Der jährlich erscheinende Armutsbericht des paritätischen Wohlfahrtsverbandes (Der Paritätische Gesamtverband) trägt in diesem Jahr den Titel »Zwischen Pandemie und Inflation«. Er basiert auf einer statistischen Analyse von Daten des Mikrozensus, die bis zum Jahr 2021 reichen. Die Pdf-Fassung des Berichts ist hier zugänglich.
Überblick:
Diese Besprechung skizziert zunächst wichtige Eckdaten des Berichts; ausführlicher werden dann die Armutsrisiken verschiedenen sozialer Gruppen in der Lebensverlaufsperspektive dargelegt. Sie schließt mit einer Darlegung der wesentlichen Kritikpunkte.
Thematische Struktur
Der Armutsbericht 2022 liefert auf 31 Seiten einen kompakten Überblick über Phänomene der Einkommensarmut in Deutschland. Nach einem ersten Blick auf die Situation im Jahr 2021 geht es um die Armutsrisiken verschiedener soziodemografischer Gruppen, um die Zusammensetzung der Einkommensarmen und um die regional- bzw. länderspezifische Struktur von Niedrigeinkommen in Deutschland. Die Darstellung der statistischen Daten wird durch kurze Zitate aus Interviews mit »Armutsbetroffenen« ergänzt. Daran schließen sich (sozial)politische Forderungen und abschließend methodische Hinweise an.
Die Darstellung ist transparent, die Interpretationen sind (auf den ersten Blick) gut begründet. Auch die Reflexion der Datengrundlage und der verwendeten Methoden der Armutsrisikomessung entspricht den Regeln der Kunst. Im Methodenteil des Berichts wird auf die Erhebungsprobleme des Mikrozensus in den Pandemiejahren verwiesen; zu erwähnen ist vor allem, dass die Rücklaufquote wesentlich geringer ausgefallen ist.
Bei der Besprechung des Berichts stellt sich die Frage, ob man die Begrifflichkeit des Berichts (Armutsquote) übernehmen möchte oder ob man sich den Kritiken anschließt und z.B. von einer Armutsrisikoquote (Ar.quote) oder einer Niedrigeinkommensquote spricht. Ich folge den letzteren Vorschlägen, nutze aber für die dargestellten Quoten verschiedene Begrifflichkeiten. Zudem sei darauf verwiesen, dass sich diese Besprechung vor allem dafür interessiert, wie derartige Berichte im Sinne der Sozialstrukturanalyse gelesen werden können; die sicherlich auch wichtige Frage, welche Effekte eine globale Pandemie für die Einkommenslagen hat, rückt an die zweite Stelle.
Wichtige Ergebnisse des Berichts
Jahr | 2005 | 2010 | 2015 | 2019 | 2020 | 2021 |
Ar.quote | 14,7 | 14,5 | 15,7 | 15,9 | (16,2) | (16,6) |
- Die Armutsrisikoquote hat 2021 mit 16,6% einen neuen Höchststand erreicht; sie hatte sich seit 2011 zwischen 15 und 15,9% bewegt; seit 2020 liegt sie oberhalb der 16%-Marke. Die Einbeziehung der beiden letzten Jahre in die Zeitreihe wurde von den Kommentator_innen jedoch grundsätzlich in Frage gestellt. So verweist Roland Preuss (SZ vom 15.6.2022) darauf, dass das Statistische Bundesamt wegen der erwähnten Stichprobenprobleme von einem Zeitvergleich abgeraten habe.
- Die soziodemografische Struktur der Armutsrisiken hat sich grundsätzlich nur wenig verändert. Dieser Befund ist eigentlich bemerkenswert, lässt er sich doch auch dahingehend interpretieren, dass es doch vor allem strukturelle d.h. längerfristig wirksame Faktoren sind, die die Armutsrisikoquoten beeinflussen. Pandemie bedingt sind jedoch die Armutsrisikoquoten unter Erwerbstätigen angestiegen; dementsprechend sind auch Menschen vor allem mit mittlerem Bildungsniveau in stärkerem Maße von Niedrigeinkommen betroffen. Die soziodemografische Struktur wird gleich noch genauer aufgeschlüsselt.
- Die Zusammensetzung der Gruppe der relativ Einkommensarmen hat sich nur wenig verändert; zwei Drittel von ihnen sind Nicht-Erwerbspersonen. Der paritätische Wohlfahrtsverband nimmt dies zum Ausgangspunkt für die Forderung, Armutspolitik werde nicht »um eine sehr direkte Verbesserung der finanziellen Lage der Armen umhin kommen«.
- Die Armutsrisikoquoten der Bundesländer variieren zwischen 13 und 20%; in Bremen liegen sie bei 28%. Verglichen mit dem Vor-Coronajahr, finden sich Bundesländer mit einem deutlichen Anstieg (Bremen, Hamburg, Hessen, Thüringen, Baden-Württemberg); in anderen bleiben die Quoten gleich oder gehen gar zurück (Mecklenburg-Vorpommern, Saarland, Brandenburg). Regional variieren die Quoten zwischen sogar zwischen 9% und 33,5%.
Vor diesem Hintergrund kommentiert der Wohlfahrtsverband die staatliche Interventionen in Phasen der Pandemie und der Inflation; abschließend formuliert er politische Schlussfolgerungen: kurzfristig müsse »das Niveau der einkommensorientierten fürsorgerischen Leistungen wie Hartz IV, Altersgrundsicherung und Wohngeld, aber auch BAföG deutlich angehoben werden«; mittelfristig »bedarf es (…) einer offensiven und problemlösenden Armutspolitik« und darüber hinaus einer einkommens- und bedarfsorientierten Kindergrundsicherung, einer Stärkung der Arbeitslosenversicherung, einer Neuaufstellung der gesetzlichen Rentenversicherung und einer Mietpreisdämpfungspolitik.
