Der sogenannte Bielefelder Ansatz der Sozialgeschichte hat im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts wichtige Beiträge zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte erbracht. Neben den vielfältigen Arbeiten Jürgen Kockas ist vor allem die fünfbändige Deutsche Gesellschaftsgeschichte Hans-Ulrich Wehlers hervorzuheben. Die folgende Darstellung bezieht sich nur auf den letzten Band dieser Gesellschaftsgeschichte, der die Entwicklungen der west- und ostdeutschen Nachkriegsgesellschaften bis 1990 rekonstruiert.
Hans-Ulrich Wehler begreift Klassen zum einen in einem eher objektiven Sinne als durch sozioökonomische Faktoren abgegrenzte soziale Gruppen mit unterschiedlichen Machtpotentialen; zum anderen geht er der subjektiven Formierung von Klassen nach, in dem er z.B. nach individuellen Dispositionen und Einstellung fragt, »die sich von der objektivierbaren Lage durchaus unterscheiden« (Wehler 2008, S. 209). In diesem Sinne interessieren Klassen als Gruppen, die sich durch kulturell vermittelte Lebensweisen und Deutungsmuster (im Sinne von Weber bzw. Bourdieu) unterscheiden.
Klassenstrukturen in der Bundesrepublik
Für die Bundesrepublik befasst sich seine Darstellung (S. 108 ff) mit den Eliten, dem Adel, dem Bürgertum (Dienstklassen bzw. alter und neuer Mittelstand), der Arbeiterschaft, den Bauern und den Armen. Seine Analyse der sozialstrukturellen Entwicklungen in der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft resümiert er wie folgt: »Im Sinne dieser doppelten Konstituierung von Wirklichkeit gibt es weiterhin in der Bundesrepublik die unübersehbare Sozialhierarchie zum einen der marktbedingten Klassen, zum andern der Erbschaft sozialstruktureller Traditionen aus vergangenen Epochen. Gleichzeitig wird ihre Wahrnehmung im Vergleich mit der früher üblichen Konfrontation von Klassen nur noch in sehr abgeschwächter Form registriert, wenn nicht sogar öfters ganz ausgeblendet. Das ist ein politisch willkommener Wandel mit tiefgreifenden Folgen. Doch er besagt noch nichts über die objektiv konstatierbaren Disparitäten in all ihren unterschiedlichen Dimensionen« (ebd.). Dieses Resümee zur sozialstrukturellen Entwicklung in Westdeutschland stützt sich auf folgende Argumentationen (vgl. S. 210 ff):
- In der Bundesrepublik habe sich eine Marktklassengesellschaft durchgesetzt, in der die Positionierung an den Arbeitsmärkten eine wichtige Rolle für die vertikale soziale Verortung spielt.
- Zwar sei die Klassenbegrifflichkeit aus dem öffentlichen und dem politischen Raum verschwunden; sie lebe aber im Alltagsleben durchaus fort.
- Die grobkörnigen Klassendifferenzen seien in den letzten Jahrzehnten zunehmend durch ›feine Unterschiede‹ – ein Term Bourdieus, der die sozial stabilisierenden Effekte von Distinktionen z.B. in gruppenspezifischen Lebensstilen und Anschauungsweisen beschreibt – überlagert worden.
- Die Einkommens- und Vermögensunterschiede und die damit verbundenen Macht- und Herrschaftsdifferentiale seien weiterhin sehr ausgeprägt.
- Trotz der Bildungsexpansion und der beobachtbaren Auf- und Abstiegsmobilität seien weiterhin deutliche Effekte der Vererbung sozialer Ungleichheiten und der sozialen Schließung (so z.B. an den Partnerschaftsmärkten, aber auch in manchen Berufsfeldern) beobachtbar.
- Ein entfesseltes Leistungs- und Konkurrenzdenken habe die gesamte Geschichte der Bundesrepublik, vor allem die ersten Generationen, geprägt.
