Die von Max Weber vorgelegten Konzepte zur Analyse von Sozialstrukturen zeichnen sich durch ein Nebeneinander von eher ökonomischen und eher soziokulturellen Argumentationen aus. Wie bei Marx hat man es nicht mit einer zusammenhängenden Theorie sozialer Strukturierung zu tun; man ist darauf verwiesen, verschiedene Puzzlestücke zusammenzufügen. Auch Weber hat sich bevorzugt mit dem neuen Phänomen ›Kapitalismus‹ befasst; er verfolgt dabei aber immer auch die Frage, welche Rahmenbedingungen die Herausbildung des Kapitalismus ermöglicht haben und wie die kapitalistisch geprägten Marktklassen mit den ständisch geprägten Formen sozialer Organisation verschränkt sind.
Klassen
Klassen werden bei Weber als Gruppen in einer ähnlichen Klassenlage begriffen; die Klassenlage begreift er als die »typische Chance 1. der Güterversorgung, 2. der äußeren Lebensstellung, 3. des inneren Lebensschicksals (…), welche aus Maß und Art der Verfügungsgewalt (oder des Fehlens solcher) über Güter oder Leistungsqualifikationen und aus der gegebenen Art ihrer Verwertbarkeit (…) folgt« (1972 [1922], S. 177).
Max Weber unterscheidet Besitz- und Erwerbsklassen auf der einen und soziale Klassen auf der anderen Seite.
Besitzklassen
Besitzklassen sind Klassen, in denen Besitzunterschiede eine zentrale Rolle spielen. So unterscheidet er positiv und negativ privilegierte sowie mittlere Klassen.
Im Marxschen Sinne verweist Weber dann auch auf mögliche Klassengegensätze, z.B. zwischen Gläubigern (Patriziern in der Stadt) und Verschuldeten (Bauern auf dem Land).
Erwerbsklassen
In den Erwerbsklassen bildet die Erwerbsarbeit die zentrale Grundlage der Existenz; die Abgrenzung ist nicht immer leicht, wie am Beispiel der oben erwähnten mittleren Besitzklassen deutlich wird.
Soziale Klassen
Im Gegensatz zu den eher formal abgegrenzten Besitz- und Erwerbsklassen entstehen soziale Klassen über soziale Praktiken. Es sind lebenspraktische Gruppen, die sich über typische Prozesse des Aufstiegs- oder Abstiegs nahestehen (Mobilität in der Generationenfolge) oder Gruppen, aus denen man Partnerinnen wählt (Konnubium) oder mit denen man nachbarschaftlich zusammenlebt (Kommensalität). Als soziale Klasse begreift Weber:
- »die Arbeiterschaft als Ganzes, je automatisierter der Arbeitsprozess wird,
- das Kleinbürgertum und
- die besitzlose Intelligenz und Fachgeschultheit (Techniker, kommerzielle und andere ›Angestellte‹, das Beamtentum, untereinander eventuell sozial sehr geschieden, je nach den Schulungskosten),
- die Klassen der Besitzenden und durch Bildung Privilegierten« (S. 179).
Auch hier nimmt Weber die aus dem Marxschen Kontext stammende Frage nach den Möglichkeiten eines vergesellschafteten Klassenhandelns auf. Dies sei »am leichtesten zu schaffen a) gegen den unmittelbaren Interessengegner (Arbeiter gegen Unternehmer … ), b) nur bei typisch massenhaft ähnlicher Klassenlage, c) bei technischer Möglichkeit leichter Zusammenfassung … (Werkstattgemeinschaft)« (S. 179). Diese Zitate verdeutlichen auch, in welchem Maße die bei Marx wie bei Weber zu findenden Analysen von ›Klassengegensätzen‹ und wahrscheinlichem ›Klassenhandeln‹ den zeitspezifischen politischen Diskursen geschuldet sind.
Zusammenwirken von Klassen und Ständen
Stände sind nach Max Weber Gruppen, die sich durch eine ständische Sonderschätzung oder Sondermonopole auszeichnen. Er unterscheidet Lebensführungs- bzw. Berufsstände, Geburtsstände und politische bzw. priesterliche Stände. Die ständische Lage beruhe auf einer positiven oder negativen sozialen Wertschätzung und begründe sich in der Lebensführungsart, in der Erziehungsweise oder im Abstammungs- bzw. Berufsprestige.
Grundsätzlich begreift auch Weber Stände und Klassen im Sinne einer historischen Ordnung. Er geht jedoch davon aus, dass beide Ordnungen weitaus stärker miteinander verschränkt sind, dass also ständische Ordnungen auch in einer eher nach Klassen geordneten Gesellschaft weiterleben. So z.B., indem sich Berufsgruppen wie Stände organisieren, indem ständische Bewertungssysteme (z.B. von angesehenen und weniger angesehenen Berufen) fortleben oder indem sich privilegierte Klassen an ständischen Formen der Lebensführung (z.B. des Adels) orientieren.
