sozialstrukturanalysen.de

Sozialstrukturanalysen und Sozialpolitiken

Hier soll aufgezeigt werden, welche praktischen Erträge die auf diesen Seiten zu findenden analytischen Anstrengungen haben. Es geht also um die Frage, was bringt das für ›unsere‹ Debatten, wie gesellschaftliches Zusammenleben entwickelt und verändert werden sollte.

Wissenschaftliche Sozialstrukturanalysen in dem hier verstandenen Sinne sollten auch einen Beitrag zu den Debatten über die Moderierung von sozialen Ungleichheiten liefern. Typischerweise wird die Aufgabe einer Moderierung sozialer Ungleichheiten als ein zentrales Thema der Sozialpolitik begriffen. Der sozialpolitische Diskurs zeichnet sich jedoch nicht nur in Deutschland durch einen ausgesprochenen Strukturkonservatismus aus. Einem 2019 erschienenen Handbuch, das für sich einen »mittleren bis weiten« Sozialpolitikbegriff in Anspruch nimmt, folgend umfasst Sozialpolitik »die sozialen Sicherungssysteme ebenso wie die sozialpolitische Regulierung der Arbeitswelt, Bildung und soziale Investitionen und die sozialpolitische Instrumentalisierung der Steuerpolitik« (Obinger/ Schmidt 2019, S. 3). In Deutschland wäre es sicherlich sinnvoll, auch die Wohnungspolitik der Sozialpolitik zuzurechnen. Neben der Debatte, ob das Verständnis von Sozialpolitik nicht um einzelne Politikfelder zu erweitern seien, gibt es zwei weitaus grundsätzlichere Problematisierungen der klassischen Diskurse um Sozialpolitik:

Der hier entwickelte Ansatz der Sozialstrukturanalyse bietet gute Möglichkeiten, ›Sozialpolitiken‹ in einer intersektionalen und einer transnationalen Perspektive neu zu denken.

Grundsätzliche Überlegungen

(Sozial)politische Schlussfolgerungen lassen sich nicht einfach aus wissenschaftlichen Analysen ableiten; hier einige Überlegungen, warum sich das etwas komplizierter gestaltet.

Bevor ein solches erweitertes Verständnis von Sozialpolitik entwickelt wird, ist es sinnvoll, einige grundsätzliche Überlegungen anzustellen, welchen Beitrag sozialwissenschaftliche Analysen für die Diskurse und Praktiken der Sozialpolitik liefern können.

Reformulierung von Sozialpolitiken im 21. Jahrhundert

Die Debatten um soziale Ungleichheiten und Sozialpolitik sind stets Kinder ihrer Zeit. Die soziale Welt verändert sich und gleichermaßen verändert sich die Art und Weise, was als ›Problem‹ gesehen und was als ›angemessene Anwort oder Lösung‹ gedacht wird. Hier einige Überlegungen zu den Schlüsselproblemen von Sozialpolitiken des 21. Jahrhunderts.

Die Geschichte der Sozialpolitik war in Deutschland aber auch in vielen vergleichbaren Ländern eng mit der sozialen Frage des 19. Jahrhunderts verknüpft. Die Einhegung des industriellen Konflikts und vor allem die Reduzierung der mit der industriellen Produktions- und verstädterten Lebensweise verbundenen Risiken wurden zum Kern der Entwicklung von Sozialpolitiken. Diese wurden wiederum zu einem wichtigen Merkmal der entstehenden und sich formierenden National- bzw. Sozialstaaten. »Der Nationalstaat zog die Grenzen, innerhalb derer den Staatsbürgern Verpflichtungen zu solidarischem Handeln zugemutet wurden, und umgekehrt trug die räumliche und soziale Begrenzung von Solidaritätspflichten zur Einigung der Nationen und zur Legitimation des Solidarprinzips bei. Nach außen ging es bei den Pflichten der Bürger um die Sicherung des Überlebens der Nation in einem auf Gewalt gegründeten internationalen System mit Hilfe einer allgemeinen Wehrpflicht (…). Nach innen ging es um die gemeinsame Absicherung der ungleich verteilten Risiken von Alter, Krankheit und Arbeitslosigkeit« (Beckert u.a. 2004, S. 11). Mit dem Ausbau der Sozialstaaten in der Phase der Nachkriegsprosperität und dem Ausbau des Bildungssystems kommt es zu einem wesentlichen Bedeutungsgewinn und zu einer weiteren Institutionalisierung der Sozialpolitik, deren Grundmuster jedoch durch die Konstellation der Gründungsphase geprägt sind. Es sind Sozialpolitiken, die insbesondere in Deutschland in erheblichem Maße auf langen Phasen der meist männlichen Erwerbsarbeit aufbauen. Im Fokus stehen dabei die typischen Risiken von männlichen Lebenswegen.  Mit der Entwicklung der Sozialpolitik sind ganz spezifische Gerechtigkeitsvorstellungen, spezifische Politiken und Infrastrukturen und schließlich spezifische Organisationen (Interessenverbände von abhängig Beschäftigten und Unternehmer:innen, Wohlfahrtsverbände etc.) entstanden, die in komplexe Wechselwirkungen mit den klassischen Erbringern sozialer Leistungen (Kommunen, Kirchen und Familien) treten.

