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Abgehängt im Aufschwung

Schmalz 2021: Abgehängt im Aufschwung


Die Studie ›Abgehängt im Aufschwung‹ von Stefan Schmalz, Sarah Hinz, Ingo Singe und Anne Hasenohr befasst sich mit der jüngeren wirtschaftlichen und politischen Entwicklung einer Region in Ostdeutschland (Ostthüringen). Der bereits 2021 erschienenen Studie sollte im Lichte des Wahljahres 2024 erneut Aufmerksamkeit geschenkt werden.
Die Autorinnen vertreten die These, »dass schrumpfende, strukturschwache Regionen und Städte im Osten zu Kristallisationspunkten des gesellschaftlichen Unwohlseins geworden sind, die trotz vordergründig positiver Entwicklungen in der Wirtschaft und auf dem Arbeitsmarkt zu einer Verfestigung rechter Einstellungen beitragen« (2021, S. 19). Eine besondere Rolle komme dabei der demografischen Entwicklung zu. Die Studie arbeitet mit einem komplexen Forschungsdesign. Neben der Verwendung von Sekundärdaten der amtlichen Statistik und des Thüringen-Monitors wurden vor allem repräsentative Befragungen auf der regionalen wie auf der betrieblichen Ebene durchgeführt. Diese wurden durch Leitfadeninterviews mit betrieblichen Akteuren sowie mit einschlägigen Expertinnen der regionalen Lage ergänzt.

Überblick:

Struktur der Argumentation

Wandel des ökonomischen und des politischen Feldes

Im ersten Kapitel skizzieren die Autor*innen, wie sich nach dem Strukturbruch von 1989 das ›Modell Ostdeutschland‹ in den 1990er Jahren entwickelt und bis zum Ende der 2010er Jahre verändert hat.

Ende der 1990er Jahre Ende der 2010er Jahre
Strukturkomponenten
StrukturbruchReindustrialisierung unter Druck
Verlängerte WerkbankGrenzen des Niedriglohnmodells
Hybride ArbeitsbeziehungenUmkämpfte Arbeitsbeziehungen
FachkräfteparadiesEnde des Fachkräfteparadieses
Subjektive Komponenten
Kollektive AbwertungPrekäre Stabilisierung
Arbeitsspartaner*innenNeue Beschäftigtengeneration
AbwanderungDemografische Divergenz
Politische Lethargie und rechte AlltagskulturenAufstieg der politischen Rechten
Eigene Darstellung nach Abb. 1, S. 19
Modell Ostdeutschland

In den 1990er Jahren kommt es zu einer fundamentalen Reorganisation der ostdeutschen Wirtschaft, an deren Ende vor allem kleine und mittlere Betriebe bestehen bleiben bzw. neu entstehen. Politisch wird das Modell der ›verlängerten Werkbank‹ unterstützt, das auf die Ansiedlung von Zulieferer- und Exportunternehmen setzt; das impliziert ein niedriges Lohnniveau, lange Arbeitszeiten und eine unterdurchschnittliche Produktivität der Unternehmen. Die industriellen Beziehungen sind angesichts der Austritte aus Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften deutlich weniger von Flächentarifverträgen und betrieblichen Interessenvertretungen geprägt. Angesichts des guten Qualifikationsniveaus und der hohen Arbeitslosigkeit verfügen die Unternehmen trotz der großen Abwanderung über ein großes Reservoir von Facharbeitskräften.

Diese Entwicklungen wurden als eine kollektive Abwertung wahrgenommen, auch wenn nicht alle unmittelbar von den Umbrüchen betroffen waren. Viele haben große soziale Unsicherheiten sowie eine Abwertung der erworbenen Qualifikationen und der Lebensleistung erfahren. Die einen wurden zu »leistungs- und verzichtsbereiten Arbeitsspartaner*innen«, andere gingen in den vorzeitigen Ruhestand oder wanderten in verschiedenen Wellen in den Westen ab. Auf der politischen Ebene wird diese Entwicklung von geschwächten Interessenverbänden und einer geringen Verankerung der westlich geprägten Volksparteien begleitet. Mit der PDS und später der Linken und insbesondere mit verschiedenen rechtsextremen Parteien und Organisationen entsteht im Osten eine völlig andere politische Landschaft, die auch durch einen hohen Nichtwähleranteil charakterisiert ist.

