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Grundlagen der Sozialstrukturanalyse

Hier geht es um Grundlagen der wissenschaftlichen Sozialstrukturanalyse; dabei sollen vier Fragen geklärt werden:

Sozialstrukturanalysen befassen sich mit der wissenschaftlichen Analyse sozialer Ungleichheiten. Im Fokus steht die Frage, wie sich ungleiche Arbeits- und Lebensbedingungen auf diesem Planeten erklären lassen; dabei spielt für die sozialwissenschaftliche Analyse die Frage nach sozialen Strukturen und strukturbildenden Mechanismen eine wichtige Rolle.

Soziale Ungleichheiten

Soziale Ungleichheiten, d.h. die mitunter extremen Unterschiede in den Lebens- und Arbeitsbedingungen verschiedener Menschen lassen sich im Weltmaßstab, in Europa und anderen Weltregionen oder in Nationalstaaten und Regionen beobachten. Es geht dabei um Unterschiede in den elementaren Voraussetzungen des Überlebens (ausreichende Ernährung, Zugang zu Bildung und gesundheitlicher Versorgung, lebenswerte Umwelten), um Unterschiede materieller Art (z.B. Einkommen und Vermögen), um Unterschiede in den zivilen, politischen und sozialen Rechten (z.B. Menschenrechte, Wahlrecht, soziale Mindestsicherung) oder um Fragen der sozialen Anerkennung (z.B. Schutz vor Verfolgung und Diskriminierung, soziale Wertschätzung).

Von sozialen Ungleichheiten wird in einem nicht wertenden Sinne gesprochen; sie bilden gewissermaßen die kleinste Beobachtungseinheit, die dann zum Gegenstand von Sozialstrukturanalysen wird.

Soziale Strukturen

Es lässt sich beobachten, dass soziale Ungleichheiten gewisse Regelmäßigkeiten aufweisen; diese werden vor allem in einer summarischen Perspektive erkennbar, wenn man z.B. die durchschnittlichen Einkommen in verschiedenen Ländern (oder Weltregionen), die Einkommen von Männern und Frauen oder von höher und weniger Qualifizierten vergleicht. Es geht aber auch um Regelmäßigkeiten der sozialen Wertschätzung einer Bevölkerungsgruppe oder einer geschlechtlich markierten Gruppe. Solche Regelmäßigkeiten oder Muster kann man als soziale Strukturen bezeichnen. Für ein sozialwissenschaftliches Verständnis von Strukturen ist es dann aber bedeutsam, dass man auch zu Aussagen über mögliche Ursachen solcher systematischen Unterschiede kommt.

Der Strukturbegriff sollte also zunächst einmal als Strukturvermutung verstanden werden und es sollte im Plural von Sozialstrukturen gesprochen werden. So wird z.B. nach strukturellen Unterschieden in den Lebens- und Arbeitsbedingungen von verschiedenen Sozialgruppen oder Geschlechtern gefragt und man untersucht mögliche strukturierende Effekte (Strukturierungen) des Bildungssystems oder des Arbeitsmarktes. D.h. in einem wissenschaftlichen Sinne sollte man erst von Strukturen sprechen, wenn man Aussagen über beobachtbare Muster sozialer Ungleichheiten und über mögliche ursächliche Zusammenhänge machen kann.

