
Räumliche Strukturen und soziale Strukturen
- Konzepte der Raumsoziologie
- Gesellschaftswissenschaftliches Raumkonzept
- Ortseffekte
- Spacing und Synthese
- Räume und soziale Ungleichheiten
- Räumliche und soziale Perspektiven
- Standortentscheidungen
- Fazit
- Literatur
Von räumlichen Strukturen (sozialer Ungleichheit) wird gesprochen, wenn die Analyse sozialer Differenzierungen in räumlich abgegrenzten Einheiten (z.B. eine Stadt, Stadt und Land, Regionen oder Nationalräumen) erfolgt. Die räumliche Abgrenzung kann dabei eher im Sinne der Beschreibung oder eher im Sinne der Erklärung von sozialen Ungleichheiten genutzt werden. Aussagen über die Verfasstheit von Sozialstrukturen implizieren stets einen räumlichen Bezug.
So war seit den Anfängen der Sozialstrukturforschung häufig von den Sozialstrukturen einer ›Gesellschaft‹ ausgegangen worden; gemeint waren dabei die territorial bzw. politisch abgegrenzten Nationalgesellschaften, die mit den modernen Nationalstaaten entstanden waren. So werden z.B. die durchschnittlichen Einkommen oder die Armutsquoten für einzelne Nationalstaaten, Regionen (z.B. West- und Ostdeutschland bzw. einzelne Bundesländer), aber auch für Städte oder Stadtquartiere tabellarisch bzw. kartographisch dargestellt.
Während ein nationaler oder ein städtischer Raum für die öffentliche Verwaltung durch Grenzziehungen klar strukturiert ist, kann sich das für die dort lebenden und arbeitenden Menschen oder für ein Unternehmen ganz anders darstellen. D.h. zunächst gilt es, den Raumbegriff genauer zu bestimmen; dazu werden im Folgenden die Erkenntnisse der Raumsoziologie genutzt. Dabei geht es um Räume in einem eher allgemeinen Sinne; daneben finden sich theoretische und empirische Ansätze, die sich mit Räumen in verschiedenen Abgrenzungen befassen, z.B. mit nationalen, regionalen oder kommunalen Räumen.
Konzepte der Raumsoziologie
Inzwischen gehen alle neueren Ansätze der Raumsoziologie davon aus, »dass Raum nicht länger als naturhaft gegebener materieller Hinter- oder erdgebundener Untergrund sozialer Prozesse unveränderbar und für alle gleichermaßen existent angenommen werden kann. Vielmehr wird Raum selbst als sozial produziert, damit sowohl Gesellschaft strukturierend als auch durch Gesellschaft strukturiert und im gesellschaftlichen Prozess sich verändernd begriffen (…). Der Begriff des Raums bietet so zunehmend ein komplexes Rahmenkonzept, in dem sich verschiedene theoretische wie empirische Forschungen einander zuordnen lassen« (Löw/ Sturm 2019, S. 4).
Räume werden in kürzerer oder längerer Dauer über eine Vielzahl von Prozessen ›hergestellt‹. An der Oberfläche lassen sich Gebäude, Landschaften oder Industrien wahrnehmen; aber diese z.B. als städtisch oder ländlich wahrgenommenen Oberflächen können ›täuschen‹. Zum einen sind Räume weitaus veränderlicher als angenommen; zum anderen bestehen Räume nicht nur aus diesen wahrnehmbaren Materialisierungen; sie werden von mehr oder weniger mobilen Akteuren geprägt: von Unternehmen, von Institutionen und schließlich von Menschen, die hier (oder anderswo) leben und arbeiten und die über ihre Lebens- und Arbeitsgeschichten Räume prägen, sie aber auch mit anderen Räumen verknüpfen.
Ein gesellschaftswissenschaftliches Raumkonzept
Dieter Läpple ist bei der Entwicklung eines gesellschaftswissenschaftlichen Raumkonzepts zunächst den Raumkonzepten in den verschiedenen beteiligten Sozialwissenschaften (z.B. der Soziologie, der Ökonomie oder der Human- und Sozialgeographie nachgegangen. Von zentraler Bedeutung ist die Frage, wie man physikalische und gesellschaftliche Raumkonzepte aufeinander beziehen kann. In einem ersten Schritt wird der gesellschaftliche Raum sowohl als ein ›Behälterraum‹ wie als ›relationaler Ordnungsraum‹ begriffen.