Ungeachtet der methodischen Einschränkungen lässt sich die im Armutsbericht vorgelegte Zeitreihe von Ar.quoten in verschiedener Weise lesen. Während der paritätische Wohlfahrtsverband von »besorgniserregenden Aufwärtstrend der Armutsquoten« spricht, der schon 2006 einsetzte, könnte man auch hervorheben, dass es angesichts gravierender Problemlagen (eine weltweite Finanzkrise, verstärkte Fluchtbewegungen, der anhaltende Umbau der Industriegesellschaft, eine weltweite Pandemie, gegenwärtig die vielfältigen Folgen einer veränderten Weltsicherheitsordnung) doch erstaunlich sei, wie gut diese Herausforderungen zumindest bislang monetär bewältigt werden konnten.
Im Folgenden sollen zwei Schwerpunkte des Berichts genauer beleuchtet werden: die sozialdemografische und die räumliche Verteilung der Armutsrisiken.
Risiken relativer Einkommensarmut im Lebensverlauf
Im Bericht werden die soziodemografisch aufgeschlüsselten Armutsrisikoquoten eher wie ein Variablenkatalog (Alter, Geschlecht …) aufgereiht. Das führt zu einem recht unübersichtlichen Bild: einige Faktoren lassen sich recht leicht mit möglichen kausalen Faktoren zusammenbringen (z.B. die hohe Ar.quote von Alleinerziehenden), andere Faktoren (z.B. die unterschiedlichen Ar.quoten von Männern und Frauen) lassen sich nur auf Umwegen mit ursächlichen Zusammenhängen verknüpfen), dritte Faktoren (z.B. die Unterschiede nach Staatsangehörigkeit) verleiten vermutlich eher zu Fehlinterpretationen.
Im Folgenden soll aufgezeigt werden, wie sich die soziodemografisch aufgeschlüsselten Armutsrisikoquoten des paritätischen Armutsberichts (mit der gebotenen Vorsicht) für eine Analyse ursächlicher Zusammenhänge nutzen lassen. Grundsätzlich ist eine solche Art der Interpretation problematisch, zumal in diesem Fall nur Aggregatdaten vorliegen; dennoch lassen sich nach einigen konzeptionellen Vorarbeiten durchaus weiterreichende Erkenntnisse gewinnen.
Relative Einkommensarmut in biografischer Perspektive
Die folgenden Überlegungen unterscheiden idealtypisch verschiedene Phasen der relativen Einkommensarmut entlang eines durchschnittlichen Lebensverlaufs (in einem prosperierenden Industrieland). Damit ist auch die Einsicht verbunden, dass es Armut in einem prosperierenden Industrieland mit einem entwickelten Sozialstaat nicht als ein zusammenhängendes Phänomen gedeutet werden darf; vielmehr hat man es mit ganz unterschiedlichen Konstellationen zu tun, in denen Armutsrisiken entstehen können; das betrifft auch die Frage der Dauer von Armutsrisiken, die Frage der Wahrnehmung durch die Betroffenen, die Frage der Wirkungszusammenhänge und die möglichen (individuellen und sozialpolitischen) Strategien der Vermeidung von Armutsrisiken.
- Armut von Heranwachsenden: Kinder und Jugendliche werden möglicherweise in arme Haushalte geboren oder die Haushalte (z.B. von Alleinerziehenden) müssen höhere Ausgaben bewältigen und sind umgekehrt vielleicht in ihren Erwerbsmöglichkeiten und ihrer Erwerbsmobilität eingeschränkt. Die Armut der Heranwachsenden spiegelt vermittelt über den Haushalt zumeist die erhöhte Armut ihrer Eltern in der Familienphase.
- Ausbildungsarmut: In der Phase der schulischen und beruflichen Ausbildung (oder der Berufseinmündung) geraten viele Menschen unter die Armutsschwelle, weil die öffentlichen und privaten (elterlichen) Transfers nicht ausreichen, die Möglichkeiten des Zuverdienstes beschränkt sind etc. Vielleicht nehmen sie aber auch die Knappheit einfach hin angesichts der Freiheit, ›auf eigenen Füßen zu stehen‹, und der Hoffnung auf eine bessere Zukunft.
- Armut in der Familien- und Erwerbsphase: Armut geht in dieser Phase vor allem auf die Relation von Einnahmen und erforderlichen Ausgaben, die in dieser Phase meist eher überdurchschnittlich sind, zurück. D.h. man wird arm, weil die Einnahmen nicht hinreichen, z.B. wegen gesundheitlicher (Erwerbsgeminderte), familiärer (Alleinerziehende) oder qualifikatorischer Einschränkungen der Erwerbsmöglichkeiten oder wegen unzureichender Beschäftigungsmöglichkeiten (Befristungen oder unfreiwillige Teilzeit) und Entlohnungen (Niedriglöhne). Zum anderen sind es dann die Ausgaben, die ein größerer Haushalt oder erforderliche Investitionen (z.B. Auto, Wohneigentum) mit sich bringen. Auch Trennungen bergen in dieser Phase ein erhöhtes Risiko. Verglichen mit anderen Lebensphasen bieten sich den durchschnittlich eher Leistungsstarken in dieser Phase weitaus größere Möglichkeiten der Kompensation von möglichen Armutssituationen als die Jüngeren oder die Älteren.