… Handlungen und Strukturen

Aus der Perspektive von handelnden Individuen oder Körperschaften erscheinen Strukturen als etwas dem eigenen Handeln Vorausgesetztes, kurzfristig nicht Veränderbares; umgekehrt gehen aber auch Strukturen auf vergangenes (und gegenwärtiges) Handeln zurück. Man könnte sie als das geronnene Ergebnis des Handelns Vieler begreifen. D.h., wenn viele Männer und Frauen in der Vergangenheit bestimmte Berufe ergriffen haben und andere nicht, so entstehen darüber Strukturen, die für Jugendliche in der Phase der Berufswahl sowohl ermöglichend wie einschränkend wirken. Wenn sich eine weibliche Jugendliche für den Beruf der Bürokauffrau und ein männlicher Jugendliche für den eines Mechatronikers entscheidet, so tun sie in der Binnen- wie in der Außenperspektive etwas ›Normales‹. Sie können sich aber auch anders entscheiden; vielleicht sind sie dann aber damit  konfrontiert, dass sie diese Entscheidung häufiger zu rechtfertigen haben und auf Personal- und Betriebsstrukturen stoßen, die eher durch das andere Geschlecht geprägt sind. An diesem Beispiel kann man sehr gut darstellen, wie sich Strukturen ›realisieren‹: z.B. in Sprache, Normalitätsvorstellungen und Geschichten, in Gesetzen, Vorschriften und Vereinbarungen, in (sanitären) Baulichkeiten, in Habitus und Konventionen.
Diese Überlegungen zum Verhältnis von Handlung und Struktur korrespondieren mit der Perspektive der sogenannten Praxistheorie.

Sozialstrukturanalysen

In der Soziologie wird unter Sozialstrukturanalyse heutzutage die wissenschaftliche Analyse sozialer Ungleichheiten in dem oben beschriebenen Sinne verstanden. Der Plural im Titel dieser Website ist der Verfügbarkeit von Domainbezeichnungen geschuldet; er kann aber auch als Signal gelesen werden, dass es nicht die eine Sozialstruktur einer Gesellschaft gibt; es sind ganz unterschiedliche strukturierende Faktoren, die in offenen und komplexen Gesellschaften zusammenwirken.

In anderen sozialwissenschaftlichen Disziplinen ist der Begriff Sozialstrukturanalyse weniger gebräuchlich. So lassen sich die Armuts- und Reichtumsforschung oder die Sozialgeschichte durchaus auch als Sozialstrukturanalyse verstehen.

Eine gewisse Irritation entsteht daraus, dass mit Sozialstrukturanalysen oft spezifische konzeptionelle Verengungen verbunden werden: eine eher ökonomisch dominierte Analyse von strukturell unterschiedlichen Großgruppen (z.B. Klassen oder Schichten) in einem nationalstaatlichen Horizont. Auf dieser Website wird ein Verständnis von Sozialstrukturanalyse favorisiert, das mit dieser Tradition in verschiedener Weise bricht:

… ein erweitertes Verständnis von sozialen Ungleichheiten

Soziale Ungleichheiten machen sich nicht nur an der Stellung im Produktionsprozess, an Berufen oder an Einkommen und Vermögen fest: es geht in gleicher Weise um Ungleichheiten im Sinne von kulturellen und sozialen Kapitalien; es geht um Fragen der gesellschaftlichen Anerkennung; es geht um Fragen der Rechte und es geht schließlich um Ungleichheiten in den Erfahrungen eines Individuums oder einer sozialen Gruppe.

… ein intersektionales Verständnis von sozialen Ungleichheiten

Soziale Ungleichheiten hängen auch mit der Etikettierung von Personengruppen zusammen, wenn also Menschen einem bestimmten ›Geschlecht‹ oder einer ›ethnisch-kulturellen Gruppe‹ zugerechnet werden und wenn diese Zurechnungen z.B. bei der Teilung von Arbeit wirksam werden.

… ein erweitertes Verständnis gesellschaftlicher Arbeit

Bei der Analyse von Klassen und Schichten wurde typischer Weise die Stellung im gesellschaftlichen Produktionsprozess oder die berufliche Stellung zum Ausgangspunkt der sozialen Verortung gemacht. Das implizierte, dass weite Teile gesellschaftlicher Arbeit und die dort Arbeitenden unberücksichtigt blieben: unbezahlte Arbeit in den Haushalten, zivilgesellschaftliche Arbeit oder auch Subsistenzarbeit. Mit der Analyse der Gesamtheit gesellschaftlicher Arbeit geraten die Haushalte, die Muster der haushaltlichen Arbeitsteilung (zwischen Geschlechtern und Generationen) und schließlich die damit verbundenen Lebenswege und Erfahrungen in den Blick.