Im nächsten Schritt wird dieses Konzept erweitert, »um gesellschaftliche Räume aus ihrem ›qualitativen‹, d.h. ihrem gesellschaftlichen Funktions- und Entwicklungszusammenhang heraus erklären zu können. Der ›Raum‹ ist dabei weder neutrales ›Gefäß‹ noch passive ›Resultante‹ körperlicher Objekte, sondern ein derartiges Konzept muß auch die gesellschaftlichen ›Kräfte‹ einbeziehen, die das materiell-physische Substrat dieses Raumes und damit auch die Raumstrukturen ›formen‹ und ›gestalten‹« (1991, S. 195). Läpple spricht von einem ›Matrix-Raum‹, der auf spezifische historische Konstellationen und damit verbundene raumstrukturierende Tendenzen zurückgeht. Für die Untersuchung solcher Räume schlägt Läpple die Analyse von folgenden Komponenten vor:
- »das materiell-physische Substrat gesellschaftlicher Verhältnisse, als die materielle Erscheinungsform des gesellschaftlichen Raumes. Dieses gesellschaftlich ›produzierte‹ Substrat besteht aus menschlichen, vielfach ortsgebundenen Artefakten, den materiellen Nutzungsstrukturen der gesellschaftlich angeeigneten und kulturell überformten Natur sowie den Menschen in ihrer körperlich-räumlichen Leiblichkeit. (…).
- Die gesellschaftlichen Interaktions- und Handlungsstrukturen bzw. die gesellschaftliche Praxis der mit der Produktion, Nutzung und Aneignung des Raumsubstrats befassten Menschen, die hier als soziale Akteure und unter dem Aspekt ihrer klassenmäßigen Differenzierung betrachtet werden. (…)
- Ein institutionalisiertes und normatives Regulationssystem, das als Vermittlungsglied zwischen dem materiellen Substrat des gesellschaftlichen Raumes und der gesellschaftlichen Praxis seiner Produktion, Aneignung und Nutzung fungiert. (…)
- Ein mit dem materiellen Substrat verbundenes räumliches Zeichen-, Symbol- und Repräsentationssystem« (1991, S. 196 f.).
Gesellschaftliche Räume sind auf der Mikro-, Meso- und Makroebne zu analysieren.
- Im Mikroraum stehen der Mensch und seine »räumliche Leiblichkeit« im Zentrum; hier werden elementare Raumerfahrungen gemacht, »sowohl im Umgang mit Sachverhältnissen, deren gesellschaftliche ›Gebrauchsanweisungen‹ und Zeichen er lesen und interpretieren lernt, als auch mit Menschen, wobei sich der Unterschied von körperlicher und sozialer Distanz entfaltet« (S. 197 f.).
- Auf der Mesoebene interessieren die regionalen Arbeits- und Lebenszusammenhänge und deren Einbindung in komplexere Verflechtungsstrukturen.
- Auf der Makroebene geht es schließlich um nationalstaatlich verfasste Gesellschaften in einem kapitalistischen Weltsystem.
Schließlich stehen gesellschaftswissenschaftliche Raumanalysen vor dem Problem, das Verhältnis von raumstrukturierenden Tendenzen und historisch vorgegebenen Raumstrukturen auszutarieren. »Bei der Analyse des Verhältnisses der beiden Aspekte – also der, in der Regel weltmarktvermittelten raumstrukturierenden Tendenzen und der regional unterschiedlich ausgeprägten Raumstrukturen – kann zwar nicht übersehen werden, daß das Kapitalverhältnis das dominante gesellschaftliche Verhältnis ist und somit die Verwertungsbedingungen des Kapitals auch in hohem Maße die raumstrukturierenden Tendenzen bestimmen. Dies darf jedoch nicht dazu führen, daß die historisch-räumliche Entfaltung und Artikulation dieser beiden Aspekte auf einen verdinglichten Automatismus von Weltmarkttendenzen und räumlichen Ent- und Verwertungsprozessen reduziert wird« (S. 200).