Modell Ostdeutschland unter Druck

Die Reindustrialisierung Ostdeutschlands gelingt regional sehr unterschiedlich; es entstehen kaum Leuchttürme. Viele Unternehmen sind Teil globaler Wertschöpfungsketten, geraten aber mit den Veränderungen des Weltmarktes und den Umbrüchen z.B. in Kontext der sozialökologischen Transformation unter Druck. Die Arbeitslosenquote geht (auch demografisch bedingt) deutlich zurück; damit erodieren auch die ›betrieblichen Notgemeinschaften‹, die die Nachwendezeit charakterisierten. Die Arbeitsbeziehungen werden konfliktreicher; die betriebliche und gewerkschaftliche Interessenvertretung wird belebt.

Die Wanderungsverhältnisse zwischen Ost und West gestalten sich nun heterogener; zudem dominiert die Binnenwanderung zwischen den ländlichen und städtischen Regionen im Osten. Die existenziellen Notlagen sind in den Hintergrund getreten; Lohniveau und Arbeitsbelastung haben sich aber kaum verändert. Im politischen Feld hat die Rechte einen Aufstieg erfahren und sich mit der AfD neuformiert.

Eine große Bedeutung messen die Autor*innen dem demografischen Wandel zu: »Das schrumpfende Erwerbspersonenpotenzial trägt zur sinkenden Arbeitslosigkeit und zum höheren Selbstbewusstsein der Beschäftigten bei. Die Bevölkerungsentwicklung verschärft die Widersprüche zwischen urbanen Boomzentren und strukturschwachen, meist ländlichen Regionen« (S. 22).

Zusammenhänge von räumlicher Ungleichheit und demografischer Entwicklung

Im zweiten Kapitel legen die Autor*innen ihre theoretische Perspektive genauer dar. Sie beziehen sich dabei auf Ansätze der kritischen Geographie, der Entwicklungsforschung und der räumlichen Ungleichheitsforschung. Ausgehend von Konzepten der Peripherisierung (und der Zentralisierung) identifizieren sie Zentrum-Peripherie-Verhältnisse sowohl innerhalb Europas wie auch innerhalb Deutschlands.

Zudem konstatieren sie, dass diese Prozesse sich auch in Politik und Gesellschaft niederschlagen: »regionale Abstiegserfahrungen und Deindustrialisierung tragen mancherorts zur Stigmatisierung von ganzen Regionen und Städten und ihrer Bevölkerung bei« (S. 31). So verweisen sie z.B. auf Peripherisierungen innerhalb des Ruhrgebietes. Peripherisierung hat »einen ökonomischen Kern, der sich auf den Arbeitsmarkt auswirkt, schließt aber auch demografische, infrastrukturelle und sogar kulturelle Effekte mit ein« (S. 33).

Genauer wird dann das Konzept der internen Peripherie entwickelt. Diese »lassen sich als Regionen mit einem niedrigeren BIP pro Kopf, vergleichsweise niedriger Arbeitsproduktivität, niedrigen Löhnen und höherer Arbeitslosigkeit als im Landesmaßstab beschreiben; politisch sind sie meist wenig einflussreich und haben eingeengte Handlungsspielräume durch Verschuldung oder niedrige Steuereinnahmen. Lebensweltlich fristen große Bevölkerungsanteile prekäre Leben und sehen sich Infrastrukturdefiziten ausgesetzt. Hinzu kommt Bevölkerungsabwanderung« (S. 37). Interne Peripherien finden sich sowohl im städtischen wie im ländlichen Bereich.