… eine nicht per se strukturelles Verständnis von sozialen Ungleichheiten

Während klassische Ansätze der Sozialstrukturanalyse oft unhinterfragt von der ›Existenz‹ gesellschaftlicher Großgruppen wie z.B. Klassen ausgingen, wird in der hier favorisierten Perspektive auf eine solche Setzung verzichtet. D.h. nicht, dass es in einer Nationalgesellschaft keine Klassen geben kann; es heißt vielmehr, dass in sozialwissenschaftlichen Analysen zu bestimmen ist, wie weit es sinnvoll ist, bestimmte gravierende und verfestigte Unterschiede zwischen sozialen Gruppen als Klassenunterschiede zu bezeichnen.

… eine transnationale Perspektive

Eine transnationale Perspektive impliziert, dass Sozialstrukturanalysen nicht zwingend in einen nationalstaatlichen Rahmen gefasst sind. Es gilt immer wieder zu klären, welche Rolle die Nationalstaaten für das zu untersuchende soziale Phänomen spielen. Insofern ist mit einer transnationalen Perspektive eine erhebliche Ausweitung des möglichen Gegenstandsbereichs von Sozialstrukturanalyse verbunden, indem es um soziale Ungleichheiten in verschiedenen räumlich politischen Horizonten (global, weltregional, national, regional) gehen kann oder indem die Praktiken der grenzsetzenden und regulierenden Nationalstaaten oder die sozialen Praktiken der Grenzüberschreitenden (im Kontext von Migrationen oder von transnationalen Lebensweisen) analysiert werden.

… eine praxeologische Perspektive

Eine praxeologische Perspektive auf Sozialstrukturen impliziert, dass wie oben angedeutet, Sozialstrukturanalyse mehr ist als eine bloße Strukturbehauptung oder die Konstatierung unterscheidbarer sozialer Großgruppen. Es geht in gleichem Maße um die Frage nach den Prozessen und Mechanismen, die solche Strukturen hervorbringen. Dabei kann auf die analytischen Angebote der Praxistheorie zurückgegriffen werden.

Diese Erweiterungen der Perspektive führen zwingend dazu, dass der Gegenstandsbereich von Sozialstrukturanalysen erheblich weiter gedacht werden muss und dass sich Sozialstrukturanalysen in diesem Sinne auch in verschiedene andere Forschungsfelder ›einmischen‹ müssen. Das betrifft z.B. die intersektionale Forschung, die Forschungen zu Haushalten und Familien, die Migrationsforschung oder die postmigrantischen Analysen. Schließlich bedeutet es auch, dass Sozialstrukturanalysen ohne eine historische Perspektive nicht denkbar sind, weil nur so die Genese wichtiger Sozialstrukturen in den Blick geraten kann.

Man kann Sozialstrukturanalysen als eine gewisse Weise der Bilanzierung des Zusammenlebens und Arbeitens auf diesen Planeten begreifen. Die Soziologie fragt dabei nach dem sozialen Output, andere Wissenschaften fragen nach dem wirtschaftlichen Output oder den ökologischen Kosten.

Was macht die Komplexität von Sozialstrukturen aus?

Sozialstrukturen sind ein komplexes Phänomen, weil sie sich in materieller, institutioneller und kognitiver Weise ausdrücken und weil sie von vielfältigen Faktoren beeinflusst werden. Diese wirken zu unterschiedlichen Zeiten und an unterschiedlichen Orten auf der Mikro-, Meso- und Makroebene.

Die Fragen der sozialen Ungleichheit und die Fragen des gesellschaftlichen Umgangs mit sozialen Differenzen gehören zu den eher komplexeren Fragen, denen sich die Sozialwissenschaft stellen muss. Bereits 1754 hatte die Académie de Dijon einen Wettbewerb* ausgeschrieben; die Frage lautete: »Welches ist der Ursprung der Ungleichheit unter den Menschen, und ist sie durch das natürliche Gesetz gerechtfertigt?«. Auch wenn man den normativen bzw. philosophischen Aspekt dieser Frage vernachlässigt und wie hier vorgeschlagen einer praxeologischen Perspektive folgt, muss die Antwort komplex ausfallen.