Im Folgenden werden zwei Ansätze dargestellt, in denen die bei Läpple bereits erkennbare praxistheoretische Perspektive weiter ausgeführt wird.
Ortseffekte
Ausgehend von stadtsoziologischen Analysen (zu Konflikten in den ›Banlieues‹ bzw. ›Ghettos‹) wendet sich Bourdieu gegen eine substantialistische Verkennung von ›Orten‹ und versucht, das Verhältnis von physischem und sozialem Raum differenzierter zu erfassen. Er analysiert zunächst Prozesse der Lokalisierung von Akteuren aber auch von Dingen, die oft über das Eigentum an Akteure gebunden sind. Die Lokalisierung kann sich auf Stadt-Quartiere, Regionen, aber auch auf Stadt-Land- oder Metropole-Provinz-Verhältnisse beziehen.
»Die gesellschaftlichen Akteure (…) und ebenso die Dinge (…) sind immer an einem konkreten Ort des Sozialraums angesiedelt, den man hinsichtlich seiner relativen Position gegenüber anderen Orten (…) und hinsichtlich seiner Distanz zu anderen definieren kann. So wie der physische Raum durch die wechselseitige Äußerlichkeit der Teile definiert wird, wird der Sozialraum durch die wechselseitige Ausschließung (oder Unterscheidung) der ihn bildenden Positionen definiert, d.h. als eine Aneinanderreihung von sozialen Positionen. So bringt sich die Struktur des Sozialraums in den verschiedensten Kontexten in Gestalt räumlicher Oppositionen zum Ausdruck, wobei der bewohnte (bzw. angeeignete) Raum wie eine Art spontane Symbolisierung des Sozialraums funktioniert« (1997, S. 160).
D.h. physischer und sozialer Raum stehen in einer Wechselwirkung, indem sich die sozialräumliche Ordnung z.B. der industriellen Produktion auch im physischen Raum ausdrückt, indem dieser physische Raum aber auch auf die Sozialstrukturen (z.B. die Möglichkeitshorizonte der Akteure) zurückwirkt. »Der verdinglichte, d.h. physisch verwirklichte bzw. objektivierte Sozialraum präsentiert sich solcherart als eine Verteilung verschiedener Arten von Gütern und Diensten wie auch individueller Akteure und Gruppen mit physischer Plazierung (im Sinne von dauerhaft ortsgebundenen Körpern). Je nach Kapitalausstattung und ihrer jeweiligen physischen Distanz zu diesen Gütern (…) wachsen oder verringern sich die Chancen, in den Genuß dieser Güter und Dienste zu gelangen. In der Beziehung zwischen der Verteilung von Akteuren und der Verteilung von Gütern im Raum manifestiert sich der jeweilige Wert der unterschiedlichen Regionen des verdinglichten Sozialraums« (S. 161).
Gesellschaftliche Auseinandersetzungen drücken sich immer auch in den Aneignungen des Raums aus. Es geht um verschiedene Typen von räumlichen Profiten:
- Lokalisierungsprofite entstehen über die Nähe zu knappen Gütern (z.B. Bildungs- oder Kultureinrichtungen).
- Positions– oder rangspezifische Profite sind z.B. einer prestigeträchtigen Adresse oder einem sicheren Wohnumfeld geschuldet.
- Besetzungs- oder Dichte-Profite gehen auf die Verfügung über einen physischen Raum (z.B. eine Wohnung, einen öffentlichen Raum oder eine gated-communitiy) zurück.
»Die Fähigkeit, den Raum zu beherrschen, hauptsächlich basierend auf der (materiellen oder symbolischen) Aneignung der seltenen (öffentlichen oder privaten) Güter, die sich in ihm verteilt finden, hängt vom Kapitalbesitz ab. Das Kapital erlaubt es, unerwünschte Personen oder Sachen auf Distanz zu halten und zugleich sich den (…) erwünschten Personen und Sachen zu nähern. Hierbei werden die zur Aneignung von Kapital nötigen Ausgaben, insbesondere an Zeit, minimiert. Die Nähe im physischen Raum erlaubt es der Nähe im Sozialraum, alle ihre Wirkungen zu erzielen, indem sie die Akkumulation von Sozialkapital erleichtert« (164).
