Das von Ralf Dahrendorf in den 1960er Jahren vorgeschlagene Schichtungsmodell arbeitet mit der Abgrenzung von sieben sozialen Gruppen. Die Abgrenzung der Gruppen geht auf den Autor zurück; bei den Bezeichnungen nutzt er beinahe die gesamte Palette der in Sozialstrukturanalysen zu findenden Begrifflichkeiten. So spricht er von Schichten, Ständen, Klassen und Eliten (wörtlich: Auserlesenen). Die Größenangaben gehen, wie er freimütig zugesteht, auf »informierte Willkür, also begründete Schätzung« (1968, S. 196) zurück; zu vermuten ist, dass er sich an Angaben aus der amtlichen Statistik orientiert hat.
- An der Spitze der Gesellschaft positioniert Dahrendorf verschiedene Eliten (weniger als 1%), die er jedoch als eher heterogene Gruppe beschreibt. Sie zeichnen sich nicht unbedingt durch Reichtum oder Prominenz aus, sondern durch die von ihnen ausgeübte Macht. Er differenziert dabei: die wirtschaftlichen Eliten, die politischen Eliten, die Verwaltungselite, die militärische Elite, kirchliche Eliten und schließlich kulturelle bzw. Kommunikationseliten. Zur wirtschaftlichen Elite merkt er an, dass deren Gewicht derzeit vermutlich größer sei als zu anderen Zeiten.
- Der bei Karl Renner (1953) entlehnte Begriff der Dienstklasse (12%) steht für den nicht-technischen also eher den bürokratisch tätigen Teil des neuen Mittelstands, der vermittelt über die Positionierung in höheren Verwaltungen unterhalb der Eliten noch über eine gewisse Macht verfügt. So rechnet Dahrendorf auch angestellte Manager zu dieser Gruppe.
- Dem Mittelstand (20%) wird vor allem der alte Mittelstand (z.B. Handwerker, Händler, Bauern, kleine und mittlere Selbständige) zugerechnet; es kommen aber auch Unternehmer mit größeren Betrieben hinzu, soweit diese nicht als Großunternehmen der Wirtschaftselite zugerechnet werden.
- Zur Arbeiterelite (5%) rechnet er vormalige Arbeiter, die nun z.B. als Steiger oder Meister tätig sind oder die im Kontext der Arbeiterbewegung aufgestiegen sind.
- Dem ›falschen‹ Mittelstand (12%) werden Angestellte zumeist in einfachen Tätigkeiten zugerechnet, die sich zwar von ihrer Tätigkeit aber nicht in ihren Einkommen und ihrer Stellung von der Arbeiterschaft abheben (z.B Verkäuferinnen, Postboten oder Schaffner).
- Die Arbeiterschaft (45%) umfasst Arbeiter, aber auch einfache Angestellte, die sich jedoch über die Qualifikation (von Facharbeitern bis zu Hilfsarbeitern), die Beschäftigungsverhältnisse, die Betriebsgröße oder die sektorale Zurechnung (zu Branchen oder Betriebstypen) noch einmal erheblich unterscheiden.
- Die Unterschicht (5%) bezeichnet er im zeitgenössischen Jargon als »›Bodensatz‹ der Gesellschaft«. Er spricht von »einer Vielzahl je individueller, wenngleich im Einzelfall auch gesellschaftlich vermittelter, Schicksale« (S. 105).
Die hier eher formal dargestellten Gruppen werden dann jedoch über weitere Informationen detaillierter in ihrer sozialen Orientierung beschrieben. Zudem erwähnt er auch die recht anders strukturierte Gesellschaft der DDR. Jenseits der in dem Schaubild dargestellten Gruppen, die über erwerbbare Positionen verfügen, verweist er auf die Bedeutung von zugeschrieben Positionen (z.B. nach Geschlecht oder Alter), auf die Rolle der sozialen Herkunft, auf religiöse und regionale bzw. Stadt-Land-Differenzierungen, auf unterschiedliche Bildungschancen, auf die große Gruppe der Flüchtlinge und Vertriebenen und auf die Unterschiede zwischen traditionalen und modernen bzw. rationalen Orientierungen. Er hebt die gestiegene soziale Mobilität hervor, macht aber auch auf deren Grenzen aufmerksam. So diagnostiziert er drei Barrieren in der Schichtstruktur der deutschen Gesellschaft:
- »die Grenze zwischen den Eliten und den angrenzenden Bereichen der Dienstklasse und des Mittelstandes«
- »die Grenze zwischen der Unterschicht und den angrenzenden unteren Rängen der Arbeiterschicht und des falschen Mittelstandes«
- und eine dritte weniger leicht überschreitbare Barriere: »Sie trennt ein Oben von einem Unten, nämlich etwa das obere Drittel des Schichtgebäudes von den unteren zwei Dritteln, und verläuft vom unteren Ende der Dienstklasse entlang der Linie zwischen Arbeiterschicht und Mittelstand« (S. 111).