Prozesse der Peripherisierung wirken mit demografischen Entwicklungen zusammen:

  • So kommt es zu einer demografischen Krise erster Ordnung, wenn in internen Peripherien (Kleinstädte und ländliche Regionen in Ostdeutschland) der Bevölkerungsrückgang kaum durch gegenläufige Effekte aufgefangen wird. Auf den Arbeitsmärkten entstehen dann Engpässe erster Ordnung, indem das Arbeitskräftereservoir austrocknet.
  • Demografische Krisen zweiter Ordnung stellen sich ein, wenn in Metropolregionen der demografische Wandel durch die Zuwanderung Jüngerer abgefedert wird. Auf den Arbeitsmärkten kommt es dabei nicht selten zu einer Konkurrenz um qualifizierte Arbeitskräfte (›Betriebskannibalismus‹).

Die geschilderten Entwicklungen schlagen sich dann auch in unterschiedlichen Effekten der Stigmatisierung und der kulturellen Peripherisierung nieder.

Peripherisierung in Ostthüringen

Im dritten Kapitel wird die Entwicklung in Thüringen sowie in Ostthüringen seit den 1990er Jahren genauer dargestellt. Exemplarisch lassen sich die Binnendifferenzen der wirtschaftlichen und demografischen Entwicklung an einer Gegenüberstellung der eher boomenden Stadt Jena und der eher peripheren Stadt Gera verdeutlichen, die sich in wirtschaftlicher (z.B. BIP, Lohnniveau, Erwerbstätigen-/Sozialversichertenquote) wie in demografischer (z.B. Bevölkerungsentwicklung, Altersstruktur, Migrationsanteile) Perspektive deutlich unterscheiden. In der historischen Analyse wird deutlich, »dass die innere Peripherie in Ostthüringen noch nicht lange besteht, sondern nach der Wiedervereinigung durch (wirtschafts-)politisches Handeln aktiv hergestellt wurde. Die ökonomische Peripherisierung Geras oder des Altenburger Lands ging gleichzeitig mit einer Aufwertung Jenas (z.B. durch die Städtebauförderung) einher« (S. 69).

Thüringer Arbeitsgesellschaft im Umbruch

Im vierten Kapitel wird auf Basis der standardisierten Befragungen wie der Leitfadeninterviews dargestellt, wie sich in der jüngsten Boomphase (›Thüringen-Boom‹) der Wandel der Arbeitsgesellschaft gestaltet.

Besonders deutlich wird der Wandel an dem seit 2010 stetig steigenden Anteil von Arbeitsverhältnissen, die durch Kündigungen seitens der Arbeitnehmer*innen aufgelöst werden; die Einkommenslage hat sich aber weitaus weniger verbessert, die Prekaritätserfahrungen bleiben. Das bedinge ein ›Treibhaus des Unbehagens‹.

Anteil der »eher« bzw. »voll und ganz« ZustimmendenJenaGeraGreizAltenb. LandOstthü-ringen
Mit meinem derzeitigen Einkommen komme ich kaum über die Runden18,527,624,724,525,0
Die Gesellschaft kann nicht jeden auffangen, der nicht mitkommt49,867,962,263,459,3
Eigene Darstellung nach Tab. 3 (Auszüge), S. 19

Auf der einen Seite kommen gerade in den peripheren Regionen viele nicht mit ihrem Einkommen über die Runden; zugleich wird aber auch ein gewisser Sozialdarwinismus erkennbar, der gerade in den peripheren Regionen ausgeprägter ist.

Demografische Effekte im Betrieb

Im fünften Kapitel werden die Ergebnisse der Betriebsfallstudie genauer ausgeführt. Angesichts der u.a. demografisch bedingten Personalengpässe setzte das Unternehmen zunächst »auf eine Ausweitung der ohnehin intensiv genutzten Leiharbeit« (S. 105). Später wurden Arbeitskräfte aus Osteuropa sowie (insbesondere seit 2015) Geflüchtete eingestellt. Es kommt zu einer hohen Personalfluktuation. Das lange Zeit funktionierende Regime der Prekarität verliert an Wirkung, indem die Sorge um den Arbeitsplatz und auch die hohen Quoten von Leiharbeiter*innen nicht länger disziplinierend wirken.