Diese Komplexität hat zunächst mit dem Phänomen selbst zu tun: Soziale Ungleichheiten drücken sich in materieller (z.B. Einkommen und Vermögen), institutioneller (z.B. Nationalstaaten oder Bildungssysteme) und kognitiver Weise (z.B. diskriminierende Stereotype oder sozial differenzierte Habitus) aus. Soziale Ungleichheiten entstehen über das Zusammenwirken einer Vielzahl von Einflussfaktoren, das Zusammenwirken unterschiedlicher Handlungsebenen (Makro-, Meso-, Mikroebene) und schließlich das Zusammenwirken von unterschiedlichen Raumebenen (global, weltregional, national, regional, lokal) und Zeitebenen (gegenwärtige Ungleichheiten schließen an vergangene an). Diese Überlegungen lassen vermuten, dass es einer ›Welttheorie‹ bedarf, um diese Zusammenhänge klären zu können; man hat jedoch mit der Fokussierung auf Fragen der sozialen Ungleichheit und mit der arbeitsteiligen Sozialwissenschaft durchaus Chancen, Antworten zu entwickeln. Eine Konsequenz aus dieser Überlegungen ist, dass man Sozialstrukturanalysen als eine kumulative wissenschaftliche Unternehmung begreifen sollte.

… Vertiefung

Soziale Ungleichheiten sind als ein komplexes und ein mittelbares Phänomen zu begreifen. Komplex soll heißen: soziale Ungleichheiten entstehen im Zusammenspiel sehr vieler Wirkfaktoren; mittelbar soll heißen: Ungleichheiten entstehen nicht selten als eine Nebenfolge von Handlungen und Entscheidungen.

Soziale Ungleichheiten sind als ein Phänomen zu begreifen, für dessen Verständnis das Wissen ganz unterschiedlicher Sozialwissenschaften herangezogen werden muss: das Wissen der Ökonomie, der Politik, der Soziologie, aber auch der Geschichtswissenschaft.

Soziale Ungleichheiten sind als ein Mehrebenenphänomen zu begreifen. Sie hängen mit Praktiken auf der Makroebene zusammen: Staaten führen Krieg, setzen ungleiche Handels- und Produktionsbeziehungen durch; große Unternehmen monopolisieren Märkte, externalisieren Umweltkosten etc. Auf der Mesoebene sind es politische Organisationen, Interessenverbände oder Parteien, die auf nationaler oder transnationaler Ebene agieren. Auf der Mikroebene sind es einzelne Unternehmen, Individuen und Haushalte, die in einer bestimmten Weise wirtschaften oder versuchen, ›über die Runden‹ zu kommen.

Soziale Ungleichheiten sind als ein ›räumliches‹ Phänomen zu begreifen; damit sind jedoch keine physikalischen oder geographischen  Räume gemeint, sondern Räume, die durch Politiken (z.B. Grenzziehungen oder Bündnisse) , Techniken (z.B. Mobilitäts- und Kommunikationstechniken) oder Wahrnehmungen (z.B. der Vertrautheit, der Exotik oder Fremdheit) entstehen. Wenngleich soziale Ungleichheiten letztlich in einem weltgesellschaftlichen Zusammenhang stehen, werden sie von verschiedenen Akteuren in unterschiedlicher Weise räumlich gerahmt; das kann eine Weltregion, ein Nationalstaat aber auch eine Stadt oder ein Dorf sein. Mit den übergreifenden Produktionsketten und Handelsbeziehungen und ihrer militärischen bzw. politischen Absicherung entstehen dann jedoch letztlich globale Zusammenhänge wirtschaftlicher, sozialer aber auch ökologischer Art.