- Altersarmut: Die Lebensgrundlage im Alter geht in Deutschland vor allem auf die kumulierten Ansprüche an Pensionskassen und Rentenversicherungen oder auf eigenes Vermögen zurück. Dementsprechend bergen geringe Erwerbs- und Beitragszeiten, eine geringe Entlohnung, häufige Zeiten der Arbeitslosigkeit oder der Nichterwerbsarbeit eben auch hohe Risiken der Altersarmut. D.h. die Lage im Alter wird (in einem solchen Alterssicherungssystem) zu einem Spiegelbild der lebenslang erworbenen Ansprüche; sie ist also kaum noch umkehrbar, zumal die Möglichkeiten des Zuverdienstes mit steigendem Alter zunehmend geringer werden.
Die durchschnittlichen Lebenswege von Männern und Frauen gestalten sich insbesondere in der Familien- und Erwerbsphase recht unterschiedlich. So bedingt das mehrheitlich zu findende 1,5-Ernährer_innenmodell in der mittleren Lebensphase, dass in heterosexuellen Konstellationen typischerweise meist die Frauen in eine Teilzeittätigkeit wechseln oder kurzfristig gar nicht erwerbstätig sind. Das hat zum einen erhebliche Konsequenzen für die Entlohnung und die weitere Karriere, zum anderen bindet es die Frauen in hohem Maße an den Bestand einer Partnerschaft bzw. eines Haushaltszusammenhangs. Durch die haushaltsbezogene Ermittlung der Nettoäquivalenzeinkommen bzw. der Armutsrisikoquote bleiben diese Lageunterschiede zwischen Männern und Frauen und die damit verbundenen (meist nicht abgesicherten) Risiken unberücksichtigt.
Wenn Menschen eine eigene Migrationserfahrung haben, können damit gravierende Brüche in einer Ausbildung oder in einem Erwerbsverlauf verbunden sein, die sich wiederum für Männer und Frauen je unterschiedlich gestalten können. Wenn man darüber hinaus berücksichtigt, dass eine Migration typischerweise nicht als ein einfacher ›Ortswechsel‹ begriffen werden kann, sondern möglicherweise mit komplexen Prozessen der Umwertung von ökonomischen, kulturellen und sozialen Kapitalien, mit Erfahrungen der Diskriminierung oder mit transnationalen Lebenspraktiken einhergeht, wird deutlich, dass die (nationale) Einkommensinformation nur einen sehr kleinen Teil dieser Lebenswirklichkeit abbilden kann.
Die Lebens- und Arbeitswege in der Gegenwartsgesellschaft sind sicherlich weitaus komplexer als es diese idealtypischen Modelle abzubilden vermögen; dennoch können sie einige wichtige Grundtypen von Armutskonstellationen erschießen.
Im Folgenden sollen die im Bericht dargestellten gruppenspezifischen Armutsrisikoquoten (Tab. 2 des Berichts) bzw. die Angaben zum Anteil dieser Gruppen an der Armutspopulation (Tab. 3 des Berichts) genutzt werden, um einige der obigen Überlegungen zu illustrieren.
Lebensphase und Geschlecht
Die Ar.quoten der verschiedenen Altersgruppen weichen systematisch voneinander ab. So liegt die Ar.quote der Heranwachsenden unter 18 deutlich über dem Durchschnitt. Das hängt mit dem oben besprochenen erhöhten Armutsrisiko von Erwachsenen in der Familienphase zusammen; insbesondere sind es die Eineltern-Haushalte und Haushalte mit drei und mehr Kindern.
Am höchsten ist die Quote dann in der Phase zwischen 18 bis unter 25 Jahren; dies ist typischerweise die Phase der Ausbildung oder des ersten Berufseinstieges; es ist auch die Phase in der nicht wenige Jugendliche den elterlichen Haushalt und die damit verbundenen Umverteilungsmöglichkeiten verlassen.
Ar.quote | Ar.quote | Ar.quote | Anteil an den Armen | |
2019 | 2020 | 2021 | 2021 | |
Alter | ||||
Unter 18 | 20,5 | 20,4 | 20,8 | 21,0 |
18 bis unter 25 | 25,8 | 25,9 | 25,5 | 11,4 |
25 bis unter 50 | 14,1 | 14,4 | 14,6 | 27,6 |
50 bis unter 65 | 12,0 | 12,3 | 12,7 | 17,7 |
65 und älter | 15,7 | 16,3 | 17,4 | 22,3 |
Gesamtbev. | 15,9 | 16,2 | 16,6 |
In den beiden mittleren Lebensphasen geht die Ar.quote deutlich zurück; insbesondere nach dem Ende der typischen Familienphase liegt sie nur noch zwischen 12 und 13%.
Das Risiko von Altersarmut lag viele Jahre eher unter dem Durchschnitt der Gesamtbevölkerung; mit dem 1. und dem 2. Coronajahr wird der Durchschnitt erstmals erreicht bzw. leicht überschritten. Vieles spricht dafür, dass dieses Problem in den folgenden Jahren weiter zunehmen wird.
Die geschlechtsspezifische Ar.quote unterscheidet sich wegen der Transfermechanismen in gemischtgeschlechtlichen Partnerschaften nur geringfügig; auf die dennoch bedeutsamen geschlechtsspezifischen Unterschiede war zuvor bereits verwiesen worden. Die beobachtbaren Unterschiede in den geschlechtsspezifischen Quoten gehen vermutlich zum einen auf mehrheitlich weibliche Alleinerziehende zurück; zum anderen sind es die Unterschiede in der Lebenserwartung von Männern und Frauen, die dann bei Frauen zu einer Phase des Alleinlebens führen, in der oft nur abgeleitete Versorgungsleistungen verfügbar sind.
Ar.quote | Ar.quote | Ar.quote | Anteil an den Armen | |
2019 | 2020 | 2021 | 2021 | |
Geschlecht | ||||
Männlich | 15,2 | 15,3 | 15,7 | 46,8 |
Weiblich | 16,6 | 17,0 | 17,5 | 53,2 |
Das Zusammenwirken von Alter und Geschlecht kann in der folgenden Tabelle beobachtet werden.
