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Der Begriff der sozialen Lage wird in Sozialstrukturanalysen genutzt, um die spezifischen Arbeits- und Lebensbedingungen einer Person oder einer sozialen Gruppe summarisch zu beschreiben.

Temporale und soziale Kumulierungsprozesse

Soziale Lagen entstehen zum einen, indem Personen im Lebensverlauf unterschiedliche soziale Positionen einnehmen und im Laufe der Zeit die Erträge oder Belastungen aus diesen Positionen ›anhäufen‹ (temporale Kumulierung). Diese temporalen Kumulierungen können auch generationenübergreifend begriffen werden, indem materielle Werte (z.B. Vermögen, Immobilien), Rechte (wie eine Staatsbürgerschaft), aber auch Stigmata und soziale Prägungen (z.B. Habitus) vererbt werden.

Soziale Lagen entstehen zum anderen, indem sich Personen zu Haushalten zusammenschließen und innerhalb des Haushalts umverteilt und gemeinsam gewirtschaftet wird (soziale Kumulierung). Über den Haushaltszusammenhang können sich vorteilhafte Positionen verstärken, wenn beide Partner:innen über eine ›gute‹ Bildung und dementsprechende berufliche Positionen verfügen. Sie können sich kompensieren, wenn Menschen in ganz unterschiedlichen Postionen zusammenfinden. Es kann aber auch zur einer Kumulierung von Risiken und Belastungen kommen.

In den Ranking- und Sorting-Prozessen, die die soziale Position prägen, aber auch in den Kumulierungsprozessen spielen Kategorisierungen (Othering) von Menschen (z.B. nach dem Geschlecht, nach der ›Hautfarbe‹, nach der sozialen Herkunft oder nach religiösen, kulturellen bzw. anderen Merkmalen) eine zentrale Rolle. Entlang dieser Kategorisierungen entscheidet sich (direkt oder indirekt), wer welchen Job bekommt, wer welchen Schulabschluss erreicht, wer die Haushaltsarbeit macht oder wer Zugang zur Staatsbürgerschaft erhält. Diese Kategorisierungen sind zunächst nichts als soziale Konstrukte, die sich an recht beliebigen Äußerlichkeiten festmachen; diese Konstrukte werden dann aber bewertet und mit ihrem erfolgreichen Einsatz in Sortingprozessen wirkmächtig, indem sie über unterschiedliche Lebenswege in unterschiedlichen soziale Positionen und Lagen führen.

Merkmale sozialer Lagen

Für die empirische Bestimmung von sozialen Lagen können verschiedene Faktoren herangezogen werden, z.B.:

Die Unterscheidung von sozialen Positionen und sozialen Lagen ist bedeutsam: so kann eine prekäre soziale Position im Kontext ganz unterschiedlicher Lebenszusammenhänge stehen (z.B. eine Student_in, eine Langzeitarbeitsloser, eine Asylsuchende). Für die einen mag eine prekäre Lebensphase eine Episode in einem ansonsten wohlgesicherten Lebensverlauf sein; für andere stellt Prekarität eine fortwährende Bedrohung dar, der kaum zu entkommen ist.

Relativ offene und wohlfahrtsstaatliche regulierte Gesellschaften zeichnen sich dadurch aus, dass sich die Verknüpfung von sozialer Position und sozialer Lage lockert.

Soziale Lagen – Einordnung des Konzepts

Das Konzept der sozialen Lage, meist wird von Lebenslage gesprochen, wurde erstmals von Otto Neurath und Gerhard Weisser verwendet. So heißt es bei Neurath: »Lebenslage ist der Inbegriff all der Umstände, die verhältnismäßig unmittelbar die Verhaltungsweise eines Menschen, seinen Schmerz, seine Freude bedingen«. Dazu gehören: »Wohnung, Nahrung, Kleidung, Gesundheitspflege, Bücher, Theater, freundliche menschliche Umgebung, all das gehört zur Lebenslage, auch die Menge der Malariakeime, die bedrohlich einwirken« (1979, S. 212).

In der Sozialstrukturanalyse wird der Begriff seit der Mitte der 1980er Jahren in breiterem Maße genutzt. So heißt es bei Stefan Hradil: ›Lebenslage‹ nennt man die Gesamtheit ungleicher Lebensbedingungen
eines Menschen, die durch das Zusammenwirken von Vor- und Nachteilen in unterschiedlichen Dimensionen sozialer Ungleichheit zustande kommen (…). So mag beispielsweise die Lebenslage eines Menschen durch geringe Einkünfte, viel Freizeit, eine billige, gesundheitlich und ökologisch gut gelegene Wohnung, hohe Integration in die Gemeinde, schlechte Arbeitsbedingungen im Schichtdienst und geringe Qualifikation gekennzeichnet sein« (1999, S. 40).

Soziale Lagen können auch über die damit verbundenen Verwirklichungschancen (Amartya Sen) bzw. Capabilities (Martha Nussbaum) bestimmt werden.

In der Armutsforschung wird von einem Lebenslagenansatz gesprochen, wenn neben materiellen Merkmalen (z.B. relative Einkommensposition) auch andere Faktoren, die für ein menschenwürdiges Leben erforderlich sind, berücksichtigt werden, z.B. Wohnverhältnisse, Arbeit, Bildung, Gesundheit, soziale Sicherheit, gesellschaftliche Teilhabe.

Literatur

Bourdieu, Pierre 1992: Ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, soziales Kapital, in: ders., Die verborgenen Mechanismen der Macht, Hamburg: VSA

DiPrete, Thomas A./ Gregory M. Eirich 2006: Cumulative Advantage as a Mechanism for Inequality. A Review of Theoretical and Empirical Developments, in: Annual Review of Sociology, Vol. 32, S. 271–297

Honneth, Axel 1992: Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte, Frankfurt am Main: Suhrkamp

Hradil, Stefan 1999: Soziale Ungleichheit in Deutschland, Opladen: Leske & Budrich

Marshall, Thomas H. [1950] 2000: Staatsbürgerrechte und soziale Klassen, in: Jürgen Mackert/ Hans-Peter Müller (Hrsg.), Citizenship – Soziologie der Staatsbürgerschaft, Opladen: Westdt. Verl., S. 45-102

Neurath, Otto [1931] 1979: Empirische Soziologie, in: ders., Wissenschaftliche Weltauffassung, Sozialismus und logischer Empirismus, hrsg. von Rainer Hegselmann, S. 145-234

Weisser, Gerhard [1956] 1978: Beiträge zur Gesellschaftspolitik. Hrsg. von Siegfried Katterle, Wolfgang Mudra und Lothar F. Neumann, Göttingen: Schwartz