Soziale Ungleichheiten sind als ein zeitliches Phänomen zu begreifen; d.h. Ungleichheiten, die zu einem bestimmten Zeitpunkt zu beobachten sind, hängen oft mit Entwicklungen und Ereignissen zusammen, die weit zurückliegen; das bezieht sich auf die Geschichte von internationalen Beziehungen und Nationalstaaten, die Geschichte eines Unternehmens oder einer Familie bzw. Person.

Phänomene sozialer Ungleichheit sind grundsätzlich ›unscharf‹: Neben den räumlich, zeitlichen Veränderungen des Phänomens ist es insbesondere der sich stets verändernde Blick auf soziale Ungleichheiten; so z.B. wenn soziale Bewegungen Ungleichheiten immer wieder neu thematisieren und die ›Soziale Frage‹ oder die ›Frauenfrage‹ stellen oder den allgegenwärtigen ›Rassismus‹ anprangern. Soziale Ungleichheiten sind mithin auch ein Ergebnis von Diskursen und Auseinandersetzungen um die Deutungshoheit. Eine Konsequenz dieser Überlegungen ist, dass man neben der Konstatierung spezifischer sozialer Ungleichheiten stets auch der Frage nachgeht, wie diese an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit begriffen worden sind.

Soziale Ungleichheiten werden von recht unterschiedlichen Akteur:innen thematisiert: soziale Bewegungen und die über sie entstandenen Institutionen (z.B. eine Gewerkschaft oder eine Gleichbehandlungsstelle), Wohlfahrtsverbände, Parteien, öffentliche Verwaltungen und schließlich verschiedene Sozialwissenschaften; dazu gehören schließlich internationale Organisationen oder NGO´s. Auch Marktforschungsinstitute interessieren sich (im weiteren Sinne) für Ungleichheiten, wenn sie z.B. verschiedene Gruppen von Käufer:innen oder Wähler:innnen klassifizieren. All dies geschieht medial vermittelt. Die Beschäftigung mit Fragen der sozialen Ungleichheit erfolgt typischerweise interessengeleitet; ein Wohlfahrtsverband, eine politische Partei, ein Ministerium, aber auch die verschiedenen Sozialwissenschaften fokussieren auf ihre (sich wandelnden) Themen und Argumentationen. Das ist ›auch gut so‹; es stellt aber hohe Herausforderungen an den öffentlichen Diskurs, mit dieser Vielfalt von Problemdiagnosen und Handlungsansinnen (und ihrer oft eigensinnigen medialen Aufbereitung) umzugehen. Eine Konsequenz aus dieser Überlegungen ist, dass man empirische Befunde und daraus abgeleitete Argumentation stets auch im Zusammenhang der dort Sprechenden versteht.

Soziale Ungleichheiten sind für jede und jeden erfahrbar. Man möchte sie verstehen und erklären, kritisieren oder rechtfertigen; man möchte vielleicht auch Ungleichheitsverhältnisse reduzieren. Soziale Ungleichheiten sind allgegenwärtig: sie sind materiell erfahrbar; sie drücken sich in baulichen und räumlichen Strukturen aus; sie sind in Regeln und Gesetzen manifestiert; sie zeichnen sich aber auch in den Körpern ab; schließlich finden sie sich auch in den Wahrnehmungsweisen, Geschichten und Diskursen.

Vor diesem Hintergrund ist es eigentlich nur zu verständlich, dass Menschen über die Jahrhunderte ganz unterschiedliche Argumentationen entwickelt haben, die diese Komplexität reduzieren: es finden sich Verschwörungserzählungen; man versucht ›Sündenböcke‹ zu benennen; soziale Ungleichheiten werden ursächlich mit vermeintlichen Besonderheiten von Nationen, Körpern und Kulturen verknüpft etc. Leider waren auch die Sozialwissenschaften (und andere Wissenschaften) vor diesen unkontrollierten Komplexitätsreduktionen nicht gefeit, wenn diese mitunter maßgeblich an der Konstruktion von ›Rassen‹, ›Ethnien‹ oder ›Geschlechtern‹ beteiligt waren.