Die Verzichtsbereitschaft sinkt und das Selbstbewusstsein steigt; dennoch gelingt es nicht, das Lohniveau zu verbessern. Viele Beschäftigte würden den Betrieb gern verlassen. »Für die fragile Stabilität dieses Modells ist die Lage des Betriebs von großer Bedeutung. Der Standort an der inneren Peripherie Ostthüringens trägt dazu bei, das schwankende Modell aufrechtzuerhalten. Zum einen sind Möglichkeiten für einen Jobwechsel eingeschränkter als in Boomstädten wie Jena oder Erfurt (…).

Ferner herrscht keine unbegrenzte Mobilität: Letztlich schrecken gerade viele ältere Arbeitnehmer*innen davor zurück, den eigenen Wohnort zu verlassen oder als Pendler*innen lange Fahrten in Kauf zu nehmen. Die soziale Aufwärtsmobilität ist für viele Beschäftigte mit Ortsbindung begrenzt (…). Darüber hinaus sind die Lebenshaltungskosten in Greiz, Altenburg oder Gera deutlich niedriger als in anderen Orten Thüringens und wirken als eine Art Subvention« (S. 116). Vor diesem Hintergrund kommt es zu einem »resignative[n] ›Sich-Einfinden‹ in die Verhältnisse« (ebd.).

Das Ende der politischen Stabilität

Das sechste Kapitel befasst sich schließlich mit den regionalen politischen Positionierungen. Auf der Landesebene sind die langjährige christdemokratische Hegemonie und das rot-rot-grüne Interimsprojekt inzwischen an ein Ende gekommen. Bereits im Untersuchungszeitraum war deutlich geworden, dass die AfD einen rasanten Aufstieg genommen hatte. Dieser Aufstieg steht aber in einer längeren Kontinuitätslinie.

So können die Autor*innen über die Befragungsdaten des seit den 2000er Jahren durchgeführten Thüringen-Monitor zeigen, dass rechtsextreme Einstellungen bereits 2005 mit 30% einen ersten Höhepunkt erlangt hatten. Auch rechtsextreme Parteien wie die NPD und die DVU haben immer wieder Erfolge erzielt. Vor diesem Hintergrund konnte die AfD »für jene Einstellungsmuster, ideologische Dispositionen und Alltagserfahrungen ein Politikangebot formulieren« (S. 127).

 Bundes-tags-wahl 2017Europa-wahl 2019Kommu-nalwahl 2018 (Kreist./Stadträte)Land-tags-wahl 2019Europa-wahl 2024*Land-tags-wahl 2024*
Thüringen22,722,517,723,430,734,3
Bund12,611,015,8 
Altenb. Land27,527,122,628,836,939,9
Gera28,529,628,828,733,035,6
Greiz25,625,520,426,735,437,4
Jena14,412,710,012,714,416,2
Eigene Darstellung nach Tab. 5, S. 128; ergänzt um Angaben aus dem Jahr 2024

Das spiegelt sich dann auch in den regional differenzierten Einstellungen gegenüber Zuwanderung wider.

Anteil der »eher« bzw. »voll und ganz« ZustimmendenJenaGeraGreizAltenb. LandOst-thüringen
Zuwanderung bietet mehr Chancen als Risiken 67,849,648,753,852,9
Selbst wenn wir auf ausländische Arbeits-kräfte angewiesen wären, würde ich die Zuwan-derung nicht begrüßen11,626,831,327,625,4
Eigene Darstellung nach Tab. 6 (Auszüge), S. 131

So liegt die grundsätzliche Ablehnung ausländischer Arbeitskräfte in Greiz beinahe dreimal höher als in Jena. Auch die schulischen und beruflichen Abschlüsse spielen eine wichtige Rolle: So variiert die Ablehnung von Migration (keine positive Auswirkung von Zuwanderung), die im Durchschnitt bei 33%-34% liegt, zwischen 52,9% (Hauptschule) und 23,2% (Abitur) bzw. zwischen 41,8% (Lehre) und 20,5% (Universitätsabschluss) (Göttert u.a. 2016, S. 17).