Auf der anderen Seite ist auch die Kumulierung des Mangels folgenreich. »Die räumliche Versammlung einer in ihrer Besitzlosigkeit homogenen Bevölkerung hat auch die Wirkung, den Zustand der Enteignung zu verdoppeln, insbesondere in kulturellen Angelegenheiten und Praktiken. Die auf der Ebene der Schulklasse oder der Bildungseinrichtung, aber auch auf dem Niveau des Wohnviertels (…) ausgeübten Zwänge erzeugen eine Sogwirkung nach unten und lassen nur einen einzigen, jedoch meistens vom Mangel an Ressourcen verstellten Ausweg: Flucht« (S. 166).
Die Kämpfe um die Aneignung des Raumes haben eher individuelle Formen, wenn es um die generationelle oder räumliche Mobilität von Personen geht. Es finden sich aber auch kollektive Formen des Kampfes, wenn es um Wohnungspolitiken und Wohnungsbau geht. So haben diese in Frankreich oft systematisch zu einer »Konstituierung homogener Gruppen auf räumlicher Basis« (z.B. in den Banlieues) beigetragen (S. 167).
Spacing und Synthese
Der von Martina Löw und anderen vertretene raumsoziologische Ansatz knüpft an Konzepte der Praxistheorie an; so hatte sich neben Bourdieu vor allem Giddens (1988, Kap. 3) mit der Frage beschäftigt, wie Raum (und Zeit) mit sozialen Strukturen in Zusammenhang stehen. Löw versucht diese Ansätze zusammenzuführen und zu erweitern.
Sie begreift »Räume als relationale (An)Ordnungen von Lebewesen und sozialen Gütern an Orten. Mit dem Begriff der (An)Ordnung wird betont, dass Räume erstens auf der Praxis des Anordnens (der Leistung der wahrnehmend synthetisierenden Verknüpfung sowie auch auf einer Platzierungspraxis) basieren, Räume aber zweitens auch eine gesellschaftliche Ordnung vorgeben» (2008, S. 63).
Damit wird auf ein zentrales praxistheoretisches Konzept rekurriert. Räume (wie auch andere gesellschaftliche Phänomene) werden als eine Struktur verstanden, die dem Handeln der hier tätigen Akteure vorausgesetzt ist, die dann aber auch über die Handlungspraxis reproduziert wird. Dementsprechend wird von räumlichen Strukturen gesprochen, »wenn die Konstitution von Räumen, das heißt, entweder die Anordnung von Gütern bzw. Menschen oder die Synthese von Gütern bzw. Menschen zu Räumen (…), in Regeln eingeschrieben und durch Ressourcen abgesichert ist« (ebd.).
Wie in dieser Definition bereits erkennbar wird, gehen Löw u.a. davon aus, dass Räume über zwei sich bedingende Prozesse konstruiert werden: Prozesse des Spacing und Prozesse der Synthetisierung.
- In Prozessen des Spacing, werden Güter (z.B. Baulichkeiten), Menschen oder symbolische Markierungen (z.B. Schilder) platziert. »Spacing bezeichnet also das Errichten, Bauen oder Positionieren. Als Beispiele können hier (…) das Sich Positionieren von Menschen gegenüber anderen Menschen, das Bauen von Häusern, das Vermessen von Landesgrenzen, das Vernetzen von Computern zu Räumen genannt werden. Es ist ein Positionieren in Relation zu anderen Platzierungen« (S. 64). Indem sowohl Dinge wie Menschen platziert werden (bzw. sich platzieren) wird die oft zu findende Trennung zwischen materiellen und sozialen Räumen hinfällig, da die Platzierungen immer im Rahmen sozialer Prozesse geschehen. Der Verweis auf die Relation zu anderen Platzierungen soll auf den relationalen Charakter von Räumen verweisen; so grenzen sich die Bewohner:innen gehobener Wohnquartiere von anderen ab. Spacing vollzieht sich in Aushandlungsprozessen, in denen dann aber Machtunterschiede eine wichtige Rolle spielen.