Ar.quote | Ar.quote | Ar.quote | Anteil an den Armen* | |
2019 | 2020 | 2021 | 2021 | |
Männlich | ||||
18 bis unter 25 | 24,7 | 24,4 | 23,8 | 5,5 |
25 bis unter 50 | 13,7 | 13,9 | 14,1 | 13,5 |
50 bis unter 65 | 11,5 | 11,7 | 12,0 | 8,4 |
65 und älter | 13,5 | 13,9 | 15,1 | 8,6 |
Weiblich | ||||
18 bis unter 25 | 27,0 | 27,5 | 27,3 | 5,8 |
25 bis unter 50 | 14,6 | 14,8 | 15,2 | 14,1 |
50 bis unter 65 | 12,6 | 12,9 | 13,4 | 9,4 |
65 und älter | 17,4 | 18,3 | 19,3 | 13,6 |
Tab. 4: Alter und Geschlecht
Die Armut bei den Heranwachsenden wird sich vermutlich kaum zwischen Männern und Frauen unterscheiden. Deutliche Unterschiede setzen dann in der Phase der Ausbildung bzw. Berufseinmündung ein; eventuell fallen auch bereits die Anfänge der Familienphase in diese Alterspanne. Auch der Rückgang der Quoten in der mittleren Lebensphase ist bei Frauen schwächer ausgeprägt; wahrscheinlich ist dies durch die eher weiblichen Alleinerziehenden bedingt. Die dann wieder deutlich unterschiedenen Ar.quoten von älteren Männer und Frauen spiegeln ihre unterschiedlichen Erwerbskarrieren aber auch ihre unterschiedlichen Lebenserwartungen.
Haushaltstypen
Ar.quote | Ar.quote | Ar.quote | Anteil an den Armen | |
2019 | 2020 | 2021 | 2021 | |
Einpersonenhaushalt | 26,5 | 27,8 | 28,1 | 34,3 |
Zwei Erwachsene ohne Kind | 8,7 | 8,7 | 9,2 | 15,7 |
Sonstiger Haushalt ohne Kind | 8,8 | 9,8 | 10,3 | 8,8 |
Ein(e) Erwachsene(r) mit Kind(ern) | 42,7 | 40,4 | 41,6 | 9,1 |
Zwei Erwachsene und ein Kind | 8,8 | 9,0 | 8,7 | 4,6 |
Zwei Erwachsene und zwei Kinder | 11,0 | 11,4 | 11,1 | 8,3 |
Zwei Erwachsene und drei oder mehr Kinder | 30,9 | 31,2 | 31,6 | 9,9 |
Sonstiger Haushalt mit Kind(ern) | 19,3 | 20,9 | 22,0 | 9,1 |
Die mit Abstand höchsten Ar.quoten finden sich bei Alleinerziehenden und bei Paaren mit drei und mehr Kindern. Bei den einen ist es vermutlich das eingeschränkte Erwerbspotential; bei den anderen kommt noch die höhere Belastung durch drei und mehr Kinder hinzu. Obwohl diese Risikogruppen in der Wahrnehmung von Armut oft eine zentrale Rolle spielen machen sie zusammen weniger als 20% der Armutspopulation aus. Weitaus größer ist der Anteil der Single-Haushalte, die mit inzwischen 28% eine recht hohe und deutlich angestiegene Quote aufweisen. Hier wird (wie bei Alleinerziehenden) deutlich, dass eine größere Zahl von Erwachsenen eben auch ein größeres Umverteilungspotential birgt; d.h. die Corona bedingten Risiken von Arbeitslosigkeit und Kurzarbeit können kaum abgefedert werden. Das wird deutlich, wenn man die Lage der Ein-Erwachsenenhaushalte mit denen von Paarhaushalten ohne oder mit bis zu zwei Kindern vergleicht; ihre Ar.quote liegt deutlich unter dem Bevölkerungsdurchschnitt.
Erwerbsstatus
In der folgenden Tabelle wird erkennbar, dass Armut insbesondere Personen betrifft, die nicht erwerbstätig sind. Sie machen zwei Drittel aller Armen aus; ihre Quote liegt zwischen 23 und 24%. Zu etwa gleichen Teilen sind es Heranwachsende, Menschen im Ruhestand und sonstige Nichterwerbspersonen (z.B. sogenannte Hausmänner und -frauen bzw. nicht erwerbstätige Alleinerziehende, bei denen die privaten bzw. die öffentlichen Transfers nicht zum Überschreiten der Grenzeinkommen ausreichen).
Ar.quote | Ar.quote | Ar.quote | Anteil an den Armen | |
2019 | 2020 | 2021 | 2021 | |
Erwerbstätige | 8,0 | 8,7 | 8,8 | 26,8 |
– Selbständige (inkl. mith. Fam.ang.) | 9,0 | 13,0 | 13,1 | – 3,5 |
– Abhängig Erwerbstätige | 7,9 | 8,3 | 8,4 | – 23,3 |
Erwerbslose | 57,9 | 52,0 | 48,8 | 5,5 |
Nichterwerbspersonen | 23,1 | 22,6 | 23,7 | 67,7 |
– Rentner*innen und Pensionär*innen | 17,1 | 17,5 | 17,9 | – 23,5 |
– Personen im Alter von unter 18 Jahren | 20,8 | 20,5 | 21,0 | – 20,7 |
– Sonstige Nichterwerbspersonen | 42,8 | 38,9 | 41,8 | – 23,5 |
Tab. 6: Erwerbsstatus
Letzteres trifft auch für viele der arbeitslosen Männer und Frauen zu; ihre Ar.quote ist zwar leicht gesunken, liegt aber immer noch bei fast 50%. Hier offenbaren sich die Folgen der Reform der Arbeitslosenversicherung im Jahr 2005. Erwerbstätige haben demgegenüber ein eher unterdurchschnittliches Armutsrisiko, das auch in der Corona-Phase nur wenig ansteigt; dies betrifft vor allem die Gruppe der Selbständigen (vor allem die Solo-Selbständigen) und die Mithelfenden Familienangehörigen.
