
Soziale Ungleichheiten
Von sozialen Ungleichheiten (oder sozialen Differenzen) wird in sozialwissenschaftlichen und politischen Zusammenhängen gesprochen, wenn sich in einem gesellschaftlichen Bezugsrahmen die soziale Situation verschiedener Gruppen strukturell unterscheidet. Eine exakte Definition liegt nicht vor.
Die soziale Situation von Menschen bzw. sozialen Gruppen lässt sich an verschiedenen Arten von Unterschieden bzw. Ungleichheiten1 festmachen:
- an Unterschieden in ökonomischen (z.B. Einkommen und Vermögen), kulturellen (z.B. Bildung) und sozialen (z.B. soziale Netzwerke, Ehre) Kapitalien2; dazu gehören auch Erfahrungen von Hunger und Armut, Erfahrungen von Mangel und Unsicherheit oder Erfahrungen der Vereinsamung
- an unterschiedlichen Rechten (z.B. zivile, politische und soziale Rechte3, Aufenthaltstitel) und Chancen (z.B. Verwirklichungschancen4, capabilities5) oder an Graden der sozialen Anerkennung bzw. Stigmatisierung; dazu gehören auch Erfahrungen der psychischen bzw. symbolischen Gewalt, der Rechtlosigkeit oder der Diskriminierung
- an Unterschieden in der körperlichen (physischen und psychischen) Verfasstheit (z.B. Lebenserwartung, gesundheitliche Risiken, körperliche und geistige Unversehrtheit); dazu gehören auch Erfahrungen der physischen bzw. psychischen Gewalt.
Von strukturellen Unterschieden wird gesprochen, wenn diese Unterschiede überindividuell mit bestimmten Gruppenmerkmalen verknüpft sind: z.B. mit spezifischen Erwerbspositionen, mit der sozialen Herkunft oder mit geschlechtlichen oder ethnisch/kulturellen Markierungen. Während soziale Ungleichheiten im wissenschaftlichen Zusammenhang eher in einem beschreibenden und analytischen Sinne verstanden werden, geht es in politischen Zusammenhängen immer auch um die Bewertung von Ungleichheiten und um Strategien ihrer Beeinflussung.
Der räumliche Bezugsrahmen, in dem soziale Ungleichheiten analysiert und thematisiert wurden, ist typischerweise der Nationalstaat gewesen; es kann aber auch ein regionaler, europäischer oder weltweiter Bezugsrahmen sein. Auch die erheblichen Wohlstandsunterschiede zwischen Nationalstaaten und Weltregionen sind als soziale Ungleichheiten zu begreifen. Wenn man soziale Ungleichheiten jenseits des nationalstaatlichen Rahmens betrachtet, werden auch Fragen der Migration und der Handelsbeziehungen zu sozialen Fragen.
Der normative Bezugsrahmen von Diskursen um soziale Ungleichheiten hat sich in offenen und sozialstaatlich organisierten Gesellschaften nach und nach verschoben. Parsons (2000) hatte schon in den 1970er Jahren darauf hingewiesen, dass man es mit einem Nebeneinander von Gleichheits- und Ungleichheitsdynamiken zu tun habe. Indem es in den prosperierenden Ländern tendenziell gelungen ist, absolute Armut zurückzudrängen, Einkommensungleichheiten zu regulieren und das Bildungssystem sozial zu öffnen, werden aber auch neue Ungleichheiten erkennbar (vgl. Berger u.a. 1998 und 2004). So verweist Giddens (2001, S. 100) darauf, dass die Erfolge einer Politik der Chancengleichheit (z.B. im Bildungs- und Erwerbsystem) eben auch zu neuen Ungleichheiten führen. Mit der Frauenbewegung, der LGBTIQ-Bewegung oder den rassismuskritischen Bewegungen werden neben den klassischen sozioökonomischen Ungleichheiten auch Gewaltverhältnisse (z.B. Gewalt im öffentlichen und privaten Raum), Grade der sozialen Anerkennung bzw. Stigmatisierung und Prozesse der sozialen Schießung bzw. der Diskriminierung thematisiert. Rosanvallon macht deutlich, dass in einer ›Gesellschaft der Singularitäten‹ Vielfalt zum Maßstab der Gleichheit werde (2013, S. 309).
Ungleichheiten im Lichte verschiedener Forschungsansätze
Die verschiedenen im Kontext der Sozialstrukturanalyse verwendeten Forschungsansätze unterscheiden sich auch danach, welche Aspekte von sozialen Ungleichheiten sie in den Fokus rücken. Das folgende Tableau soll diese Zusammenhänge skizzieren.
Soziale Ungleichheit als Unterschiede .. | |||
Forschungsansätze | in der körperlichen Verfassung | in Rechten und Anerkennungen | in ökonomischen, kulturellen, sozialen Ressourcen |
Sozioökonomische Ansätze, z.B. | Forschungen zu Klassen/ Schichten | ||
Soziokulturelle Ansätze, z.B. | Forschungen zu Milieus/ Lebensstilen | ||
Intersektionale Ansätze, z.B. | Forschung zu sexistisch/ rassistisch motivierter Gewalt | Geschlechter- und rassismuskritische Forschung | Forschung zu gruppenspezifischen Benachteiligungen |
Transnationale Ansätze, z.B. | Human-Development Approach, Forschung zu (post)kolonialen Gewaltverhältnissen | Forschung zu Migrationen und Grenzregimen | global vergleichende Einkommens- und Vermögensforschung |
Die sozioökonomische Ungleichheitsforschung, die sich nach dem Zweiten Weltkrieg als Sozialstrukturanalyse etabliert hat, ging mit verschiedenen Engführungen einher:
- Das ist zunächst die vielfach kritisierte Verengung auf den nationalstaatlichen Horizont (Container-Perspektive), die eine Ausblendung von transnationalen Ungleichheiten implizierte und innerhalb der (demokratischen) Nationalstaaten eine Rechtsgleichheit unterstellte.