- »Räume sind nicht natürlich vorhanden, sondern müssen aktiv durch Syntheseleistung (re)produziert werden. Über Vorstellungs-, Wahrnehmungs- und Erinnerungsprozesse werden soziale Güter und Lebewesen zu Räumen zusammengefasst. Diese Verknüpfungsleistung ist gesellschaftlich durch Raumvorstellungen, institutionalisierte Raumkonstruktionen und den klassen-, geschlechts- und kulturspezifischen Habitus vorstrukturiert. Sie ist abhängig vom Ort der Synthese und der Außenwirkung sozialer Güter und anderer Menschen. In der Synthese können auch Ensembles von Gütern oder Menschen wie ein Element wahrgenommen, erinnert oder vorgestellt werden und dementsprechend wie ein Element in die Verknüpfung zu Räumen einbezogen werden« (Löw 2001, S. 225).
Löw verweist darauf, dass man es auf allen Ebenen der Raumkonstitution mit gesellschaftlich eingebundenen Akteuren zu tun habe. So seien diese »durch Klassen, Geschlechter, Ethnien, Altersgruppen etc. strukturiert. Räume können für gesellschaftliche Gruppen unterschiedlich relevant werden. Sie können unterschiedlich erfahren werden. Sie können Zugangschancen und Ausschlüsse steuern. Sie können zu Auseinandersetzungsfeldern im Kampf um Anerkennung werden. Somit werden über Raumkonstitutionen meist auch Macht- und Herrschaftsverhältnisse ausgehandelt« (S. 65).
»Neben politischen, ökonomischen, rechtlichen etc. Strukturen existieren demnach auch räumliche (und zeitliche) Strukturen. Sie gemeinsam bilden die gesellschaftliche Struktur. Räumliche Strukturen müssen, wie jede Form von Strukturen, im Handeln verwirklicht werden, strukturieren aber auch das Handeln« (S. 63)
Räume und soziale Ungleichheiten
Ausgehend von dem oben entwickelten Raumkonzept (Räume als relationale (An)Ordnungen von Lebewesen und sozialen Gütern) lassen sich erhebliche soziale Unterschiede beim Zugang zu diesen zu platzierenden Gütern aus machen. Um den Zusammenhang von Raumstrukturen und sozialen Ungleichheiten zu rekonstruieren, nutzt Löw ein Konzept Reinhard Kreckels (1992, S. 94), das soziale Ungleichheiten mit dem Zugang zu wichtigen strategischen Ressourcen in Verbindung bringt. Er unterscheidet dabei distributive Ungleichheiten, die auf den Zugang zu materiellem Reichtum (Geld) und symbolischem Wissen (Zeugnis) zurückgehen, und relationale Ungleichheiten, die mit der hierarchischen Organisation von Gesellschaft (Rang) und mit Prozessen der selektiven Assoziation (Zugehörigkeit zu Netzwerken, Insider-Outsider-Konstellationen) zusammenhängen.
Dementsprechend unterscheidet Löw vier Ebenen sozialer Ungleichheit, die bei der Analyse der Konstitution sozialer Räume zu berücksichtigen sind. So sei zu analysieren, ob
»1. die Chancen, Raum zu konstituieren, aufgrund geringerer oder größerer Verfügungsmöglichkeiten über soziale Güter dauerhaft eingeschränkt sind oder begünstigt werden (Reichtums-Dimension);
2. die Chancen, Raum zu konstituieren, aufgrund von geringerem oder breiterem Wissen bzw. Zeugnissen dauerhaft eingeschränkt sind oder begünstigt werden (Wissens-Dimension);
3. die Chancen, Raum zu konstituieren, aufgrund geringerer oder höherer Verfügungsmöglichkeiten über soziale Positionen dauerhaft eingeschränkt sind oder begünstigt werden (Rang-Dimension);
4. die Chancen, Raum zu konstituieren, aufgrund von Zugehörigkeit begünstigt bzw. durch Nicht-Zugehörigkeit benachteiligt werden (Assoziations-Dimension)« (2001, S. 214).