Dieses über einen sehr langen Zeitraum entwickelte System der Sozialpolitik gerät aus verschiedensten Gründen seit den 1980er Jahren unter Veränderungsdruck. Aus der Sicht der Sozialstrukturanalyse sollten insbesondere zwei Debattenstränge hervorgehoben werden.

Reformulierung von ›Sozialpolitik‹ in intersektionaler Perspektive

Aus der Perspektive der Geschlechterforschung werden die oben bereits angesprochenen Schieflagen der Sozialpolitik recht deutlich erkennbar. Auch wenn die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung von Produktions- und Reproduktionsarbeit an Rigidität verloren hat und die Familienmodelle sich pluralisiert haben, sind mit der in Deutschland vorherrschenden Verteilung von Erwerbsarbeit (breadwinner) und Haushalts- bzw. Sorgearbeit (care) noch immer sehr unterschiedliche Lebensverlaufsrisiken verbunden. Nach wie vor lassen sich die Spuren des einst rigiden jetzt flexibilisierten Genderregimes – »ein Set an Normen und Werten, Politiken und Gesetzen sowie sozialen Praktiken (…), die in einem gegebenen politischen und gesellschaftlichen Kontext das Verhältnis der Geschlechter beeinflussen« (Gottschall 2019, S. 476) – beobachten. Neben den Mustern geschlechtsspezifischer Arbeitsteilung stellen sich aber auch Probleme der Diskriminierung, der sozialen Schließung oder es offenbaren sich die Spätfolgen des differenzorientierten Geschlechterregimes, wenn es um Fragen der Berufswahl oder der Berufskarriere geht. Somit werden Antidiskriminierungs- und Gleichstellungspolitik zu Sozialpolitiken; das gilt aber auch für Politiken, die Gewalt im häuslichen bzw. im sozialen Nahbereich zurückdrängen sollen.

Mit einem solcher geschlechtersensiblen geraten dann in Migrationsgesellschaften sehr schnell auch jene Ungleichheiten in den Blick, die mit Prozessen der Migration und der so genannten ›Integration‹ – besser der allseitigen Teilhabe – zusammenhängen. Ein Blick auf die Armutsquote von Menschen mit einem Migrationshintergrund verweist darauf, in welch hohem Maße Sozialpolitik  auch Integrationspolitik und wiederum Antidiskriminierungs- und Gleichstellungspolitik sein muss.

Der fortbestehende Sexismus und Rassismus macht deutlich, dass Sozialpolitik mehr ist als die Organisation und Erbringung von unterstützenden Leistungen in sozialen Notlagen; es geht genauso um die Herstellung von Chancengleichheit, um gleiche Verwirklichungschancen, um das Recht auf Anerkennung und um den Schutz der physischen und psychischen Unversehrtheit.

Reformulierung von ›Sozialpolitik‹ in transnationaler Perspektive

Mit dem Verweis auf notwendige Erweiterungen des Verständnisses von Sozialpolitik in Migrationsgesellschaften hängt noch eine sehr viel grundsätzlichere Problematisierung von nationaler Sozialpolitik zusammen. So verweist Christoph Conrad (2006, S. 437) daraufhin, dass der Sozialstaat so etwas wie eine letzte »Bastion des Nationalen« sei.