Wenn die Autor*innen dann aber auf der Individualebene die Zusammenhänge zwischen verschiedenen Deprivationserfahrungen (Einkommenssituation, Wahrnehmung des Wohnorts, politische Einflusslosigkeit) und der Positionierung zur Migration untersuchen, werden eher schwache Korrelationen erkennbar. Sie erklären dies mit einem »disparate[n] Antwortverhalten, das auf unterschiedliche Motivlagen und soziale Gruppen hinweist. Anders ausgedrückt: ein relevanter Anteil der Befragten, die etwa keine finanziellen Einschränkungen befürchten, sind einwanderungskritisch eingestellt« (S. 133).

Die Auswertung der (standardisierten wie der qualitativen) betrieblichen Daten bestätigt das gezeichnete Bild. »Aus Sicht vieler einfacher Zelva-Beschäftigten hat die Peripherisierung ihrer Stadt eine Gemengelage ergeben, in der die politischen Eliten versagt haben und die schwierigen betrieblichen Bedingungen keinen Anker in einer von sozialen Problemen zerrissenen Gesellschaft bieten. Hierin besteht auch ein Nährboden für Ausländerfeindlichkeit. Geflüchtete werden nicht nur als Störfaktor empfunden, sondern gerade die Sozialleistungen für Einwander*innen stoßen den Beschäftigten vor dem Hintergrund ihrer eigenen sozialen Lage auf« (S. 140 f).

In der Zusammenschau verweisen die Autor*innen jedoch auf gewisse Anomalien; so zeige sich an der Stadt Suhl, dass Strukturschwäche auch mit der Stärke von linken Parteien einher gehen kann (S. 141)*. In der Betriebsfallstudie war deutlich geworden, dass die anfänglich großen Ressentiments gegenüber Geflüchteten aus Syrien durch Betriebsrat, Gewerkschaft und Management eingedämmt werden konnten (S. 142).

Krise des ›Modells Ostdeutschland‹

In dem zusammenfassenden siebten Kapitel wird davon ausgegangen, dass das ›Modell Ostdeutschland‹ vielfältigen Veränderung unterworfen sei und eine Neubewertung erforderlich sei:

  • Das ›Werkbank-Modell‹ stehe in Frage; das betriebliche Fallbeispiel zeige aber, dass man es eher mit einem muddling through versuche; ein neues Modell betrieblicher Arbeitsbeziehungen sei nicht in Sicht.
  • Man hat es mit einem engen Nebeneinander von boomenden und strukturschwachen Regionen zu tun, eine darauf abgestimmte wirtschaftspolitische Strategie fehle aber.
  • Schließlich weisen die AfD-Erfolge auf eine hohe Unzufriedenheit der Bevölkerung, bei der Deprivations- und Abwertungserfahrungen eine wichtige Rolle spielen.

Diese Entwicklung gehen mit weiteren Krisenmomenten einher. Neben der Coronakrise ist das zum einen die Strukturkrise der Automobilindustrie, die mit Verschiebungen am Weltmarkt und mit der erforderlichen sozialökologischen Transformation der Mobilität zusammenhängen. Zum anderen ist es der politische Umbruch, der mit den Wahlerfolgen der AfD (und aus heutiger Sicht des BSW) zusammenhängt.

In den Regionen der inneren Peripherie werden diese Umbrüche spürbar; die Autor*innen konstatieren jedoch, dass die »politischen Handlungsoptionen von Regierung, Zivilgesellschaft und Verbänden (…) eng begrenzt bleiben und eine Reihe von Hindernissen für eine integrierte Entwicklung existieren« (S. 149): So sei die Region auf Zuwanderung angewiesen, aber »ausgerechnet die demografisch ausgebluteten Regionen in der inneren Peripherie (…) [weisen] in der Bevölkerung oftmals die niedrigsten Zustimmungsraten für Migration auf« (S. 150).