Qualifikation
Ar.quote | Ar.quote | Ar.quote | Anteil an den Armen | |
2019 | 2020 | 2021 | 2021 | |
Qualifikationsniveau der (Haupteinkommens-bezieher*in) | ||||
Niedrig | 41,7 | 38,9 | 39,5 | 36,4 |
Mittel | 15,2 | 16,2 | 16,3 | 50,1 |
Hoch | 5,9 | 6,5 | 6,6 | 13,4 |
Qualifikationsniveau der Befragten (mind. 25 Jahre) | ||||
Niedrig | 32,9 | 31,0 | 32,1 | 36,8 |
Mittel | 12,4 | 13,3 | 13,6 | 49,6 |
Hoch | 6,2 | 6,9 | 6,9 | 13,5 |
Die größten Armutsrisiken hängen quer zum Lebensverlauf mit einem niedrigen Bildungsabschluss zusammen. Das gilt für den eigenen Abschluss und mehr noch für den Abschluss des Haupteinkommensbeziehenden in einem Haushalt.
Migration und Staatsangehörigkeit
Ar.quote | Ar.quote | Ar.quote | Anteil an den Armen | |
2019 | 2020 | 2021 | 2021 | |
Staatsangehörigkeit | ||||
Ohne deutsche Staatsangehörigkeit | 35,2 | 35,9 | 35,3 | 27,3 |
Mit deutscher Staatsangehörigkeit | 13,2 | 13,3 | 13,9 | 72,7 |
Migrationshintergrund | ||||
Mit Migrationshintergrund | 27,8 | 28,0 | 28,1 | 46,1 |
Ohne Migrationshintergrund | 11,7 | 11,8 | 12,3 | 53,9 |
Prozesse der Migration bedingen nicht selten einen Bruch im Lebens- und Erwerbsverlauf, wenn es nicht gelingt am Arbeitsmarkt Fuß zu fassen, wenn (formale) Qualifikationen fehlen oder nicht anerkannt werden, wenn berufliche Netzwerke fehlen. Dementsprechend ist das Armutsrisiko von Menschen ohne deutsche Staatsbürgerschaft aber auch von Menschen mit Migrationshintergrund im allgemeinen deutlich höher als im Bevölkerungsdurchschnitt. Das führt dann dazu, dass sich die Gruppe der Armen zu mehr als 45% aus Menschen mit einem Migrationshintergrund zusammensetzt.
Regionale Unterschiede der Armutsrisikoquoten
Eine große Stärke der Einkommensermittlung mit Daten des Mikrozensus liegt darin, dass die Stichprobe eine regionale Aufschlüsselung der Daten bis auf die Ebene der Anpassungsschichten erlaubt; das sind etwa große Kreise oder Regierungsbezirke mit durchschnittlich mehr als 500.000 Einwohner_innen.
Mit der Entscheidung für eine relative Armutsrisikoquote entsteht die Frage, für welche Gebietseinheit man den Referenzmedian berechnet. Im Sinne des Gleichheitsgebots in einem Nationalstaat wird man für den Median Deutschland plädieren. Will man stärker berücksichtigen, welche Lebenserfahrungen mit knappen Einkommen verbunden sind, müsste man wissen, mit wem sich Menschen heutzutage vergleichen; wählen sie einen globalen Vergleichsmaßstab, einen europäischen oder nationalen oder umgekehrt sogar einen regionalen Maßstab. Das lässt sich kaum verallgemeinernd bestimmen; man sollte jedoch wissen, dass z.B. die Wahl eines regionalen Medians (Bundesländer) zu völlig anderen Armutsquoten führt. Das lässt sich mit dem Regionalatlas der Statistischen Ämter des Bundes und der Länder erkunden.
Bereits auf der Ebene der Bundesländer waren deutliche Unterschiede in der Ausprägung von Armutsrisiken aber auch in den Entwicklungstrends deutlich geworden. Das lässt sich als ein Hinweis darauf lesen, dass für eine Erklärung der Armutsrisiken auch auf länderspezifische Unterschiede zurückgegriffen werden muss. Das sind zum einen Unterschiede in der Prosperität, in der Branchen- und Beschäftigungsstruktur; zum anderen sind dies Unterschiede, die unterhalb der eher bundesweiten Sozialpolitiken mit länderspezifischen Regulierungen in Zusammenhang stehen; schließlich sind es auch Unterschiede in der durchschnittlichen Haushaltsstruktur, im Migrationsgeschehen etc. Sieht man einmal von Bremen ab, variiert die landesspezifische Ar.quote um immerhin 7 Prozentpunkte.
