Eric Olin Wright hat sich in seinen theoretischen und empirischen Analysen immer wieder mit Klassenanalysen befasst. Wenn man die von ihm favorisierten Modelle in der Abfolge betrachtet, werden einerseits wissenschaftliche Lernprozesse deutlich, zu denen sich Wright auch verschiedentlich ›bekannt‹ hat; andererseits drückt sich in diesen Modellen auch die Entwicklungen der wissenschaftlichen Diskurse der Sozialstrukturanalyse aus. Bei genauerer Lektüre seiner Texte wird deutlich, dass die im Folgenden gegeneinander abgegrenzten Ansätze eher Ausdruck eines allmählichen kognitiven Entwicklungsprozesses sind.
Neo-marxistische Klassenanalyse
Eric Olin Wright bezeichnet das zunächst von ihm vorgelegte Modell als eine neo-marxistische* Klassenanalyse. Sie zeichnet sich gegenüber der Marxschen Prognose dadurch aus, dass sowohl die Polarisierungs- wie die Konzentrationsthese schwächer gefasst wird. In der vertikalen Dimension wird dies deutlich, indem er die polarisierte Struktur von Bourgeoisie und Proletariat durch zwei Gruppen ergänzt: die aus dem Proletariat aufgestiegene oder aus der handwerklichen Produktion übergewechselte Gruppe der Vorarbeiter:innen und die mit der Ausdifferenzierung von Eigentum und Leitung entstehende Gruppe der Manager:innen.
In der Horizontalen werden Gruppen bzw. Betriebsformen erkennbar, die entgegen der Konzentrationsthese auch in fortgeschrittenen industriellen und postindustriellen Gesellschaften zu finden sind. Das ist zum einen die Kleinbourgeoisie, zumeist der alte Mittelstand; das sind aber auch kleinere Unternehmen, die in vielfältigen Wechselbeziehungen mit der großbetrieblichen Produktion stehen und das sind schließlich teilautonome Beschäftigte, die sich über spezifische (formal selbständige) Beschäftigungsverhältnisse gegenüber der Lohnarbeitskonstellation abheben.
Strukturale Klassenanalyse
In seiner 1997 erstmals vorgelegten vergleichenden Studie class counts arbeitet Wright mit einem Klassenschema, in dem vier zentrale Momente der Differenzierung von Klassenpositionen zusammengefasst sind:
- Im Sinne von Marx unterscheidet er entlang der Stellung zu den Produktionsmitteln Produktionsmittelbesitzende und abhängig Beschäftigte.
- Die Produktionsmittelbesitzenden werden nach der Betriebsgröße weiter differenziert.
- Die abhängig Beschäftigten werden zum einen nach ihrer Stellung in der betrieblichen Hierarchie (relationship to authority) unterschieden.
- Zum anderen erfolgt eine Unterscheidung verschiedener Qualifikationsniveaus (skills and expertise).
Wright begreift eine solche Analyse von Klassenstrukturen als ein wichtiges Element eines umfassenderen Programms der Klassenanalyse: er untersucht in der Studie demnach auch Prozesse der Organisierung von Klassen (class formation), die Kämpfe um Klasseninteressen (class struggle) und die Fragen des Selbstverständnisses bzw. der Gewahrwerdung von Interessen bei den abhängig Beschäftigten (class consciousness).
Schließlich befasst er sich in der Studie ausführlich mit dem Verhältnis von Klasse und Geschlecht, indem er verschiedene Konzepte der Relation von class und gender diskutiert, indem er die Frage von Klassenanalysen auf der Basis von Individuen bzw. von Haushalten reflektiert, indem er die geschlechtsspezifische Teilung häuslicher Arbeit untersucht und indem er der Positionierung von weiblichen Arbeitskräften in betrieblichen Hierarchien nachgeht. In seinen empirischen Analysen werden auch intersektionale Ungleichheitskonstellationen untersucht.
Klassenanalyse als ›pragmatischer Realismus‹
In einem 2009 erschienenen Aufsatz understanding class widmet sich Wright insbesondere der bereits in früheren Arbeiten verfolgten Frage, wie sich verschiedene theoretische Ansätze der Klassenanalyse zusammenführen lassen – er plädiert dabei für einen »›pragmatischen Realismus‹« (2023, S. 9). Wright unterscheidet:
- Ansätze, die im Sinne von stratifikatorischen Analysen Klassen als ein Ensemble individueller Attribute begreifen. »Klasse bezeichnet diejenigen wirtschaftlich wichtigen Eigenschaften von Menschen, die ihre Möglichkeiten und Entscheidungen in einer Marktwirtschaft und damit ihre materiellen Lebensbedingungen bestimmen. Klasse sollte weder einfach mit den individuellen Eigenschaften noch mit den materiellen Lebensbedingungen der Menschen identifiziert werden, sondern mit den Verbindungen zwischen beiden« (S. 12f). So diskutiert er Analysen, die Klassen über Bildung und Einkommen oder über ökonomischen, kulturelle und soziale Kapitalien (im Sinne Bourdieus) abgrenzen. Der Fokus dieser Ansätze liege auf der Analyse von Sortingprozessen in bestehende soziale Positionen; für die Frage der Genese dieser Positionen müssen weitere Ansätze hinzugezogen werden.
