Mit der Unterscheidung von vertikalen und horizontalen Ungleichheiten werden in Sozialstrukturmodellen neben sozioökonomischen (vertikalen) Ungleichheiten auch (horizontale) Ungleichheiten (z.B. Geschlecht, Alter, Nationalität, Ethnie oder Region) berücksichtigt.
Horizontale Ungleichheiten bei Sorokin
Der russische bzw. US-amerikanische Soziologe Pitirim Sorokin hatte bereits in den 1920er Jahren von einem zweidimensionalen Sozialraum gesprochen, um Verhältnisse der sozialen Distanzierung und der sozialen Mobilität beschreiben zu können. An zwei Zitaten lassen sich seine Überlegungen verdeutlichen. »Since relations of all these kinds are substantial components of the system of social coordinates, it is evident that the social space is a universe of many dimensions; and the more differentiated is the population, the more numerous are the dimensions. (…) For the sake of a simplification of the task it is possible, however, to reduce the plurality of the dimensions into principal classes, provided that each is to be subdivided into several subclasses. These two principal classes may be styled the vertical and the horizontal dimensions of the social universe« (1927 S. 7).
D.h. die von Sorokin vorgeschlagene zweidimensionale Ordnung ist eher der Anschaulichkeit denn einer inhaltlichen Argumentation geschuldet. »The interrelations of individuals, as well as those of groups, are thought of either as situated on the same horizontal Ievel, or as hierarchically superimposed upon each other. Shifting from group to group sometimes does not involve any social rise or descent; at other times it is thought of as inseparable from the vertical dimensions. A social promotion is thought of as a social ascent; a degradation, as a social sinking« (S. 8). Während er die vertikale Dimension als eine soziale Hierarchie begreift, entlang der man auf- oder absteigen kann, bleibt die horizontale Dimension bei ihm noch recht unbestimmt.
Horizontale Ungleichheiten in der deutschsprachigen Sozialstrukturforschung
In der deutschsprachigen Sozialstrukturforschung wird seit den 1990er Jahren die Differenzierung von vertikalen und horizontalen Ungleichheiten vorgenommen. Als vertikale Ungleichheiten werden die in der Klassen- und Schichtungsforschung genutzten sozioökonomischen Differenzierungen (z.B. nach Stellung im Produktionsprozess, Beruf oder Einkommen) begriffen. Horizontale Ungleichheiten gehen z.B. auf Unterschiede nach Geschlecht, Alter, Nationalität, Ethnie oder Region zurück. Während für die vertikale Dimension mit Schichtindices Vorschläge vorliegen, wie die verschiedenen sozioökonomischen Charakteristika zusammengeführt werden können, sind entsprechende Indices für die Horizontale angesichts der Vielgestalt der angeführten Merkmale nicht denkbar.
Die folgende Darstellung illustriert eine zweidimensionale Perspektive, indem Berufsgruppen nach ihrem durchschnittlichen Nettoäquivalenzeinkommen und ihrer durchschnittlichen Ausbildungszeit sozialräumlich verortet werden; es wurden nur Erwerbstätige berücksichtigt. Die Zahl der Bildungsjahre wird rechnerisch ermittelt, indem für die erworbenen schulischen (7-13) und beruflichen (0-5) Abschlüsse eine bestimmte Zahl von Bildungsjahren angenommen wird; nach der Addition ergibt sich ein Wert zwischen 7 und 18 Bildungsjahren. Man kann sicherlich darüber streiten, ob die Variable Bildungsjahre im Sinne einer horizontalen Ungleichheitsdimension zu interpretieren ist. Dagegen spricht, dass die Bildungsabschlüsse in hohem Maße das durchschnittliche Einkommen beeinflussen; umgekehrt kann man jedoch auch argumentieren, dass sich in den Bildungsjahren weit mehr ausdrückt. So ist die Bildungszeit auch als eine Zeit zu verstehen, in der sich Menschen persönlich oder kulturell entwickeln, in der Orientierungsmuster, Lebensstile und soziale Netzwerke ausgebildet werden. In letzterem Sinne ist die folgende Grafik zu interpretieren.
Über die Stellung im Beruf lassen sich Berufsgruppen unterscheiden, deren durchschnittliches (!) Einkommen sich um den Faktor vier unterscheidet. In der Horizontalen werden Unterschiede sichtbar, die bei fast acht Bildungsjahren liegen. Wenn man einmal von den Differenzierungen im Qualifikationsniveau absieht, werden die noch immer deutlich voneinander geschiedenen Gruppen der Arbeiter, Angestellten und Beamten sowie die Selbstständigen bzw. Freiberuflichen erkennbar. Darüber entstehen auch im 21. Jahrhundert noch immer distinkte Sozialräume, die sich in ihren ökonomischen und kulturellen Kapitalien, aber auch in der symbolischen Anerkennung unterscheiden.
Literatur
Sorokin, Pitirim A. 1927: Social Mobility, New York: Harper & Row