- Das Anwachsen der Mittelklassen geht damit einher, dass sich diese als kleine Besitz- und Erwerbsklassen bzw. als akademisch Qualifizierte scharf von den darunter stehenden Klassen abgrenzen.
Vor diesem Hintergrund sei es »ganz und gar irreführend, von einem Abschied von den Klassen zu sprechen. Vielmehr hat sich eine dynamische Sozialstruktur herausgebildet, die pluralistischere Züge als zuvor trägt, im Kern aber aus den marktbedingten Klassen der deutschen Marktgesellschaft und den ererbten Charakterzügen der sozialstrukturellen und -kulturellen Vergangenheit besteht. Jede Hoffnung auf eine egalitäre Nivellierung oder gar Aufhebung der Sozialen Ungleichheit erscheint als trügerische Fata Morgana« (S. 215).
Kommentar
Dem Resümee Wehlers kann man zunächst durchaus zustimmen; man sollte sich aber auch die blinden Flecken seiner Perspektive vor Augen führen. Ihm gelingt es, vor allem im letzten Band seiner umfangreichen Gesellschaftsgeschichte nur bedingt, die doch fundamentalen Veränderungen dieser Gesellschaft angemessen in den Blick zu bekommen.
- Zum ersten ist anzumerken, dass die über mindestens zwei Jahrhunderte reichende Klassengeschichte durchaus wohlbegründet ist und überzeugen kann. Man muss sich jedoch vergegenwärtigen, dass diese über lange Phasen durchgehaltene Klassenerzählung eben auch ein recht überschaubares Strukturierungsmittel ist, mit dem Trends und Stabilitäten gut dargestellt werden können. Ob diese Klassengeschichte die sozialstrukturellen Entwicklungen im Westdeutschland der Nachkriegsphase angemessen darstellen kann, bleibt zu klären.
- Das betrifft zum zweiten die Geschichte der Geschlechterverhältnisse. So ist der erwerbsorientierte Blick auf die positionierenden Effekte der männlichen Erwerbsarbeit noch immer dominant. Die gravierenden Veränderungen, die sich aus der Bildungsbeteiligung und der wachsenden Erwerbstätigkeit von Frauen für die Unternehmen, den Sozialstaat und die privaten Haushalte ergeben, geraten nicht systematisch in den Blick.
- Zum dritten ist anzumerken, dass die systematischen Veränderungen der Bundesrepublik in Richtung einer Migrationsgesellschaft nur bedingt in ihrer Bedeutung für die Sozialstrukturanalyse aufgenommen werden.
- Schließlich ist auf die großen Veränderungen der Branchenstrukturen, der Arbeits- und Betriebsorganisation zu verweisen, die am Ende des von Wehler gewählten Beobachtungszeitraums sicherlich erst in Ansätzen erkennbar waren.
Diese Anmerkungen stellen jedoch die große Bedeutung einer wirtschafts- und sozialgeschichtlichen Perspektive auf die sich verändernden Sozialstrukturen in keiner Weise in Frage; soziale Strukturen lassen ohne eine (auch länger ausgreifende) historische Analyse nicht angemessen bestimmten. Sie sollten eher als Ansporn verstanden werden, die innovativen Analysen der Geschlechter- und der Migrationsgeschichte, die kritischen Forschungen zu Rassismus und Sexismus mit der ›klassischen‹ Wirtschafts- und Sozialgeschichte zusammenzubringen.
Literatur
Bourdieu, Pierre 1987: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt am Main: Suhrkamp
Hausen, Karin 2012: Geschlechtergeschichte als Gesellschaftsgeschichte, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht
Wehler, Hans-Ulrich 2008: Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Band 5: Bundesrepublik und DDR 1949-1990, München: Beck
Kocka, Jürgen 1988: Bürgertum im 19. Jahrhundert. Deutschland im europäischen Vergleich, München: Deutscher Taschenbuch Verlag
Kocka, Jürgen 2013: Geschichte des Kapitalismus, München: C.H. Beck Verlag