Landesar.quote | min. Ar.qu. | max. Ar.qu. | |
Bayern | 12,6 | 9,0 | 17,1 |
Baden-Württemberg | 13,9 | 12,1 | 16,0 |
Brandenburg | 14,5 | 13,4 | 16,8 |
Schleswig-Holstein | 15,0 | 11,9 | 18,4 |
Saarland | 16,1 | ||
Rheinland-Pfalz | 16,5 | 15,5 | 18,8 |
Sachsen | 17,1 | 15,6 | 19,5 |
Hamburg | 17,3 | ||
Niedersachsen | 17,9 | 14,8 | 22,6 |
Mecklenburg-Vorpommern | 18,1 | 15,3 | 20,5 |
Hessen | 18,3 | 17,7 | 20,1 |
Nordrhein-Westfalen | 18,7 | 14,6 | 21,7 |
Thüringen | 18,9 | 15,8 | 20,4 |
Sachsen-Anhalt | 19,5 | 17,5 | 21,1 |
Berlin | 19,6 | ||
Bremen | 28,0 | 26,8 | 33,5 |
Unterhalb der Landesebene sind es dann insbesondere die regional sehr spezifischen Branchen- und Beschäftigungsstrukturen, aber auch die Haushaltsstrukturen, die die Ar.quoten vermutlich beeinflussen. Dabei wird deutlich, dass auch innerhalb der Bundesländer mit eher geringen Ar.quoten wie z.B. Bayern große Binnenunterschiede bestehen. Tendenziell fallen diese Binnendifferenzen in den alten Bundesländern höher aus als in den neuen. So gehören neben Bayern auch Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Bremen und Schleswig-Holstein zu den Ländern mit einer Binnendifferenz von mehr als 6 Prozentpunkten.
Während der vorangegangene Abschnitt verdeutlichen konnte, dass man es in biografischer Perspektive mit erheblichen Unterschieden der Ar.quote zu tun hat, sieht man nun, dass auch die regionalen Strukturen und die sich darin ausdrückenden wirtschaftlichen, politischen und sozialen Unterschiede einen wichtigen Einfluss auf die Ar.quoten haben.
Kommentare
Die Diskussion um den paritätischen Armutsbericht soll im Folgenden zunächst an Beiträgen aus der Süddeutschen Zeitung aus dem Juni 2022 skizziert werden. Dann geht es aber auch darum, wie der Bericht im Kontext der wissenschaftlichen Armutsforschung und der daran anschließenden sozialpolitischen Debatten einzuschätzen ist.
Beiträge der Süddeutschen Zeitung
Unter dem Titel »Wer wirklich arm ist« nimmt Roland Preuss am 15.6.2022 eine Darstellung und Bewertung des paritätischen Armutsberichts 2022 vor. Entlang von eigenen Einschätzung sowie von Stellungnahmen des Statistischen Bundesamtes und sozialwissenschaftlicher Expert_innen werden folgende Aspekte des Berichts problematisiert:
- Wie bereits erwähnt wird die Verknüpfung der Armutsrisikoquoten aus verschiedenen Erhebungsjahren zu einer Zeitreihe infrage gestellt, da die Daten aus den Pandemiejahren erhebungsbedingt eine Reihe von Besonderheiten aufweisen. Damit steht auch in Frage, ob von einem Armutsrekord gesprochen werden kann.
- Zudem werden die grundsätzlichen Probleme eines relativen Armutsmaßes verdeutlicht. Dabei wird auch auf alternative Verfahren der Erfassung von Mangelsituationen verwiesen.
- Ergänzend wird eingefordert, dass neben Einkommen stets auch Vermögenswerte zu betrachten seien.
- Schließlich wird auf die Heterogenität der Armutspopulation verwiesen, die z.B. eine nicht unerhebliche Zahl von Studierenden und Auszubildenden enthält. Diese Gleichstellung von Armen und die Dramatisierung der Quote sei einer Debatte um wirksame Strategien der Armutsbekämpfung nicht dienlich.
Letzteres Argument thematisiert die weiterreichenden politischen Folgen, die eine solche Form von Armutsberichterstattung (»Niedergangsdiskurse«) für die Wahrnehmung der durchaus funktionierenden Sozialsysteme in Deutschland habe. In dem Kommentar von Roland Preuss wird die Kritik an dem Alarmismus weiter ausgeführt; so verpuffe das Bemühen immer neuer Extreme und die »leiseren, differenzierteren Teilnehmer dieser Debatte« werden »viel weniger gehört als die lauten Vereinfacher« (SZ vom 16.6.2022). Armut sei ein Problem, das Aufmerksamkeit verdiene, auch wenn die Quote niedriger ausfalle.
Diesen Einschätzungen kann man sich zunächst nur anschließen; es ist aber auch zu fragen, ob damit schon alles gesagt ist. Dazu soll der Bericht zum einen im Kontext der wissenschaftlichen Armutsforschung analysiert werden; zum anderen geht es etwas grundsätzlicher um die Möglichkeiten der Verknüpfung von sozialwissenschaftlicher Analyse und Sozialpolitik.
Der Armutsbericht im Kontext der Armutsforschung
Aus der Sicht der wissenschaftlichen Armutsforschung lassen sich folgende Kritikpunkte benennen:
- In dem Bericht wird unterstellt, dass Armut in einem entwickelten Sozialstaat ein zusammenhängendes Phänomen, ein offensichtliches soziales Problem, darstellt. Armut wird dabei als ein einfach zu erfassendes essenzielles Phänomen begriffen, das sich über die berechneten Quoten oder die angeführten Zitate aus Befragungen problemlos erfassen lasse.
