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Das Konzept des sozialen Raums ist insbesondere durch die Analysen Pierre Bourdieus präziser gefasst worden. So verwendete dieser das Konzept, um das Zusammenspiel von sozialen Positionierungen und Lebensstilen in der französischen Gesellschaft zu analysieren.

Konzept des Sozialen Raums

Formal betrachtet weist der Soziale Raum bei Bourdieu (1987) drei Dimensionen auf:

Diese Dimensionen gehen gleichermaßen auf die Analyse empirischer Daten wie auf theoretische Überlegungen zurück. In diesem Raum wurden auf der einen Seite verschiedene Berufsgruppen verortet (Raum der Positionen: schwarze Einträge); zum anderen wurden markante Charakteristika des Lebensstils (der Konsumgewohnheiten, der geschmacklichen Präferenzen, der Einstellungen) dargestellt (Raum der Lebensstile: rote Einträge). Die Darstellung geht auf Angaben für das Frankreich der frühen 1970er Jahre zurück.


Eigene Darstellung nach Bourdieu (1998, S. 19). Auf die dort eingezeichnete Trennlinie im Wahlverhalten (links-rechts) wurde verzichtet.

Bourdieu begreift den sozialen Raum zum einen als einen Verhältnisraum, in dem sich soziale Gruppen (Klassen) voneinander abgrenzen oder einander zurechnen. Zum anderen spricht er von einem dynamischen Raum, in dem sich diese Verhältnisse auch immer wieder verändern (z.B. durch schwindende oder neu entstehende Berufsfelder oder Veränderungen der sozialen Wertschätzung).

Ein wesentliches Moment seiner Argumentation liegt auf der Beobachtung der Homologie (der gleichen Gestalt) des Raums der sozialen Positionen (schwarz) und des Raums der Lebensstile (rot). D.h. spezifische soziale Lagen gehen auch mit bestimmten Lebensstilen, Wahrnehmungs- und Entscheidungsmustern einher. Die Homologie beider Räume impliziert dann auch den für die Stabilität von Ungleichheitsverhältnissen wichtigen Effekt, dass die sozioökonomisch Besser- bzw. Schlechtergestellten eben auch als ›Andere‹ erscheinen. Damit werden sozioökonomische Unterschiede naturalisiert bzw. kulturalisiert; so ließe sich eine lange Liste der immer auch wertenden Begrifflichkeiten erstellen, mit denen die da oben und die da unten verknüpft werden.

Datenbasis

Die in Frankreich erstmals 1979 veröffentlichte Studie Bourdieus (in der deutschen Fassung: Die feinen Unterschiede) geht auf umfangreiche qualitative und quantitative Studien der französischen Gesellschaft zurück.

Für die Analyse der standardisierten Daten wurden neben Verfahren der deskriptiven Statistik vor allem Verfahren der Korrespondenzanalyse verwendet, mit denen sich auch komplexe tabellarische Daten visualisieren lassen. Die Darstellung des sozialen Raums in den ›Feinen Unterschieden‹ sowie die hier wiedergegebene vereinfachte sozialräumliche Darstellung lehnt sich an die Struktur solcher Korrespondenzanalysen an, geht aber selbst nicht auf eine solche zurück.*

Kommentar

Die sozialräumlichen Analysen Bourdieus mögen auf den ersten Blick vielleicht ›veraltet‹ erscheinen, aber sie haben bis heute nichts von ihrer seinerzeit bahnbrechenden Bedeutung eingebüßt. Auch wenn sich die sozioökonomischen Positionierungen wie die distinguierenden Lebensstile erheblich verändert haben, haben die zentralen Erkenntnisse der sozialräumlichen Studien Bestand: die ökonomisch-kulturellen Grundstrukturen des sozialen Raums und die Homologie von sozialer Positionierung und Lebensstil (im Bourdieuschen Sinne).**

Andere Beobachtungen z.B. zur Bedeutung einer herrschenden Hochkultur, zu den Wegen des Wissenserwerbs, zu den Dispositionen ›untergehender‹ Berufsgruppen, zur Verknüpfung  von sozialen und politischen Positionierungen sind im Lichte zeitgenössischer Daten zu prüfen; dennoch können auch sie heute noch inspirierend sein.

Bourdieus Darstellung des Sozialen Raums wird nicht selten missverstanden. Zwar erhebt er den Anspruch, den sozialen Raum Frankreichs ›abzubilden‹; das zeigt sich auch daran, dass dem ökonomischen Kapital in der Darstellung eine zentrale Bedeutung zukommt. Der Fokus seiner Analysen liegt dann aber auf dem Zusammenspiel von sozialen Positionen (Branchen und Berufen) und kulturellen Positionierungen (Lebensstilen). Nicht umsonst wurde für die deutsche Fassung der Titel ›Die Feinen Unterschiede‹ gewählt. Das verweist eben darauf, dass man sich auch eine Studie über die ›Groben Unterschiede‹ vorstellen kann.

Anmerkungen

* Vgl. dazu die Anmerkung Bourdieus: »Bei den vorgelegten Schemata handelt es sich nicht um Flächendiagramme von Korrespondenzanalysen – trotz gewisser Ähnlichkeiten und ungeachtet der Tatsache, daß verschiedene Korrespondenzanalysen zu deren Konstruktion herangezogen wurden, schließlich auch ungeachtet der Tatsache, daß zahlreiche Korrespondenzanalysen zu Räumen mit gleicher Organisationsstruktur geführt haben (…)« (1987, S. 214, Fußnote).

** Darauf hatte Bourdieu bereits in seinem Vorwort zu der 1982 erschienenen deutschen Auflage verwiesen: »Das hier vorgelegte Modell der Wechselbeziehungen zweier Räume – dem der ökonomisch-sozialen Bedingungen und dem der Lebensstile, das sich dem Bemühen verdankt, den Weberschen Gegensatz von Klasse und Stand neu zu überdenken, scheint mir über den partikularen Fall hinaus Geltung zu besitzen, und zwar für alle geschichteten Gesellschaften, selbst wenn das System der Unterscheidungsmerkmale, durch die sich soziale Unterschiede äußern oder verraten, ein je nach Epoche und Gesellschaft anderes ist« (1987, S. 11 f).

Literatur

Bourdieu, Pierre 1979: La distinction. Critique sociale du jugement, Paris: Les éditions de minuit

Bourdieu, Pierre 1985: Sozialer Raum und ›Klassen‹. Leçon sur la leçon, Frankfurt am Main: Suhrkamp

Bourdieu, Pierre 1987: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt am Main: Suhrkamp

Bourdieu, Pierre 1998: Praktische Vernunft. Zur Theorie des Handelns, Frankfurt am Main: Suhrkamp