- Ansätze der Weberianischen Klassenanalyse, die sich mit dem Problem der Chancenhortung befassen – er bezieht sich hier auf Tillys (1999) Mechanismus des opportunity hoarding. Ausgehend von Weber analysiert er Prozesse der sozialen Schließung, z.B. von Berufen, wenn diese an bestimmte (aufwendig zu erwerbende) Bildungstitel gebunden sind; er verweist aber auch auf Schließungsprozesse, die mit den Nationalstaaten verknüpft sind, wenn z.B. das Staatbürgerschaftsrecht als Lizenz des Zugangs zu spezifischen Arbeitsmärkten fungiert. Schließlich weist er daraufhin, dass der wichtigste Schließungseffekt auf das Privateigentum zurückgehe.
- Ansätze einer an Marx orientierten Klassenanalyse. Diese ermöglichen es schließlich, Klassen im Sinne von Ausbeutungs- und Herrschaftsverhältnissen zu verstehen; das impliziere immer auch ein moralisches Urteil (Wright 2023, S. 23). Diese Verhältnisse gehen mit Kontrollbeziehungen einher: »›Herrschaft‹ bezieht sich auf die Fähigkeit, die Aktivitäten anderer zu kontrollieren, ›Ausbeutung‹ bezieht sich auf die Erlangung von wirtschaftlichem Nutzen aus der Arbeitstätigkeit der Beherrschten. Jede Ausbeutung setzt also eine Art von Herrschaft voraus, aber nicht jede Herrschaft ist mit Ausbeutung verbunden« (S. 24).
In einem Tableau vergleicht Wright die Art der Verknüpfung von Ungleichheitsmerkmalen im Kontext der verschiedenen Ansätze.
Ansätze der Klassenanalyse | ökonomische Bedingungen | ökonomische Aktivitäten |
Individuelle Attribute | Nichtrelational | Nichtrelational |
Chancenhortung | Relational | Nichtrelational |
Herrschaft/ Ausbeutung | Relational | Relational |
So könne der Webersche Ansatz zwar die ökonomischen Bedingungen analysieren, die zu der Differenzierung von Produktionsmittelbesitz und abhängiger Arbeit führen; er sei aber nicht in der Lage, die ökonomische Aktivität der Ausbeutung zu erfassen. Dies sei erst mit den Marxschen Konzepten möglich.
Für eine Integration dieser drei Ansätze verdichtet er diese, indem er jeweils einen Schlüsselprozess identifiziert:
- Die auf Herrschafts- und Ausbeutungsbeziehungen fokussierten Ansätze erklären grundlegende Klassenspaltungen in den kapitalistischen Ökonomien
- Mechanismen der Chancenhortung werden wirksam, wenn zwischen den Arbeitsplätzen der Mittelklasse und denen der Arbeiterklasse verschiedenste Barrieren entstehen.
- »Die Mechanismen der individuellen Eigenschaften und Lebensbedingungen identifizieren eine Reihe von Prozessen, durch die Individuen in Positionen in der Klassenstruktur einsortiert oder von diesen Positionen gänzlich ausgeschlossen werden« (S. 29).
Die ersten beiden Mechanismen liefern mithin Erklärungen für die Genese sozialer Positionen (Verweis auf Rankingprozesse); der letzte Mechanismus erhellt Prozesse des Sorting von Personen. Länderspezifische Ungleichheiten in den Klassenstrukturen entstehen dann über die unterschiedliche Weise, in der diese Mechanismen zusammenwirken (vgl. S. 30).
Die verschiedenen Ungleichheitsmechanismen, bzw. die damit verbundenen theoretischen Konzepte werden schließlich in einem (stark vereinfachten) dynamischen Modell zusammengeführt; dabei wird berücksichtigt, dass die durch »durch die sozialen Beziehungen hervorgerufenen Kämpfe zur Veränderungen der Beziehungen selbst beitragen« (S. 32).
Die Wirtschaftssysteme bzw. Regulierungsmechanismen verschiedener Länder unterscheiden sich, »wie weitreichend die Rechte und Befugnisse sind, die mit dem Privateigentum an Produktionsmitteln einhergehen, und somit in der Art der Klassenspaltung zwischen Kapitalisten und Arbeitern« (S. 33).