Hinzu komme, »dass die Verbände (…) wie Gewerkschaften (und auch Arbeitgeber*innenverbände) in der Region traditionell schwach sind. Niedrige Mitgliederzahlen, eine geringe Durchsetzungsfähigkeit und eine schwache Verankerung im alltäglichen Leben der Beschäftigten machen es schwierig, zivilgesellschaftlichen Druck für eine arbeitspolitische Re-Orientierung aufzubauen« (ebd.).

Perspektivisch wird schließlich ein Maßnahmenpaket skizziert, das zu einer ›Aufwertung Ost‹ beitragen könne:

  • Industriepolitik und regionale Konvergenz
  • Leitbild ›gute Arbeit‹ und Demografie-Korporatismus
  • Betriebliche Arbeitsgestaltung, Arbeit als regionales Kollektivgut und betriebliche Personalpolitik
  • Willkommenskultur und Migration
  • Regionales Leitbild und Partizipation

Kommentar

Mit ihrer kompakten, aber empirisch komplexen Studie gelingt es den Autor*innen sehr gut, einen theoriegeleiteten stets aber auch gut begründeten Argumentationsfaden zu entwickeln. Die eingangs skizzierte Gegenüberstellung der Situation am Ende der 1990er bzw. am Ende der 2010er Jahre kann überzeugen.

Die Entscheidung, die Analyse der politischen Veränderungen und Kontinuitäten mit den Veränderungen des Produktions- und Regulationsmodells bzw. mit den Veränderungen von Arbeits- und Beschäftigungserfahrungen in einen (nicht deterministischen) Zusammenhang zu bringen, ist vollauf zu begrüßen. Zwar werden in den landläufigen Diskursen stets eine Reihe von sozioökonomischen Spezifika der neuen Bundesländer angeführt; der Blick auf die regionalen Binnendifferenzierungen führt dann aber zu weitaus differenzierteren Analysen.

Anzumerken ist, dass die Stilisierung des demografischen Wandels zu einem game changer der Komplexität der Wandlungsprozesse (Entwicklung reproduktiver Praktiken von Männern und Frauen, Veränderung der Lebenserwartungen, komplexe Verhältnisse der Binnen- wie der Außenmigration) und ihrer sozialen, politischen und ökonomischen Einbindung nicht ganz gerecht wird. Insbesondere die Außenmigration wird m.E. in der Studie zu wenig reflektiert.

Die differenzierte Aufbereitung des Materials lädt dann natürlich auch zu weitergehenden Fragen ein, deren Klärung den Rahmen eines solchen Verbundprojekts (›Zukunftsfähiges Kompetenzmanagement – prospektiv, lebensphasenorientiert und regional flankiert‹) gesprengt hätte. So interessiert aus wissenschaftlicher wie politischer Perspektive vor allem die Frage, wie ökonomisch-soziale und politische Entwicklungen in einen sinnvollen Zusammenhang gebracht werden können.

Den Autor*innen ist es auf der einen Seite gut gelungen, die kollektiven aber regional unterschiedlichen Deprivations- und Abwertungserfahrungen und auch deren Fortbestand aufzuzeigen. Auf der anderen Seite können sie mit Bezug auf die Daten des Thüringen-Monitors bzw. die regionale Geschichte rechter Organisationen wichtige Kontinuitätslinien im politischen Feld aufzeigen. Es stellt sich dann jedoch die Frage, ob und wie beide Entwicklungen Zusammenhänge aufweisen. Die Autor*innen begreifen die Wahlerfolge der AfD als einen Hinweis auf große Unzufriedenheiten der ostdeutschen Bevölkerung und messen den Deprivations- und Abwertungserfahrungen eine Schlüsselrolle für das Wahlverhalten zu (vgl. S. 145).