Dem ist nicht so, wenngleich nicht zu leugnen ist, dass in der Gegenwartsgesellschaft nicht wenige von solchen Armutssituationen betroffen sind. D.h. die berechneten Quoten dürfen nicht ungebrochen als Armutsindikator verwendet werden; vielmehr sind es zunächst Verteilungsindikatoren (vgl. Kleimann et al. 2020, S. 261), die auch Phänomene der relativen Einkommensarmut beleuchten. - Der Bericht vermeidet es, andere Ansätze der Armutsforschung und die darüber gewonnenen Erkenntnisse zu berücksichtigen. Das impliziert auch, dass keinerlei theoretische Überlegungen herangezogen werden, wie Armut in einem entwickelten Sozialstaat zu begreifen sei. In diesem Sinne ist es sehr problematisch, wenn sich der Bericht des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes mit dem Titel eines Armutsberichts schmückt, wo es doch seit der Jahrtausendwende eine Serie von Armuts- und Reichtumsberichten und dahinter stehenden sozialwissenschaftlichen Gutachten gibt, die bei aller möglichen Kritik wesentliche Fortschritte in der Armutsforschung erbracht haben. (vgl. Wagner 2013 a b und Amith Ochoa/ Yildiz 2019)
Ein Blick in den 6. Armuts- und Reichtumsbericht zeigt z.B.,
– dass der Anteil von Personen mit materiellen Deprivation kontinuierlich rückläufig ist (S. 52),
– dass die verschiedenen Einflussfaktoren auf die längerfristigen Veränderungen der Einkommensverteilung (Gini-Indices) und die Quoten der relativen Einkommensarmut oft gegenläufig wirken (S. 67f); insbesondere die Zuwanderung seit dem Jahr 2005/6, die verbesserten Potentiale der Haushalte (höhere Bildung, größere Arbeitserfahrungen, zunehmendes Alter) und die die Veränderungen im System der Steuern und Sozialabgaben erhöhten die relativen Armutsrisikoquoten; dämpfend wirkte vor allem die positive Beschäftigungsentwicklung (vgl. Kleimann et al. 2020, S. 295). - Der Bericht des Verbandes unterstellt, dass sich aus der Beobachtung und rudimentären Aufschlüsselung von Daten, Erkenntnisse über soziale Strukturen (soziale Missstände) ableiten lassen und dass damit unmittelbar sozialpolitische Interventionen abgeleitet und begründet werden können; das wird am Ende des Abschnitts noch genauer ausgeführt.
- Der Bericht reiht sich in einen ritualisierten Ungleichheitsdiskurs ein (vgl. Haßdenteufel 2019 und Lorke 2015),
der eine fortschreitende Polarisierung bzw. Spaltung der Nationalgesellschaft konstatiert (vgl. Wagner 2022),
der Ungleichheiten auf materielle Ungleichheiten in vertikaler Perspektive reduziert (also Ungleichheiten im Kontext von Sexismus und Rassismus ausblendet) und
der Ungleichheiten allein in einen nationalstaatlichen Horizont begreift (also Fragen von europäischen und globalen Ungleichheiten und die komplexen Praktiken der Migration ausblendet).
D.h. der Bericht fällt weit hinter den Stand der wissenschaftlichen Armutsforschung zurück. Die empirischen Analysen suggerieren zudem, dass die aufgestellten politischen Forderungen alternativlos und gut begründet seien.
Verhältnis von Armutsforschung und Armutspolitik
Man kann diesen Typ von Bericht und die sich daran regelmäßig entspannenden Debatten als ein Lehrstück begreifen, an dem ganz unterschiedliche Akteure beteiligt sind und in dem es vielleicht auch andere ›Bösewichte‹ gibt als einen überspannten Wohlfahrtsverband. Es ist ein Lehrstück:
- für die komplexen Beziehungen zwischen wissenschaftlicher Sozialstrukturanalyse und Sozialpolitik im Allgemeinen und
- für die Mängel der wissenschaftlichen Armutsforschung bzw. für die Probleme der (medialisierten) sozialpolitischen Diskurse im Besonderen.
Ein Wohlfahrtsverband ist eine politische Organisation, die sich für die Belange von sozial Benachteiligten (in Deutschland) einsetzt. Dieser Aufgabe versucht der Paritätische nachzukommen; man muss die dort verfolgte Argumentation aber auch kritisch hinterfragen. Dabei geht es vor allem um die Frage, wie die empirische Analyse mit dem politischen Forderungskatalog zusammengebracht werden kann.
Idealtypisch lässt sich der Prozess von der wissenschaftlichen Analyse von Sozialstrukturen zu Maßnahmen der sozialpolitischen Interventionen in vier Schritte untergliedern. Die ersten beiden Schritte folgen den Logiken der sozialwissenschaftlichen Analyse; die letzten beiden Schritte sind in den Logiken des politischen Debatte zu begreifen.
- Am Anfang steht die von einer spezifischen Fragestellung geleitete empirische Analyse eines sozialen Phänomens; im Kontext der Armutsforschung z.B. die Erhebung der Einkommenssituation in einem nationalgesellschaftlichen Rahmen.
- Danach erfolgt eine theoretisch geleitete Analyse dieser Daten, in der versucht wird, die zu analysierenden Phänomen in ursächlichen Zusammenhängen darzustellen. Am Ende steht demnach eine möglichst konsistente sozialwissenschaftliche Argumentation, die zum Verständnis des interessierenden sozialen Phänomens beitragen kann.
- Im Kontext der sozialpolitischen Debatten geht es dann um eine Bewertung und Gewichtung von sozialen Problemen (vgl. Albrecht/ Groenemeyer 2012), z.B. im Kontext eines Nationalstaats oder der Europäischen Union. Das impliziert immer auch eine zeitspezifische Priorisierung von Problemlagen. So müssen z.B. die Probleme von Niedrigeinkommen und möglichen Armutslagen mit anderen drängenden Problemen in Verbindung gebracht werden (so z.B. mit den Jahrhundertaufgaben, die aus Klimawandel und Artensterben erwachsen, mit Ungleichheiten im europäischen und im globalen Kontext, mit Problemen des Sexismus und Rassismus).
- Schließlich geht es um die Frage, welche regulativen bzw. sozialpolitischen Interventionen am besten geeignet sind, um das fokussierte soziale Problem zu lindern; d.h. es geht ausgehend von der sozialwissenschaftlichen Zusammenhangsanalyse um die Frage, welcher Typ von Intervention, welche Strategie verfolgt werden sollte.
