
Staatsbürgerrechte und soziale Klassen
Thomas H. Marshall hat in seinen bereits 1950 veröffentlichten Analysen zum Verhältnis von Staatsbürgerrechten und sozialen Klassen die These vertreten, dass die in den Nationalstaaten entstehende Gleichheit an zivilen, politischen und sozialen Rechten eine wesentliche Rolle für die Akzeptanz sozialer Ungleichheiten in kapitalistischen Gesellschaften spiele.
- Staatsbürgerrechte und soziale Ungleichheiten
- Klassen als ›Nebenprodukt‹
- Fazit
- Kommentar
- Literatur
Staatsbürgerrechte und soziale Ungleichheiten
Auf der einen Seite beobachtet Marshall am Beispiel Englands im 18. Jahrhundert die allmähliche Herausbildung ziviler Rechte (z.B. Redefreiheit, Glaubensfreiheit, Freiheit des Eigentums); im 19. Jahrhundert kommen politische Rechte (z.B. Wahl- und Partizipationsrechte) und schließlich im 20. Jahrhundert soziale Rechte hinzu (z.B. im Gesundheits- und Bildungsbereich oder bei der sozialen Sicherung). Darüber entstehe im Sinne der Staatsbürgerrechte ein Mehr an Gleichheit – insbesondere als Chancengleichheit; diese ziele auf die »Eliminierung ererbbarer Privilegien« (2000, S. 88).
Auf der anderen Seite komme es aber mit der Entwicklung des Kapitalismus zu erheblichen Ungleichheiten, die mit der Positionierung im Erwerbssystem zusammenhängen. Während im 18. und 19. Jahrhundert gerade die zivilen Freiheits- und Eigentumsrechte große Ungleichheiten erst ermöglichten, wurden sie im 20. Jahrhundert ein wenig eingedämmt (z.B. durch die Besteuerung oder durch Tarifverhandlungen). Die sozialen Rechte im (idealerweise chancengleichen) Bildungsbereich und die enge Verknüpfung von Bildungs- und Erwerbssystem führen dann aber zu einer Neubewertung dieser Ungleichheiten. Marshall konstatiert, »dass durch die Bildung in ihren Beziehungen zur Beschäftigungsstruktur Staatsbürgerrechte als Instrument sozialer Schichtung wirken. Es gib keinen Grund, das zu beklagen. (…). Der durch die Bildung erlangte Status, der in die Welt hinausgetragen wird, trägt den Stempel der Legitimität, weil er durch eine Institution verliehen wird, die eingerichtet wurde, dem Bürger seine ihm zustehenden Rechte zu erfüllen« (S. 89).
Jürgen Mackert (2006, S. 56 f.) hebt vier Charakteristika dieses modernen Verständnisses von Staatsbürgerschaft hervor:
- Es sei ein liberales Konzept, indem davon ausgegangen werde, dass es notwendig sei, ein gewisses Maß an Ungleichheit zuzulassen, um die wirtschaftliche Dynamik nicht zu gefährden. Diese Ungleichheiten müssten jedoch auf legitimen Regeln wie z.B. den Leistungen in einem (chancengleichen) Bildungssystem beruhen.
- Es sei ein egalitäres Konzept, indem es eine Gesellschaft der formal Gleichen voraussetze; diese Gleichheit bezieht sich auf zivile, politische, soziale, ökonomische und kulturelle Staatsbürgerrechte.
- Es sei ein auf soziale Gerechtigkeit zielendes Konzept, indem der Wohlfahrtsstaat möglichst einheitliche Voraussetzungen für die Wahrnehmung der Rechte schafft und illegitime Ungleichheiten abfedert.
- Schließlich sei es der kulturellen Einheitlichkeit von Nationalgesellschaften verpflichtet.