Kann man Sozialstrukturen anfassen?

Die Frage erinnert an eine berühmte Wendung der britischen Premierministerin Margaret Thatcher im Jahr 1987. Auf ihre rhetorische Frage ›who is society?‹ antwortete sie ›There is no such thing! There are individual men and women and there are families (…)‹. Übertragen auf die Sozialstrukturanalyse sollte man sagen:

Ja, einige Sozialstrukturen kann man anfassen. Einige Sozialstrukturen kann man mit anderen Sinnen wahrnehmen. Einiges entzieht sich aber auch unserer unmittelbaren Wahrnehmung und ist nur über historische wie zeitgenössische Analysen, über statistische Daten und die Methoden der qualitativen Sozialforschung, zugänglich.

Sozialstrukturen stecken

Wie entwickeln und verändern sich Sozialstrukturen?

Grundsätzlich verändern sich Sozialstrukturen mit der Entwicklung der ökonomischen Basis von Gesellschaften und mit ihrer politischen Regulierung. Diese Veränderungen werden dann jedoch dadurch gebrochen, dass Menschen auf diese Entwicklungen reagieren, indem sie ihr Erwerbsleben bzw. ihr privates Leben umgestalten, indem sie sich in sozialen Bewegungen organisieren (und versuchen, auf die Veränderungen Einfluss nehmen) oder indem sie einfach gezwungen sind, auch unter widrigsten Bedingungen zu überleben.

Entwicklung von Sozialstrukturen

Wesentliche Entwicklungsmomente von Sozialstrukturen sind zunächst auf der ökonomischen und der politischen Ebene zu verorten. Im Falle der früh industrialisierten Länder findet man ein enges Zusammenspiel zwischen der wirtschaftlichen Entwicklung (verschiedene Phasen der Industrialisierung) und der Herausbildung und Entwicklung von Nationalstaaten, die wesentliche Infrastrukturen und Regularien bereitstellen. Parallel verändert sich dann aber auch die Lebensweise: Menschen ziehen in die Städte und nutzen in zunehmendem Maße industriell gefertigte Güter und Nahrungsmittel; die Haushaltsstrukturen verändern sich. Mit den komplexen Industriebetrieben und der expandierenden Verwaltung entstehen neue und ausdifferenzierte soziale Hierarchien. Die neuen Formen der außerhäusigen Erwerbsarbeit und die sich verändernde haushaltliche Arbeit werden in einer immer wieder veränderten Weise aufgeteilt: zwischen den Geschlechtern, zwischen den Generationen, zwischen In- und Outsidern. Schließlich sind es die sich entwickelnden National- bzw. Sozialstaaten, die über den Wohnungsbau, das Bildungssystem, die Gesundheitsversorgung, die Systeme der Sozialen Sicherung, die Familienpolitik auf Lebensverläufe und Sozialstrukturen Einfluss nehmen. Dieselben Nationalstaaten sind es aber auch, die Grenzziehungen durchsetzen und Migration regulieren, die Kriege führen, den Handel mit Menschen organisieren oder ›ethnische Säuberungen‹ vornehmen.

Wirtschaftliche bzw. berufliche Interessenverbände nehmen systematisch Einfluss auf die Gestaltung der Rahmenbedingungen des Wirtschaftens und die Verteidigung von Privilegien. Eine wichtige Rolle spielen auch soziale Bewegungen (von ›Arbeiter:innen‹, ›Frauen‹, manchmal auch ›Zugewanderten‹), die (neue) soziale Probleme (z.B. Verarmung, Sexismus, Rassismus) thematisieren und für eine Verbesserung ihrer Rechte bzw. ihrer Arbeits- und Lebenssituation kämpfen. Nicht zu unterschätzen sind aber auch nationalistische und rassistische Bewegungen, die Vorrechte verteidigen und gewaltsam gegen die ›Anderen‹ vorgehen.