Eine wichtige Rolle spielen dabei auch verschiedene Formen des privaten Eigentums (an Grund und Boden, an Wohnimmobilien oder an gewerblichen Immobilien) und die damit verbundenen Nutzungs- und Vermarktungsprivilegien.
»Zusammenfassend kann man festhalten, daß die Konstitution von Raum Verteilungen zwischen Gesellschaften und innerhalb einer Gesellschaft hervorbringt. In hierarchisch organisierten Kontexten sind dies zumeist ungleiche Verteilungen bzw. unterschiedliche Personengruppen begünstigende Verteilungen. Diese (An)Ordnungen haben Inklusions- und Exklusionseffekte. Räume sind daher oft ›Gegenstände‹ sozialer Auseinandersetzungen. Verfügungsmöglichkeiten über Geld, Zeugnis, Rang oder Assoziation sind daher ausschlaggebend, um (An)Ordnungen durchsetzen zu können, so wie umgekehrt die Verfügungsmöglichkeit über Räume zur Ressource werden kann« (2001, S. 217 f.).
Räumliche und soziale Perspektiven auf Differenzierungsprozesse
Prozesse der sozioökonomischen, der soziopolitischen und der soziokulturellen Differenzierung lassen sich in sozialer, wie in räumlicher Perspektive analysieren; d.h. soziale und räumliche Ungleichheiten sind untrennbar miteinander verknüpft. Jegliche Prozesse der Arbeit bzw. der sozialen Interaktion finden in daran angepassten räumlichen Kontexten (z.B. eine Fabrikhalle, ein Büro, ein Feld, eine Küche bzw. eine Freizeit- oder Kultureinrichtung) statt; diese sind dann in Infrastrukturen (Verkehr, Energie, Kommunikation etc.) eingebunden.
Die über die unterschiedliche Verortung in Produktions- und Reproduktionsprozessen entstehenden Ungleichheiten lassen sich nun sowohl sozial als auch räumlich betrachten. Während auf der einen Seite Körper, Personen oder soziale Gruppen als ein Kondensationskern von Differenzbeobachtungen fungieren, sind es auf der anderen Seite verschiedene räumliche Einheiten (z.B. Quartiere, Kommunen, Regionen, Nationalstaaten oder Weltregionen). In beiden Fällen werden die kaum ›greifbaren‹ sozialen Differenzen an Greifbarem (an physischen Körpern, gestalteten Räumen oder Baulichkeiten bzw. an sozialen Körpern oder Gruppen) konkretisiert. So kann man die Verteilung von Arbeitseinkommen, entlang der Einkommen verschiedener Beschäftigtengruppen darstellen oder man stellt die in bestimmten regionalen Einheiten erzielten Sozialprodukte einander gegenüber.
Die räumliche und die soziale Perspektive auf gesellschaftliche Differenzierungsprozesse weist vielerlei Parallelen auf. So geht es auf der einen Seite um soziale Positionen und soziale Verdichtungen zu sozialen Großgruppen (Klassen, Schichten oder Milieus); auf der anderen Seite sind es räumliche Positionen, die sich zu Stadtquartieren, Städten oder Regionen verdichten. In beiden Fällen stellt sich das Problem der substantialistischen Verkennung. Zudem hat man es in der sozialen wie der räumlichen Perspektive mit Koproduktionen zu tun, in denen materielle Substrate, spezifische Akteure und Symboliken zusammenwirken.
Wie die sozial konstruierten Einheiten sind auch die über Raumbezüge hergestellten Einheiten in ihren biografischen bzw. geschichtlichen Zusammenhängen zu begreifen. Folgt man dem Diktum Bourdieus, dass der Körper wie ein soziales Gedächtnis fungiert, so lässt sich dies auch für Räume, Landschaften oder Baulichkeiten sagen, wenn sich in ihnen die Geschichte der Siedlungs- und der Produktionsprozesse niederschlägt.
