Karl Marx hat sich im Rahmen seiner gesellschaftlichen wie seiner politischen Analysen in ganz unterschiedlicher Weise mit der Bedeutung von Klassen befasst. Das Marx oftmals zugeschriebene ökonomische bzw. dichotome Verständnis (Bourgeoisie vs. Proletariat) betrifft jedoch nur einen Teil seiner Analysen; zudem sind seine politischen bzw. theoretischen Überlegungen in ihrer Einbettung in die Diskurse des 19. Jahrhunderts zu begreifen.
Im Rahmen seiner Geschichtsphilosophie versuchte der frühe Marx, wie viele andere Analytiker seiner Zeit, allgemeine Gesetzmäßigkeiten der historischen Entwicklung auszumachen. So schlägt er vor, die historische Entwicklung als eine Geschichte von Klassenkämpfen zu begreifen, die in verschiedenen Gesellschaftsformationen eine je eigene Struktur haben. Als treibendes Moment begreift er die Entwicklung der Produktivkräfte, die dann im Kontext verschiedener Produktions- bzw. Eigentumsverhältnisse eingesetzt werden. Mit diesen Produktionsverhältnissen gehen schließlich bestimmte Klassenkonstellationen und -konflikte einher. Solche Konflikte begreift er im Zusammenspiel mit sich verändernden Produktivkräften als ein wesentliches Moment gesellschaftlicher Entwicklung; dies wird in politischen Schriften zu der Formel ›Geschichte als Geschichte von Klassenkämpfen‹ (vgl. Marx 1848) verdichtet.
In seinen zeitgenössischen Analysen liefert Marx ausgesprochen differenzierte Untersuchungen z.B. der damaligen französischen Gesellschaft (vgl. Marx 1977). So unterscheidet er verschiedenste Gruppen des Bürgertums, der Finanzaristokratie und des Landadels, der kleinen Bourgeoisie und schließlich der Arbeiterschaft. In England begreift er »Klasse als ein rein soziales Problem« und wendet sich gegen den englischen Radikalismus (Stedman Jones 2017, S. 586). Stedman Jones macht aber auch auf die Schwächen dieser Analysen aufmerksam; so habe Marx der Entwicklung der englischen Wirtschaft viel Aufmerksamkeit geschenkt, habe aber »den sich ändernden Charakter des Staates und des politischen Systems« (S. 587) kaum wahrgenommen.
In den politischen Analysen der sozialen Konflikte seiner Zeit geht es um die Frage, wie die neu entstandenen Organisationen der Arbeiterschaft agieren sollten und welche Potentiale der Mobilisierung sich bieten. In diesem Zusammenhang findet sich die Prognose bzw. die Hoffnung, dass sich die Arbeiterklasse von einer ›Klasse an sich‹, zu einer ›Klasse für sich‹ entwickeln möge. Als ›Klasse an sich‹ bezeichnet er in einem deskriptiven Sinne, die Lohnarbeiterschaft, die sich durch bestimmte Arbeits- und Lebensbedingungen und Abhängigkeitsverhältnisse auszeichnet. Die ›Klasse für sich‹ steht für eine Klasse, die sich ihrer sozialen und politischen Lage bewusst wird, sich organisiert und politisch handelt.
In seinen politökonomischen Studien wollte Marx eine zusammenhängende Theorie der Klassen entwickeln, das konnte nicht realisiert werden. In den vorliegenden Arbeiten zur Kritik der politischen Ökonomie kommt er (im Sinne einer Prognose) zu der Einschätzung, dass die weitere Entwicklung des Kapitalismus durch das weitgehende Verschwinden vorkapitalistischer Produktionsweisen, durch Prozesse der Konzentration und durch Prozesse der Verelendung gekennzeichnet sei. Damit gehe schließlich eine soziale und politische Polarisierung einher, indem sich Bourgeoisie und Proletariat als antagonistische Kräfte (im Sinne eines Interessengegensatzes) gegenüberstehen.
Kommentar
Die Marxschen Analysen zur Bedeutung von sozialen Klassen sind zunächst im Kontext des 19. Jahrhunderts zu begreifen. Seine Analysen haben aber auch die sozialwissenschaftlichen und politischen Diskurse des 20. Jahrhunderts beeinflusst; eine wissenschaftliche Sozialstrukturanalyse des 21. Jahrhunderts muss um diese Geschichte wissen.
Einige grundlegende Überlegungen (z.B. zu Grundprinzipien des Kapitalismus, zur gesellschaftlichen Bedeutung von Wirtschaft und Arbeit, zur Lohnabhängigkeit) können auch heutige Sozialstrukturanalysen inspirieren. Das betrifft aber eher die von Marx aufgeworfenen Fragen; die Antworten müssen mit dem theoretischen und empirischen Repertoire der heutigen Sozialwissenschaften gewonnen werden.
Literatur
Marx, Karl 1848: Manifest der Kommunistischen Partei (digitalisierte Ausgabe): Deutsches Textarchiv
Marx, Karl 1977: Die Klassenkämpfe in Frankreich 1848 bis 1850, in: Karl Marx/ Friedrich Engels, Werke Band 10, Artikel, Entwürfe Juli 1849 bis Juni 1851, Berlin, Boston: Akademie Verlag, S. 119-196
Quante, Michael/ Schweikard, David P. (Hrsg.) 2015: Marx-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart: Metzler/ Poeschel
Stedman Jones, Gareth 2017: Karl Marx. Die Biographie, Frankfurt am Main: S. Fischer