Klassen als ›Nebenprodukt‹
Bis zum 18. und 19. Jahrhundert basieren Klassen noch »auf einer Statushierarchie und der Unterschied zwischen der einen Klasse und der anderen wird in Begriffen gesetzlich verbriefter Rechte und feststehender Sitten ausgedrückt (…). In seiner extremen Form trennt ein derartiges System eine Gesellschaft in unterschiedliche und vererbbare Klassen von Menschen – Patrizier, Plebejer, Diener, Sklaven usw. In dieser Form waren Klassen eine Institution aus eigenem Recht« (S. 64). Mit der skizzierten Entwicklung der zivilen, politischen und sozialen Rechte verändert sich die Fundierung von Klassen. Nunmehr sind soziale Klassen eher »das Nebenprodukt anderer Institutionen. Obwohl wir immer noch von ›sozialem Status‹ sprechen können, dehnen wir damit den Begriff über seine strikt technische Bedeutung hinaus aus. Klassenunterschiede werden durch das Recht und die gesellschaftlichen Gebräuche (…) weder geschaffen noch definiert, sondern resultieren aus dem Zusammenspiel einer Vielzahl von Faktoren, die mit den Institutionen des Eigentums, der Bildung und der Struktur der nationalen Volkswirtschaften im Zusammenhang stehen« (S. 65).
Fazit
Marshall erklärt zusammenfassend, dass »Staatsbürgerrechte und andere von ihr (sic!) unabhängige Kräfte die Struktur sozialer Ungleichheit verändert haben« (S. 94). Damit habe sich auch der Charakter von Klassen verändert; er vermutet, »dass die vom Staatsbürgerstatus zugestandene und sogar geformte Ungleichheit nicht mehr länger Klassenunterschiede in jenem Sinn hervorbringt, in dem der Begriff für vergangene Gesellschaften gebraucht wird« (ebd.).
Kommentar
Die von Marshall entwickelten Argumentationszusammenhänge sind zum Startpunkt einer Soziologie der Staatsbürgerschaft geworden. Zugleich wurde aber auch auf verschiedene blinde Flecken seines Ansatzes hingewiesen; so z.B. auf die Nichtbeachtung intersektionaler bzw. postkolonialer Ungleichheiten oder auf die Fokussierung auf das englische Beispiel. Seit den 1980er Jahren wurde der Ansatz populär, indem der Rückbau bzw. die Reform sozialstaatlicher Leistungen (nach einer langen Phase der Expansion) als eine Erosion sozialer Rechte und damit als Aufkündigung des von Marshall skizzierten Kompromisses interpretiert wurde.
All diese Debatten sind berechtigt; der Kern der von Marshall entwickelten Argumentation wird davon jedoch nicht betroffen. Man kann die von ihm verfolgte Fragestellung, wie und in welchem Maße Phänomene der (relativen) staatsbürgerlichen Gleichheit auf der einen Seite mit der (Nicht-)Akzeptanz sozioökonomisch bedingter Ungleichheiten auf der anderen Seite in Zusammenhang stehen, auch heute als einen Ausgangspunkt für die Analyse von Gegenwartsgesellschaften nutzen. Exemplarisch sei auf Jane Jenson (1997, S. 630 f.) verwiesen, die versucht die Lehren aus diesem ›antiquiert erscheinenden‹ Ansatz für eine Analyse sich verändernder citizenship-regimes zu nutzen.
Literatur
Jenson, Jane 1997: Fated to Live in Interesting Times. Canada’s Changing Citizenship Regimes, in: Canadian Journal of Political Science, Vol. 30, No. 4, S. 627-644
Mackert, Jürgen 2006: Staatsbürgerschaft. Eine Einführung, Wiesbaden: VS Verlag
Marshall, Thomas H. 2000 [1950]: Staatsbürgerrechte und soziale Klassen, in: Jürgen Mackert/ Hans-Peter Müller (Hrsg.), Citizenship – Soziologie der Staatsbürgerschaft, Opladen: Westdeutscher Verlag, S. 45-102