Kommentar
Verglichen mit anderen in den Nachkriegsjahrzehnten entstandenen Schichtungsmodellen, die auf Basis von Umfragedaten die Verteilung nach bestimmten Sozialschichten ermitteln, zeichnet sich Dahrendorfs Modell zum einen durch eine substantielle Argumentation, die hier nur skizziert werden konnte, aus. Er liefert zudem eine (nicht numerische) Begründung für die vertikale Dimension, indem er sich für die Verteilung von Macht interessiert. In der Tradition Geigers versucht er schließlich, die Schichten auch über ihre ›Mentalitäten‹ zu beschreiben; so greift er z.B. für die Arbeiterschaft auf die Studien von Popitz und Bahrdt (1957) zurück.
Umgekehrt spiegeln sich in Dahrendorfs Studie in erheblichem Maße auch die blinden Flecken seiner Zeit; d.h.:
- Die Studie begreift die deutsche Gesellschaft als Industrie- bzw. Erwerbsgesellschaft. Soziale Lagen jenseits der bezahlten Erwerbsarbeit erscheinen in diesem Schichtungsbild nicht. Das betrifft zum einen die zu jenem Zeitpunkt nicht kleine Gruppe der nicht erwerbstätigen Hausfrauen, die Gruppe der Arbeitslosen bzw. Arbeitsunfähigen, Kinder und Jugendliche und schließlich Personen im Ruhestand.
- Zu kritisieren ist auch die unzureichende Differenzierung der Arbeiterschaft. Hier scheinen noch die Effekte des Klassenkonzepts Marxscher Prägung nachzuwirken, indem entlang der Frage des Produktionsmittelbesitzes eine große homogene Gruppe von Proletariern erwartet wird. Auch das unter Soziolog:innen jener Zeit dominante Paradigma der Industriegesellschaft (und die damit verbundene Fixierung auf Großbetriebe bestimmter Branchen) spielt hier eine Rolle. Die bereits in den 1960er Jahren erheblichen Unterschiede in der Qualifikation (von ungelernten Arbeitern bis zu Vorarbeitern) und in den Betriebsformen (Landwirtschaft, Handwerk, Mittel- und Großbetriebe) bleiben unbeachtet.
- Es ist verwunderlich, dass die große Gruppe der Flüchtlinge und Vertriebenen – sie werden auf S. 118 kurz erwähnt – für das Schichtungsbild keine Rolle spielt; sie machen 1965 mehr als 20% der Bevölkerung aus. Auch die Mitte der 1950er Jahre einsetzende Arbeitsmigration aus dem Mittelmeerraum wird nur am Rande (S. 84) erwähnt.
- Schließlich sei darauf verwiesen, dass in der Nachkriegssoziologie niemand über die ›verlorene Gesellschaft‹ spricht; also über jene, die während der Gewaltherrschaft des Nationalsozialismus fliehen mussten und jene, die Opfer der massenhaften Verfolgung und Ermordung wurden.
Literatur
Dahrendorf, Ralf 1968: Gesellschaft und Demokratie in Deutschland, München: dtv
Dahrendorf, Ralf 1968: Gibt es noch Klassen? Die Begriffe der ›sozialen Schicht‹ und ›sozialen Klasse‹ in der Sozialanalyse der Gegenwart, in: Seidel, Bruno/ Jenkner, Siegfried, Klassenbildung und Sozialschichtung, Darmstadt, 1968, S. 279-296
Popitz, Heinrich/ Hans Paul Bahrdt/ Ernst August Jüres/ Hanno Kesting 1957: Das Gesellschaftsbild des Arbeiters. Soziologische Untersuchung der Hüttenindustrie, Tübingen: Mohr
Renner, Karl 1953: Wandlungen der modernen Gesellschaft: Zwei Abhandlungen über die Nachkriegszeit, Wien: Verlag der Wiener Volksbuchhandlung