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Das im Wesentlichen von John Goldthorpe und Robert Erikson entwickelte EGP-Modell (das P geht auf Lucien Portocarero zurück) wird verschiedentlich als neo-weberianisches Klassenmodell (Breen 2005) bezeichnet.

Abb.: Eigene Darstellung nach Goldthorpe (2007, S. 60), Übersetzung modifiziert

Das Modell zeichnet sich zunächst gegenüber dem Marxschen wie dem Weberschen Ansatz dadurch aus, dass Eigentumsverhältnisse nicht länger als primäre Instanz der Gruppierung begriffen werden. Für die soziale Verortung von Erwerbsgruppen spielen daneben zum einen die für eine Tätigkeit erforderlichen Qualifikationen (Spezifität des Humankapitals) eine Rolle. Zum anderen geht es um den Komplexitätsgrad dieser Tätigkeiten (indiziert durch die Schwierigkeit der Überwachung): so sei es bei einfachen Produktionstätigkeiten oder der Erbringung einfacher Dienstleistungen relativ leicht zu ermitteln, welche Arbeitsleistungen erbracht wurden; demgegenüber gestaltet sich dies bei planenden, leitenden oder forschenden Arbeiten weitaus schwieriger. Diese beiden Unterscheidungsmomente spiegeln sich auch im Typ des Beschäftigungsverhältnisses wieder: so finden sich im einen Extrem klassische Arbeitsverträge, in denen bestimmte prüfbare Leistungen vereinbart werden; auf der anderen Seite finden sich mehr oder weniger explizite Dienstverhältnisse, wie z.B. bei Beschäftigten im gehobenen öffentlichen Dienst. Entlang dieser Ordnung werden schließlich sieben Grundtypen von EGP-Klassen ausgemacht:

In der folgenden Darstellung kann die Entwicklung der EGP-Klassen in (West-)Deutschland verfolgt werden. Das sozioökonomische Panel ermöglicht erste verlässliche Aussage für das Jahr 1984; zu diesem Zeitpunkt hat der Transformationsprozess der Industriegesellschaft bereits eingesetzt; es sind aber auch noch manche Grundstrukturen der klassischen Phase erkennbar.

 1985* (%)1995 (%)2005 (%)2015 (%)2018 (%)
I Obere Dienstklasse9,810,810,713,213,8
II Untere Dienstklasse18,419,221,225,725,6
IVa Kleine Selbst. mit Mitarbeitern4,54,01,81,61,5
IVb Soloselbstständige2,92,42,5
IVc Selbst.Landwirte1,10,80,50,30,4
IIIa Routinedienstleistg.: Verwaltung11,613,412,913,213,2
IIIb Routinedienstleistg.: Handel u. Service13,012,713,513,012,9
VI Facharbeiter24,522,018,013,813,5
VIIa Un- und angelernte Arbeiter16,016,017,215,315,4
VIIb Landarbeiter1,01,31,41,41,3
Tab.: Eigene Berechnung mit Daten des SOEP V35 – * nur Westdeutschland

So liegt der Anteil der industriellen bzw. gewerblicher Arbeiter:innen noch bei mehr als 40%. Er geht dann nach und nach auf unter 30% zurück. Auch der Anteil der kleinen Selbständigen ist rückläufig. Relativ stabil bleiben die Routinedienstleistungen. Ein deutliches Wachstum zeigt sich in den Berufen der unteren und oberen Dienstklasse.

Kommentar

Die dem EGP-Modell zugrundeliegende Idee, neben den Eigentumsverhältnissen auch qualifikatorische Differenzen und Unterschiede in den Beschäftigungsverhältnissen abzubilden, erscheint sinnvoll.  Umgekehrt wird jedoch das Festhalten an den Konzepten der ›Arbeiterschaft‹ bzw. der ›Dienstleistenden‹ den sozialen Verschiebungen in einer transformierten (z.B. technisierten und informatisierten) Industriegesellschaft nicht gerechnet. So erweisen sich die anwachsenden Gruppen der beiden Dienstklassen, die 2018 fast 40% ausmachen, als ausgesprochen heterogen. Eine verbesserte Klassifizierung kann mit dem Modell von Oesch erreicht werden.

Zudem läßt das Konzept wie alle anderen ausschließlich an der Erwerbsarbeit orientierten Konzepte die zunehmend bedeutsamen Lebensphasen vor (Sozialisation, Schule, Ausbildung) und nach der Erwerbsarbeit (verschiedene Formen des gesicherten oder weniger gesicherten Ruhestands) außer Acht; gleiches gilt für Phasen längerer Erwerbslosigkeit. Auch die in manchen Ländern hohen Teilzeitquoten können mit diesem Modell nicht angemessen erfasst werden; sie führen sogar zu einer gewissen Verzerrung der Anteilswerte der Gruppen, da nicht die Arbeitsvolumina, sondern nur die Beschäftigtenzahlen zugrunde gelegt werden.

Literatur

Erikson, Robert/ John H. Goldthorpe 1992: The Constant Flux. A Study of Class Mobility in Industrial Societies, Oxford: Clarendon

Goldthorpe, John H. 1968: The Affluent worker, London: Cambridge University Press

Goldthorpe, John H. 2007: Soziale Klassen und die Differenzierung von Arbeitsverträgen, in: Gerd Nollmann, Sozialstruktur und Gesellschaftsanalyse. Sozialwissenschaftliche Forschung zwischen Daten, Methoden und Begriffen, Wiesbaden: VS Verlag, S. 39–71