Mit dieser Schlussrichtung stehen sie in der politischen wie in der wissenschaftlichen Landschaft nicht allein und manche Hinweise sprechen für einen solchen Schluss; er ist aber nicht zwingend. Mit Bezug auf Heitmeyer (2018) konstatieren sie: »Die AfD kanalisiert diese Stimmung und stößt mit ihrer Eliten- und Migrationskritik und dem Versprechen einer nationalen Gemeinschaft in die politische Repräsentationslücke« (S. 142). Es ist aber zu fragen, ob das Bild einer bloßen Kanalisierung bereits vorhandener Stimmungen angemessen ist. Sind es nicht vielmehr die AfD und ihre vielen Vorläufer, die immer auch aktiv am Bild der ›Abgewerteten‹ bzw. ›der Bürger zweiter Klasse‹ gearbeitet haben.

Anmerkung

* Die Ergebnisse der Landtagswahl von 2024 bestätigen diese Einschätzung leider nicht, die AfD hatte in Suhl 33% und das BSW weitere 20% erreicht.   

Literatur

Göttert, Anne/ Hinz, Sarah/ Meyer, Daniel/ Schmalz, Stefan/ Singe, Ingo 2016: Beschäftigte mit steigenden Ansprüchen? Erste Ergebnisse der Regionalstudie „Arbeit und Leben“, Working Papers: Economic Sociology Jena, 14

Heitmeyer, Wilhelm 2018: Autoritäre Versuchungen. Signaturen der Bedrohung, Berlin: Suhrkamp

Schmalz, Stefan/ Sarah Hinz/ Ingo Singe/ Anne Hasenohr 2021: Abgehängt im Aufschwung. Demografie, Arbeit und rechter Protest in Ostdeutschland, Frankfurt/New York: Campus

Inhaltsübersicht

 1. Einleitung: Abgehängt im Aufschwung

– Der Strukturbruch
– Ein Modell auf Verschleiß
– Die Studie: Forschungsdesign, empirische Basis und Befunde

2. Räumliche Ungleichheit und demografische Differenzierung

– Peripherisierung und Zentralisierung: Ein Klärungsversuch
– Abhängigkeit, Ökonomie und Politik
– Abkopplung: Randlage und Infrastruktur
– Abwanderung und demografische Krise
– Exkurs: Arbeitsmarkt und Demografie
– Stigmatisierung und kulturelle Peripherisierung

3. An den Rand gedrängt: Peripherisierung in Ostthüringen

– Das Erbe der Nachwendezeit
– Die Herausbildung der inneren Peripherie Ostthüringens
– Gera: Eine Stadt im Kampf gegen den Niedergang
– Die bleibende Abstiegserfahrung

4. Die Thüringer Arbeitsgesellschaft im Umbruch

– Der Abschied vom »Arbeitsspartaner«
– Niedriglohn und prekäre Lebensführung
– Fluchtpunkt Vereinbarkeit von Arbeit und Leben
– Das Thüringenparadox: Unzufriedenheit trotz Boom am Arbeitsmarkt

5. Demografischer Wandel als game changer im Betrieb

– Das betriebliche Nachwendearrangement
– Das Unternehmen Zelva: Eine ostdeutsche Erfolgsgeschichte?
– Demografischer Wandel und Umbrüche im Betrieb
– Sinkende Loyalität und verdeckter industrieller Konflikt
– Die Vernutzung ererbter Ressourcen

6. Thüringen: Das Ende der politischen Stabilität

– Die Krise der etablierten Volksparteien und der Aufstieg der AfD
– Auf dem Weg zur rechten »Frustregion«?
– Schlechter Betrieb, schlechte Gesellschaft
– Kampffeld innere Peripherie

7. Die Krise des »Modells Ostdeutschland«

– Am Scheideweg
– Die Perspektive der inneren Peripherie
– »Aufwertung Ost«: Eine arbeitspolitische Agenda