleichheiten. Man hat es neben den ›sichtbaren‹ ökonomischen und politischen Ungleichheiten eben auch mit inkorporierten und habitualisierten Ungleichheiten zu tun.
Literatur
Bourdieu, Pierre 1985: Sozialer Raum und ›Klassen‹. Leçon sur la leçon, Frankfurt am Main: Suhrkamp
Bourdieu, Pierre 1987: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt am Main: Suhrkamp