Von einer ständischen Gesellschaft spricht Weber, wenn die ständischen Ordnungsmomente überwiegen; dementsprechend gilt für Klassengesellschaften, dass hier die Klassen das zentrale Ordnungsprinzip darstellen. Anstelle einer qua Geburt organisierten Ordnung (Geburtsstände) tritt eine durch Märkte strukturierte Ordnung (Marktklassen). Webers Vorstellungen der Verschränkung von ständischen und klassenmäßigen Ordnungen werden deutlich, wenn er die Beziehungen von Klassen und Ständen erläutert. »Dem ›Stand‹ steht von den ›Klassen‹ die ›soziale‹ Klasse am nächsten, die ›Erwerbsklasse‹ am fernsten. Stände werden oft ihrem Schwerpunkt nach durch Besitzklassen gebildet« (S. 180).
Lepsius (2016, S. 5) hebt hervor, Webers Begriffe seien »auf die Erfassung von Prozessen gerichtet, nicht auf die Beschreibung von Kollektiven, denen womöglich ein spezifischer Eigenwert zugeschrieben werden könnte. (…) Klassen beruhen auf der ungleichen Verteilung von Verfügungsmacht über Güter und – wie wir heute hinzufügen würden – Dienstleistungen, Stände auf der ungleichen Verteilung von Prestige. (…) Wie diese Ungleichheiten zu Vergesellschaftungsformen führen, ist historisch variabel, beruht auf den jeweiligen Konstellationen der Organisation von Interessen, der Schließung von ständischen Grenzen, der Machtverteilung und politischen Führung von Klassenorganisationen und ständischen Gruppierungen« (S. 6).
In historischer Perspektive nutzt Kocka (1979) die von Weber vorgeschlagene Begrifflichkeit, um die Feinstrukturen des Übergangs von ständischen zu klassenorientierten Ordnungen zu analysieren.
Erweiterungen
Sinnvolle Erweiterungen des Weberschen Konzepts finden sich zunächst bei Lepsius (1979), der die Rolle von Sozialstaaten für die Konstitution von Klassen analysiert. Er führt den Begriff der Versorgungsklasse (S.179) ein und bezieht sich auf Unterschiede in sozialpolitischen Transfereinkommen (z.B. durch die spezifischen Erwerbsbiographien von Frauen und Männern oder durch unterschiedliche Versorgungssysteme für Beamte und Rentenversicherte), wie auf Unterschiede des Zugangs zu öffentlichen Gütern und Dienstleistungen (z.B. in der Bildung oder der politischen Repräsentation) .
Indem Lessenich (2019, S. 100f) auch die Zugehörigkeit zu Nationalstaaten (qua Staatsbürgerschaft) im Sinne von Klassen begreift, spricht er von Staatsbürgerklassen.
Kommentar
Die von Weber vorgeschlagenen Konzepte bieten auch heute noch ein wertvolles Instrumentarium, um die ökonomisch soziale bzw. die materiell kognitive Doppelnatur von sozialen Gruppen zu analysieren. Sie sind auf der einen Seite als Gruppen zu begreifen, die sich durch ökonomisch bedingte Positionierungen (qua Besitz oder Erwerb) auszeichnen, die sich dann auch in ökonomischen oder kulturellen Ressourcen (z.B. Einkommen und Vermögen, aber auch Bildung) ausdrücken. Sie sind auf der anderen Seite als Gruppen zu verstehen, die über soziale Praktiken (z.B. Auf- und Abstiege, soziale Kontakte) und Anerkennungsverhältnisse (z.B. Wertschätzung oder Diskriminierung) charakterisiert sind.
Literatur
Kocka, Jürgen 1979: Stand – Klasse – Organisation. Strukturen sozialer Ungleichheit in Deutschland vom späten 18. bis zum frühen 20. Jahrhundert im Aufriß, in: H.-U. Wehler (Hrsg.), Klassen in der europäischen Sozialgeschichte. Göttingen: Vandenhoeck, S. 137-165.
Lepsius, M. Rainer 1979: Soziale Ungleichheit und Klassenstrukturen in der Bundesrepublik Deutschland, in: Hans Ulrich Wehler (Hrsg.), Klassen in der europäischen Sozialgeschichte. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, S. 166-209.
Lepsius, M. Rainer 2016: Max Weber und seine Kreise. Essays, Tübingen: Mohr Siebeck
Müller, Hans-Peter/ Sigmund, Steffen 2020: Max Weber-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Berlin: Metzler
Weber, Max 1972 [1922]: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie, Tübingen: Mohr