Auch diese Bastion gerät in verschiedener Perspektive unter Druck; zum einen sind es die Prozesse der Europäisierung, die mit den Entwicklungen der Europäischen Union einhergehen; zum anderen sind es Migrationsbewegungen und die damit zusammenhängenden weltweiten Ungleichheiten, die im Kontext verschiedener Debatten (um Kolonialismus und Postkolonialismus, um Globalisierungsrisiken oder um globalen Klimawandel und Artenschutz) den Blick auf die jahrhundertalten Praktiken der Externalisierung von Problemlagen richten – Stephan Lessenich (2016) hatte gar von einer Externalisierungsgesellschaft gesprochen.

Die Migrationspolitik (bzw. die vielfältigen Politiken der Migrationsverhinderung), oder die Handelspolitik z.B. der Europäischen Union sind immer auch Weltsozialpolitik. Es ist im Sinne des Komplexitätsmanagements sicherlich sinnvoll, Sozialpolitiken im Kontext der (noch immer bedeutsamen) Nationalstaaten zu konzipieren; dennoch verweist die im Kontext einer Aschermittwochsrede eines konservativen Innenpolitikers gefallene Wendung »Wir sind nicht das Sozialamt für die ganze Welt« auf die Begründungsprobleme nationaler bzw. transnationaler Sozialpolitiken.

Claus Offe (2004, S. 46ff) machte (noch vor der Finanz-, Klimakrise und der Coronapandemie) deutlich, dass es ganz unterschiedliche Kontexte sind, in denen supranationale Solidarleistungen beobachtbar sind: wenn spezifische Bindungen (z.B. Ethnizität, Nationalität, Religion, Klassenzugehörigkeit) zwischen den Leistenden und den Empfänger:innen bestehen, wenn es plötzlich eingetretene Notlagen geht (z.B. Katastrophen, Kriege, Pandemien, wenn es historische Verknüpfungen (z.B. durch den Holocaust oder durch koloniale  Beziehungen) gibt oder wenn man intertemporale Tauschbeziehungen erwartet (z.B. im Kontext der Demokratieförderung oder der europäischen Integration).

Felder einer erweiterten Sozialpolitik   

Implizit wurden jetzt schon vielerlei Hinweise gegeben, was eine so erweitere Sozialpolitik umfassen könnte; zudem sei daran erinnert, dass die spezifische Ausgestaltung von Sozialpolitiken jenseits des Horizonts der sozialwissenschaftlichen Analyse liegt. Man kann dabei zum einen an Sozialpolitiken im Sinne von Regularien denken, die den Möglichkeitsraum sozialer Positionen abstecken; zum anderen sind es Politiken, die Menschen handlungsfähig machen, um vorhandene Möglichkeiten – Amartya Sen (2000) hatte von Verwirklichungschancen gesprochen – wahrzunehmen; eine scharfe Abgrenzung ist nicht immer möglich.

Regulierung von politischen und ökonomischen Ungleichheiten (Möglichkeitsraum)

Zunächst geht es um die Regulierung von internationalen Beziehungen auf politischer bzw. ökonomischer Ebene; das impliziert (internationale) politische und militärische Beziehungen,  Handelsbeziehungen, aber auch die Regulierung von Migrationsbewegungen. Zudem geht es um die Regulierung der nationalen Möglichkeitsräume; das impliziert z.B. die klassische Sozialpolitik, die Bildungspolitik, Gesundheitspolitik, Steuerpolitik, die Wohnungspolitik; aber eben auch die Migrations- und Integrationspolitik oder die Gleichstellungs- und Antidiskriminierungspolitik.

Verbesserung der Verwirklichungschancen/ Empowerment

Im Sinne der Verbesserung der Verwirklichungschancen bzw. des Empowerment geht es um all jene Faktoren, die Menschen handlungsfähig und widerständig machen. Auf der individuellen Ebene sind das Ernährung, physische wie psychische Gesundheit, Bildung und Information oder soziale Unterstützungsangebote. Auf sozialer Ebene geht es um Antidiskriminierungspolitiken, um die Verhinderung sozialer Schließung oder um Systeme der sozialen Sicherung. Auf der politischen Ebene sind die Durchsetzung von Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechten und Teilhaberechten (auf politischer und wirtschaftlicher Ebene) ein wichtiges Thema.

Literatur