- Mit der Fixierung auf (zumeist) männliche, weiße, regulierte Industriearbeit wurden andere Lebensverhältnisse (z.B. von Frauen, Geflüchteten, Arbeitsmigrant:innen) und die damit immer auch verbundenen Gewalterfahrungen ausgeblendet.
- Schließlich trugen auch die theoretischen Konzepte – die Fixierung auf Lohnarbeit im Kontext von Kapitalismustheorien, die Fixierung auf Rationalisierungsprozesse und Marktklassen bei Weber oder die mit Modernisierungstheorien verbundenen Fortschrittshoffnungen – dazu bei, sozioökonomische Gewaltverhältnisse (z.B. Versklavung, Zwangsarbeit oder irreguläre Beschäftigung) als Phänomene der Vergangenheit zu begreifen.
Mit dem Bedeutungsgewinn von transnationalen, intersektionalen und rassismuskritischen Forschungsansätze seit den 1980er Jahren kommt es dann zu einem weitreichenden Umbruch im Blick auf soziale Ungleichheiten. Für die Herausbildung der Geschlechterforschung oder der rassismuskritischen Forschung spielten Gewaltverhältnisse im privaten wie im öffentlichen Raum oder die Versagung von Rechten und Anerkennungen eine zentrale Rolle. Daneben wurden dann aber auch Benachteiligungen und Ausschließungen im Bildungssystem, am Arbeitsmarkt oder bei der Entlohnung thematisiert und problematisiert.
Die Ausdifferenzierung von Perspektiven auf soziale Ungleichheit ging nicht selten auch mit einer Ausdifferenzierung von neuen Teilgebieten der soziologischen oder historischen Forschung (z.B. Geschlechter-, Migrations- oder rassismuskritische Forschung) einher; in den Kanon der klassischen sozioökonomischen Ungleichheitsforschung wurden diese Innovationen leider nur bedingt aufgenommen.
Anmerkungen
1) Die Drei-Gliederung orientiert sich an der von Göran Therborn (2013, S. 49) vorgeschlagenen Unterscheidung von Vital-, Existential- und Ressource-Inequalities.
2) Das hier skizzierte Kapitalkonzept geht auf Pierre Bourdieu (1983) zurück.
3) Diese Unterscheidung von Rechten geht auf Thomas H. Marshall (2000) zurück.
4) Das Konzept der Verwirklichungschancen geht auf Amartya Sen zurück. Verwirklichungschancen drücken sich in den substantiellen Freiheiten aus, die es einem Menschen »erlauben, ein mit Gründen erstrebtes Leben zu führen« (2000, S. 110). Vor diesem Hintergrund begreift Sen Armut nicht lediglich als einen Mangel an Einkommen, sondern auch als einen Mangel an fundamentalen Verwirklichungschancen.
5) Das Konzept der Capabilities geht auf Martha Nussbaum (2011, S. 33) zurück. Es umschreibt die Voraussetzungen, die erforderlich sind, damit Menschen Chancen wahrnehmen, handeln und ein würdevolles Leben führen können. Dazu gehören: Leben; körperliche Gesundheit, körperliche Unversehrtheit; Sinne, Vorstellungskraft und Denken; Gefühle; praktische Vernunft; Anerkennung und soziale Zugehörigkeit; Rücksicht auf andere Gattungen; Erholung und Spiel; Kontrolle über die politische und materielle Umwelt.
Literatur
Berger, Peter A./ Michael Vester (Hrsg.) 1998: Alte Ungleichheiten. Neue Spaltungen, Opladen: Leske und Budrich
Berger, Peter A./ Schmidt, Volker H. (Hrsg.) 2004: Welche Gleichheit, welche Ungleichheit? Grundlagen der Ungleichheitsforschung, Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften
Bourdieu, Pierre 1983: Ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, soziales Kapital, in: Kreckel, Reinhard (Hg.), Soziale Ungleichheiten, Göttingen, S. 183-198
Giddens, Anthony 2001: Die Frage der sozialen Ungleichheit, Frankfurt/M: Suhrkamp
Marshall, Thomas H. 2000: Staatsbürgerrechte und soziale Klassen, in: Jürgen Mackert/ Hans-Peter Müller (Hrsg.), Citizenship – Soziologie der Staatsbürgerschaft, Opladen: Westdt. Verl., S. 45-102
Nussbaum, Martha C. 2011: Creating Capabilities. The Human Development Approach. Harvard University Press
Parsons, Talcott 2000: Gleichheit und Ungleichheit in modernen Gesellschaften: Zur Bedeutung sozialer Schichtung, in: Jürgen Mackert/ Hans-Peter Müller (Hrsg.), Citizenship – Soziologie der Staatsbürgerschaft, Opladen: Westdt. Verl., S. 103-129
Rosanvallon, Pierre 2013: Die Gesellschaft der Gleichen, Hamburg: Hamburger Edition
Sen, Amartya 2000: Ökonomie für den Menschen. Wege zu Gerechtigkeit und Solidarität in der Marktwirtschaft, München, Wien: Carl Hanser
Therborn, Göran 2006: Meaning, Mechanisms, Patterns, and Forces, in: ders. (Hrsg), Inequalities of the World. New Theoretical. Frameworks, Multiple Empirical Approaches. London/, New York: Verso, S. 1-58
Therborn, Göran 2013: The Killing Fields of Inequality, Cambridge, UK: Polity Press