Die Forschungen zu den Varieties of Capitalism, zu den Varianten von Wohlfahrtsstaaten zeigen auf, dass diese ökonomischen und politischen Entwicklungen global betrachtet ganz unterschiedlich verlaufen, dass Weltregionen mehr oder weniger in diese Entwicklungen eingebunden sind. Auch die sozialstrukturelle Entwicklung ist neben der unterschiedlichen Prosperität der Nationalstaaten auch davon abhängig, wie sich Gesellschaften institutionell organisieren, wie die Arbeit geteilt wird, in welchem Maße die Nationalstaaten regulierend in die Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums (oder der Armut) eingreifen. Darüber bilden sich unterschiedliche Arbeits- und Beschäftigungsordnungen, Geschlechterordnungen oder Migrationsregime heraus.

All dies macht einerseits deutlich, dass sich Sozialstrukturen eher hinter dem Rücken der Akteur:innen einstellen; kein Nationalstaat, kein globaler Konzern aber auch keine soziale Bewegung oder Partei kann sie direkt beeinflussen. Anderseits zeigen die großen Unterschiede zwischen den Nationalstaaten (z.B. bei der materiellen Lage, den Rechten oder den Sicherheiten), die Verheerungen des Kolonialismus und der Gewaltherrschaften des 20. und 21. Jahrhunderts, dass Sozialstrukturen durchaus beeinflussbar und veränderbar sind.

Sozialwissenschaften und Politik

Die Beschäftigung mit Sozialstrukturen war historisch stets mit Prozessen des oft rapiden sozialen Wandels verknüpft. Nicht zufällig entsteht die Soziologie im Kontext der weitreichenden Industrialisierungs- und Verstädterungsprozesse im späten 19. Jahrhundert. Häufig wurden diese Analysen dann auch genutzt, um Wege der Veränderung von Sozialstrukturen aufzuzeigen; in der Sprache der Zeit wurden ›Reformen‹ oder gar ›Revolutionen‹ gefordert. Auch eine ausschließlich wissenschaftlich orientierte (eher unpolitische) Sozialstrukturanalyse muss sich dieser politischen Einbettungen ihres Gegenstands bewusst sein.

Grundsätzlich gilt es, Sozialwissenschaften und Politik ›sauber‹ zu trennen. So könnte man sich eine idealtypische Sozialwissenschaft vorstellen, die versucht, Phänomene der sozialen Ungleichheit zu beschreiben, zu analysieren und zu erklären, die Möglichkeiten der politischen Intervention diskutiert und die Effekte solcher Interventionen beobachtet. Man könnte sich dann einen politischen Diskurs vorstellen, in dem die Befunde solcher Analysen diskutiert und bewertet werden, in dem Argumentationen und Strategien entwickelt werden und in dem schließlich politische Entscheidungen über Interventionen und Regulierungen getroffen werden.

Die Grenzen dieser Idealtypik werden schnell deutlich: Sozialwissenschaften sind grundsätzlich autonom; sie sind aber historisch nicht selten mit den sich entwickelnden Nationalstaaten verknüpft, sie sind auf die öffentliche Finanzierung von Lehre und Forschung angewiesen, ihre Arbeit wird evaluiert. Die Sozialwissenschaftler:innen sind oftmals in den Gesellschaften sozialisiert, die sie analysieren. Die sozialwissenschaftlichen Disziplinen, Hochschulen und wissenschaftliche Einrichtungen stehen in Konkurrenzbeziehungen etc.
Umgekehrt ist der politische Diskurs zunehmend verwissenschaftlicht; nicht wenige Politiker:innen und Angehörige der politischen Administrationen sind im weiteren Sinne sozialwissenschaftlich ausgebildet; auch die Standards der Begründung von Politiken haben sich verändert. Schließlich wird das je aktuelle Verständnis von sozialen Ungleichheiten – die drängenden ›sozialen Probleme‹ (einer bestimmten Zeit und eines bestimmten Ortes) – erst im politischen Raum definiert und ausgehandelt.

