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Fischer/Grandner 2019: Globale Ungleichheit

Das von Karin Fischer und Margarete Grandner herausgegebene Lehrbuch gibt einen Überblick über Konzepte und Analysen zu globalen sozialen Ungleichheiten.

Überblick:

Thematische Struktur

Grundlagen globaler Ungleichheit

In der Einführung (Kapitel 1) machen die Herausgeberinnen deutlich, dass soziale Ungleichheiten ein bedeutsames soziales Phänomen seien, dem man sich nur in einer globalen Perspektive annähern könne. Sie verweisen auf die Verwobenheiten von regionalen, nationalen und globalen Ungleichheiten; diese werden als gesellschaftlich bedingtes und damit veränderbares Phänomen begriffen. Globale Ungleichheiten werden im Sinne Therborns als ein multidimensionales Phänomen verstanden, wobei vitale, existenzielle und Ressourcenbedingte Ungleichheiten unterschieden werden. Die Autorinnen ergänzen den Ansatz Therborns um eine intersektionale Perspektive. Schließlich wird auf die institutionelle Stabilisierung von Ungleichheiten verwiesen. Am Ende steht ein erster Ausblick auf theoretische Ansätze zur Erklärung von globalen Ungleichheiten; ihm ist aber die Einschätzung vorangesetzt, dass sich kein alles überlagernder Wirkmechanismus ausmachen lasse. (S. 22). Im Kapitel 2 werden auf der Basis verschiedener Indikatoren (insbesondere HDI) globale Trends der Entwicklung von Ungleichheiten ausgemacht. Es wird erkennbar, dass es in fast allen Dimensionen seit dem 19. Jahrhundert zu fundamentalen Verbesserungen gekommen ist und auch die Ungleichheiten zwischen den Weltregionen bei wesentlichen Indikatoren (Bildung und Gesundheit) deutlich, bei anderen (politische Rechte, Löhne und Einkommen) ein wenig zurückgehen.

Globale Ungleichheit in historischer Perspektive

Nachdem im Kapitel 3 zunächst die Frage des Beobachtungsortes und der Begrifflichkeiten erörtert wurde, legt die Autorin ihre theoretischen Ansätze dar. In Abgrenzung zu Modernisierungstheorien rekurriert sie auf historische Imperialismus-, Dependenz- und Weltsystemtheorien. In ihren historischen Ausführungen untersucht sie vor allem das transatlantische Handelsdreieck sowie die Handelsbeziehungen zwischen Europa und Asien. In Anlehnung an Andre Gunder Frank geht sie von einer Westverschiebung der Weltwirtschaft aus. Am Ende verweist sie auf die langfristigen Entwicklungen der Weltindustrieproduktion zwischen 1750 und 1913. In einem Exkurs werden zudem die verschiedenen Erklärungsansätze dargestellt, die sich mit der Entstehung der ›Great Divergence‹ befassen. In Kapitel 4 geht es um die spezifische Geschichte von Kolonialismus und Sklaverei in der Karibik und um die daraus entstandenen Forderungen nach einer Wiedergutmachung.

Globale Arbeit

Das 5. Kapitel widmet sich der Entwicklung der globalen Arbeit, den Arbeitskämpfen und den Prozessen der Klassenbildung. Der Autor unterscheidet systematisch die Entwicklungen in Europa von denen des globalen Südens. Während es in Europa zu einer weitgehenden Regulierung von Arbeit kam, sei der Aufbau derartiger Sozialsysteme im Süden nicht möglich gewesen (S. 122). Vor diesem Hintergrund wird dann die Entwicklung von Arbeitskämpfen und der Ausbau von Interessenverbänden und Gewerkschaften untersucht. Die beiden Exkurse befassen sich mit der Arbeit von NGO´s in der Textil- und in der Elektronikindustrie.