Mit dieser idealtypischen Unterscheidung sind die Probleme der sozialwissenschaftlichen Analyse wie die der sozialpolitischen Debatten nur sehr grob skizziert; dennoch kann bereits diese einfache Unterscheidung dazu beitragen, die Kurzschlüsse des paritätischen Armutsberichts aufzuzeigen:
- Zunächst einmal fehlt jenseits der vom Statistischen Bundesamt bereitgestellten Aufschlüsselungen jegliche Analyse der Daten. Das ist nicht unbedingt die Aufgabe eines Wohlfahrtsverbandes, und der Paritätische steht damit auch nicht allein; es ist letztlich auch ein Hinweis auf theoretisch konzeptionellen Defizite der sozialwissenschaftlichen Armutsforschung.
- Zum zweiten lässt der Bericht die Frage der politischen Bewertung aus, indem die Probleme der relativen Einkommensarmut (in einem entwickelten Sozialstaat eines prosperierenden Industrielandes) als ein soziales Problem darstellt, das keiner weiteren Begründung bedarf. Dieses Vorgehen ist insofern problematisch, weil es die Debatten um Sozialpolitik etwa auf den Stand der 1970er Jahre zurückwirft; damals ging es (ein wenig zugespitzt) um den Ausbau des Sozialstaats in einer männlich und weiß dominierten (auf fossilen Rohstoffen gegründeten) Industriegesellschaft.
- Zum dritten wird auch die Frage der einzuschlagenden Strategien kaum systematisch erörtert; die Forderungen zielen entweder auf die direkte Erhöhung von Leistungen oder auf die Reduzierung von Kosten. Die vielfältige Palette klassischer (regulative, distributive und infrastrukturelle Politiken, vgl. Bäcker et al. 2020, S. 5f) und neuerer Strategien (Empowerment, der Antidiskriminierungspolitik, Verbesserung der Verwirklichungschancen) der Sozialpolitik bleibt unberücksichtigt. Dass Sozialpolitik, Gleichstellungspolitik, Migrations- und Integrationspolitik zusammen gedacht werden müssen (und mit Politiken gegen Klimawandel und Artenschwund verknüpft werden müssen), wird in dem Paritätischen Armutsbericht und den dort entwickelten Forderungen unterschlagen.
Fazit
Aus der Perspektive der wissenschaftlichen Armutsforschung kommt man nicht umhin, dem Bericht des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes gravierende Mängel zu bescheinigen, die noch über die medial vorgebrachten Einwände hinausgehen.
Aus der Perspektive der wissenschaftlichen Sozialstrukturanalyse kann das Urteil milder ausfallen; hier kann man die gelieferten Daten – sie stehen der wissenschaftlichen Öffentlichkeit noch lange nicht zur Verfügung, der neueste scientific-use-file des Forschungsdatenzentrums enthält die Daten des Jahres 2019 – jenseits der Lesart des Verbandes als eine zusätzliche Informationsquelle über soziokulturelle Veränderungen (oder Stabilitäten) insbesondere in den Corona-Jahren begreifen.
Literatur
- Albrecht, Günter/ Groenemeyer, Axel (Hrsg.) (2012): Handbuch soziale Probleme. Wiesbaden: Springer VS.
- Bäcker, Gerhard/ Naegele, Gerhard/ Bispinck, Reinhard (2020): Sozialpolitik und soziale Lage in Deutschland. Wiesbaden: VS
- Becker, Irene; Hauser, Richard (2003): Anatomie der Einkommensverteilung. Ergebnisse der Einkommens- und Verbrauchsstichproben 1969 – 1998. Berlin: Ed. Sigma
- Bundesregierung (2021): Lebenslagen in Deutschland. Der Sechste Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung
- Geißler, Heiner (1980): Die neue soziale Frage. Analysen u. Dokumente. Freiburg im Breisgau, Basel, Wien: Herder
- Haßdenteufel, Sarah (2019): Neue Armut, Exklusion, Prekarität. De Gruyter, Berlin/München/Boston.
- Kleimann, Rolf et al. (2020): Analyse der Einkommens- und Vermögensverteilung in Deutschland. Begleitforschung zum Sechsten Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung, Tübingen,
Institut für Angewandte Wirtschaftsforschung e.V. (IAW) - Lorke, Christoph (2015): Armut im geteilten Deutschland. Die Wahrnehmung sozialer Randlagen in der Bundesrepublik Deutschland und der DDR. Frankfurt am Main/New York, Campus
- Smith Ochoa, Christopher/ Yildiz, Taylan (2019): Der Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung im Ungleichheitsdiskurs, HBS – Working Paper der Forschungsförderung, Nummer 121, März 2019.
- Wagner, Gert G. (2013a): Anmerkungen zur Geschichte und Methodik des Armuts- und Reichtumsberichts. In: Hirschel, Dierk/Paic, Peter/Zwick, Markus (Hrsg.): Daten in der wirtschaftswissenschaftlichen Forschung. Wiesbaden: Springer Gabler.
- Wagner, Gert G. (2013b): Zur Aussagekraft und Relevanz des Armuts- und Reichtumsberichts. In: WiSt – Wirtschaftswissenschaftliches Studium, Jahrgang 42 (2013), Heft 5, S. 223–223
- Wagner, Gert G. (2022): Das Narrativ der unaufhaltsam steigenden Ungleichheit geht an der Lebenswirklichkeit der meisten Menschen vorbei. In: Zeitschrift für Politikwissenschaft 32 (1), S. 15–35
- Weischer, Christoph (2022): Stabile UnGleichheiten. Eine praxeologische Sozialstrukturanalyse. Wiesbaden: Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH; Springer VS.