Trotz allem ist die Trennung von Wissenschaft und Politik eine wichtige Voraussetzung wissenschaftlicher Arbeit; wissenschaftliche Unabhängigkeit kann neben formalen Bedingungen nur über einen langwierigen und stets neuen Reflexionsprozess der eigenen wissenschaftlichen Arbeit und der Sozioanalyse der Wissenschaftler:innen selbst erreicht werden. Ein wesentliches Charakteristikum von wissenschaftlicher Analyse ist es, dass sie handlungsentlastet erfolgen kann. Sie kann und muss sich den im politischen wie im alltäglichen Leben undenkbaren Luxus leisten, Dinge interesselos zu beobachten und sich der Positionierung zu enthalten; d.h. nicht, dass sie nicht angesichts ihrer zumeist öffentlichen Finanzierung immer auch in der Pflicht steht, einen Beitrag zur Gestaltung des gesellschaftlichen Zusammenlebens zu leisten.

Sind Sozialstrukturen veränderbar?

Wenn man die Frage wörtlich nimmt, sollte sie verneint werden. Das liegt daran, dass Sozialstrukturen ein eher abgeleitetes Phänomen sind, das wie angedeutet aus dem Zusammenspiel sehr vieler Wirkfaktoren entsteht. D.h. man kann Sozialstrukturen nicht als solche zielgerichtet verändern, man kann aber bestimmte Faktoren verändern und die Hoffnung haben, dass sich das auch auf Sozialstrukturen auswirkt. Zu einer ähnlichen Antwort kommt man, wenn man sich die Geschichte der DDR (oder anderer ›Gesellschaftsversuche‹) anschaut; hier wurde mit dem Ziel einer ›klassenlosen Gesellschaft‹ oder des ›Aufbaus des Sozialismus‹ immer wieder massiv und in vielfältiger Weise in Sozialstrukturen eingegriffen, indem man nach und nach viele Formen der selbstständigen Tätigkeit unterbunden hat, indem man den Zugang zum Bildungssystem und zu Berufen massiv gesteuert hat oder indem man auf die Entlohnung Einfluss genommen hat. Das hatte eine ökonomische, soziale und auch ökologische Katastrophe zur Folge.

Zu einer anderen Antwort kommt man, wenn man sich verdeutlicht, mit welcher Geschwindigkeit sich Gesellschaften im Kontext des mal langsamen mal abrupten politischen und wirtschaftlichen Wandels immer auch sozialstrukturell verändern. D.h. Sozialstrukturen sind beständig in Bewegung; die Vorstellung, dass eine Nicht-Intervention zu stabilen Sozialstrukturen führt, ist nicht tragbar; Sozialstrukturen lassen sich nicht festschreiben.

Vor diesem Hintergrund ist zu sagen, wir sind dazu verdammt, Regulierungen und sozialpolitische Interventionen immer wieder neu an sich verändernde Rahmenbedingungen anzupassen und wir sollten dabei immer auch eine Reduktion von sozialen Ungleichheiten ins Auge fassen. Man muss sich aber auch verdeutlichen, dass offene und liberale Gesellschaften immer auch Gesellschaften mit einer nicht geringen sozialen Ungleichheit sind. Das impliziert, dass die verschiedenen oben benannten Momente sozialer Ungleichheit auch in Wechselverhältnissen stehen. So hat in Deutschland die Bildungsexpansion, der Rückgang geschlechtsspezifischer Bildungsungleichheiten, die wachsende Erwerbsbeteiligung von Frauen und die Vielfalt von Haushaltsmodellen mit großer Wahrscheinlichkeit zu einem Mehr an Einkommensungleichheit beigetragen: Gut ausgebildete Mehrernährer:innenhaushalte (vielleicht sogar ohne Kinder) stehen Haushalten gegenüber, wo männliche oder weibliche Alleinernährer:innen mit einer Teilzeitstelle vorlieb nehmen müssen.

Anmerkungen

* Einer der Beitragenden war Jean-Jacques Rousseau.

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