Standortentscheidungen
Für die Vermittlung zwischen der räumlichen und sozialen Perspektive spielen ›Standorte‹ eine wichtige Rolle; über sie werden die sozialen Praktiken des Herstellens, des Verwaltens oder des Sorgens mit einem Ort verknüpft. Solche Standortentscheidungen werden von ganz unterschiedlichen Akteuren getroffen:
- So entscheiden Unternehmen, die Produktion an einem bestimmten Standort anzusiedeln; dabei spielen dann z.B. die Versorgung mit Rohstoffen und Energie, die Verfügbarkeit von Arbeitskräften, die Nähe zu Produktionsnetzwerken, die infrastrukturelle Einbindung (Verkehrs- oder Dateninfrastrukturen) oder die Zugänge zu Absatzmärkten eine zentrale Rolle.
- Auch die verschiedenen Institutionen, die regulierend und ermöglichend in Prozesse der gesellschaftlichen Produktion und Reproduktion eingreifen, treffen solche Standortentscheidungen, indem Verwaltungen, Bildungseinrichtungen, Kulturinstitute räumlich platziert werden oder indem bestimmte Räume mit Infrastrukturen versorgt werden.
- Schließlich treffen auch die privaten Haushalte Standortentscheidungen, indem sie eine Wohnung anmieten oder erwerben und diese als Ort der haushaltlichen Produktion und Reproduktion nutzen.
Das Standortkonzept ist aber auch trügerisch, weil sich mit z.B. mit Veränderungen der Verkehrs-, Informations- oder Energietechnik, mit den Veränderungen verschiedener Märkte oder mit Veränderungen der Lebensweise vermeintlich ›harte Standortfaktoren‹ (und ihre Gewichtung) immer auch wieder verändern.
Fazit
Räumliche Strukturen und soziale Strukturen sind untrennbar miteinander verknüpft. Die Hoffnung, dass man der Komplexität von Sozialstrukturen entgehen könne, wenn man die sozialen Phänomene aus einer vermeintlich ›objektivierenden‹ räumlichen Perspektive analysiert, trügt. Die Probleme der räumlichen Konstruktion ähneln denen der sozialen Konstruktion.
Dennoch bietet die räumliche Perspektive eine Reihe von Chancen. So eröffnet der räumliche Zugang die Möglichkeit, soziale Phänomene in einer anderen Weise zu thematisieren. Dabei wird z.B. deutlich, dass Menschen in besseren sozialen Lagen nicht nur über ein mehr an sozialen und ökonomischen Kapitalien verfügen, sondern auch über vielerlei Positionierungsprofite: sie wohnen z.B. in einer guten Wohnung, in einem sicheren und gut erschlossenen Stadtquartier, in einer attraktiven Stadt oder in einer boomenden Region.
Literatur
Bourdieu, Pierre 1997: Ortseffekte, in: ders. et al. 1997: Das Elend der Welt. Zeugnisse und Diagnosen alltäglichen Leidens an der Gesellschaft, Konstanz: Universitätsverlag, S. 159-167
Giddens, Anthony 1988: Die Konstitution der Gesellschaft. Grundzüge einer Theorie der Strukturierung, Frankfurt a.M., New York: Campus
Kreckel, Reinhard 1992: Politische Soziologie der sozialen Ungleichheit, Frankfurt a.M., New York: Campus
Läpple, Dieter 1991: Essay über den Raum. Für ein gesellschaftswissenschaftliches Raumkonzept, in: Hartmut Häußermann u.a. (Hrsg.), Stadt und Raum. Soziologische Analysen, Pfaffenweiler: Centaurus, S. 157-207
Löw, Martina 2001: Raumsoziologie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp
Löw, Martina/ Gabriele Sturm 2016: Raumsoziologie, in: Fabian Kessl/ Christian Reutlinger (Hrsg.), Handbuch Sozialraum, Wiesbaden: Springer VS, S. 3-21
Löw, Martina/ Steets, Silke/ Stoetzer, Sergej 2008: Einführung in die Stadt- und Raumsoziologie, Opladen, Farmington Hills: Verlag Barbara Budrich