Kommentar
Das erste von Wright vorgeschlagene Modell kann als eine sinnvolle Ausdifferenzierung der bei Marx angelegten Analysen begriffen werden. Er bleibt jedoch auf halben Wege stehen, indem er sowohl die Bourgeoisie wie das Proletariat nicht weiter differenziert. So finden sich vor allem im ›Proletariat‹ ausgesprochene Qualifikationsunterschiede, die sich in der Entlohnung, in der beruflichen Sicherheit, im Organisationsverhalten und schließlich im Fortbestand bzw. im Schwinden der Teilgruppen angesichts der grundlegenden Transformationsprozesse der industriellen Produktion niederschlagen.
In dem zweiten Modell werden weitere Differenzierungen eingeführt; somit können wichtige Entwicklungsprozesse in der Beschäftigungsstruktur von Industriegesellschaften präziser dargestellt werden. Dennoch stellen sich eine Reihe von Problemen:
- Die Beschäftigung im öffentlichen Sektor, z.B. beim Staat, bei den Gebietskörperschaften oder bei subsidiären Akteuren bleibt unberücksichtigt. Das ist angesichts einer Staatsquote von etwa 50% (2022) in den EU-28-Ländern nicht unproblematisch.
- Die sich rapide verändernden Branchenstrukturen in den sich transformierenden und digitalisierenden Industriegesellschaften bleiben unberücksichtigt.
- Mit der Fokussierung auf das privatwirtschaftlich organisierte Segment der gesellschaftlichen Produktion bleiben die wichtige Sphäre der gesellschaftlichen Reproduktion (zumeist in den privaten Haushalten), wichtige soziale Gruppen (z.B. Jugendliche, Ältere, Nichterwerbspersonen) und schließlich wichtige Lebensphasen vor (Sozialisation, Schule, Ausbildung), während (Phasen der Haus- und Sorgearbeit) und nach der Erwerbsarbeit (verschiedene Formen des gesicherten oder weniger gesicherten Ruhestands) aus der Analyse ausgeklammert.
Das dritte Modell hier vorgestellte Modell fokussiert neben der Rekonstruktion von Klassenstrukturen vor allem auf die Unterscheidung von ungleichheitsgenerierenden Mechanismen und knüpft damit an aktuelle Debatten der Ungleichheitsforschung an. Die vorgeschlagene Lesart, die auf Marx bzw. Weber zurückgehenden Argumentationen als Beiträge zu einer Theorie der Genese und Veränderung sozialer Positionen zu lesen und die stratifikatorische Perspektive als Analyse von Sortingprozessen zu begreifen, erscheint fruchtbar und weist Bezüge zu der auf Granovetter und Tilly (1988) zurückgehenden Unterscheidung von Ranking– und Sortingprozessen auf.
Die trotz aller klugen und kreativen Erweiterungen noch immer enge Bindung an die Marxsche Orthodoxie (vgl. das 2015 geführte Interview in Wright 2023, S. 43ff) verschließt aber einen erweiterten Blick auf soziale Ungleichheiten, der die Debatten um globale bzw. transnationale Ungleichheiten, um intersektionale Ungleichheiten und um komplexe Migrationsprozesse aufnimmt. Die von Wright herausgestellte Bedeutung von Herrschafts- und Ausbeutungsverhältnissen muss im Kontext globaler Ungleichheitsverhältnisse und komplexer Finanzialisierungsprozesse neu gedacht und von politisch moralischen Implikation gelöst werden.
Anmerkungen
* Bei Tarrit (2021) heißt es: »Wright’s Marxism is a sociologised Marxism, as the expression of a neo-Weberian logic of social stratification«.
Literatur
Breen, Richard 2005: Foundations Of A Neo-Weberian Class Analysis, in: Erik Olin Wright (Hrsg.), Approaches to Class Analysis, Cambridge: Cambridge University Press
Granovetter, Mark/ Charles Tilly 1988: Inequality and Labor Processes, in: Neil Smelser (ed.), Handbook of Sociology, Newbury Park CA: Sage Publications, S. 175–222
Tarrit, Fabien 2021: Erik Olin Wright (1947-2019). Classes and utopia, Cescontexto, hal-03373566
Tilly, Charles 1999: Durable Inequality, Berkeley, Los Angeles, London: University of California Press
Weil, Robert 1995: Contradictory Class Definitions: Petty Bourgeoisie and the ›Classes‹ of Erik Olin Wright, in: Critical Sociology, Volume 21, Issue 3
Wright, Erik Olin/ Cynthia Costello/ David Hachen/ Joey Sprague 1982: The American Class Structure, in: American Sociological Review, Vol. 47, No. 6, S. 709–726
Wright, Erik Olin 2000 [1997]: Class Counts. Comparative Studies in Class Analysis. Student Edition, Cambridge: Cambridge University Press
Wright, Erik Olin 2009: Understanding Class. Towards an Integrated Analytical Approach, in: New Left Review, 60, S. 101-116
Deutsche Übersetzung in Wright (2023)
Wright, Erik Olin 2015: Understanding Class, London: Verso
Wright, Erik Olin 2023: Warum Klasse zählt, Berlin: Suhrkamp