Theorien globaler Ungleichheit

Das theoretische Spektrum wird im 6. Kapitel zunächst entlang eher marxistischer (klassische und neue Imperialismustheorien) und eher entwicklungstheoretischer Ansätze (Modernisierungs-, Dependenz-, Weltsystemtheorien) strukturiert. Daneben werden Theorie dargestellt, die sich mit den ›kulturellen‹ Dimensionen globaler Ungleichheit befassen (Rassismustheorien, Theorien der sozialen Anerkennung). Schließlich werden verschiedene Ansätze der Gegenwartssoziologie dargestellt (Weiß, Rehbein/ Souza und Therborn). Die Angebote einer Systematisierung bleiben leider recht formal, wenn affirmative und kritische Theorien, vertikale und horizontale Ungleichheiten und politökonomische und kategoriale Perspektiven gegenübergestellt werden.

Intersektionale Perspektiven

Im 7. Kapitel wird die Entwicklung der intersektionalen Analyse von Ungleichheitsverhältnissen nachgezeichnet und es wird eine Erweiterung der intersektionalen mit einer transnationalen bzw. globalen Perspektive eingefordert. Die intersektionale Perspektive wird schließlich an Beispielen aus der Pflege-, der Tourismus- und der Sexarbeit illustriert. Der Exkurs befasst sich mit lateinamerikanischen Arbeitskräften in Spanien.

Ökonomische Perspektiven

Im 8. Kapitel wird eine Geschichte der Globalisierung seit dem 16. Jahrhundert skizziert. Dabei wird die Frage verfolgt, ob sich Prozesse der Konvergenz ausmachen lassen. Am Ende wird deutlich, dass es zwar zu erheblichen Wachstumsprozessen in semiperipheren Regionen gekommen ist, wesentliche Strukturen globaler Ungleichheit aber fortbestehen (S. 205). Der Exkurs befasst sich mit den Wirtschaftsabkommen zwischen der EU und afrikanischen Ländern. Im 9. Kapitel wird insbesondere auf Basis der Daten von Milanovic die Entwicklung und der heutige Stand der Welteinkommensverteilung rekonstruiert. Eine zentrale Rolle spielt am Ende die von Milanović favorisierte ›Elefantenkurve‹, die insbesondere das Wachstum der Weltmittelschichten aufzeigt. Das 10. Kapitel rekonstruiert die Prozesse der Finanzialisierung und bringt sie mit der Frage nach globalen Ungleichheiten in Zusammenhang. Dabei werden direkte und indirekte Effekte der Finanzialisierung herausgearbeitet. Die Exkurse befassen sich mit Praktiken der Vermögensverwaltung (Blackrock) und der Steuervermeidung (Apple). Im 11. Kapitel geht es auf der Basis der Forbes-Liste und von Datensätzen zur globalen Vermögensverteilung um die branchenspezifische und die regionale Verteilung des globalen Vermögens. Ein Exkurs befasst sich mit dem Murdoch-Imperium.

Ökologische Perspektiven

In dem 12. Kapitel wird aufgezeigt, in welch engem Zusammenhang die Entwicklungen von Wirtschaftswachstum und Ressourcenverbrauch stehen. D.h. die darüber entstehenden globalen ökonomischen Ungleichheiten gehen unmittelbar mit gravierenden ökologischen Ungleichheiten einher. Die Exkurse befassen sich mit dem globalen Einsatz von Glyphosat und mit der Wasserwirtschaft in Peru.

Gewalt und Krieg

Im 13. Kapitel wird der Frage nachgegangen, wie Gewaltverhältnisse und Kriege mit der Entwicklung sozialer bzw. globaler Ungleichheiten zusammenhängen. Die dazu vorliegenden Befunde sind jedoch eher widersprüchlich, so dass sich keine klaren Zusammenhangsaussagen treffen lassen.

Globale Gerechtigkeit

Das 14. Kapitel gibt schließlich einen kompakten Überblick über verschiedene Theorien der globalen Gerechtigkeit.

Kommentare

Das Lehrbuch gibt einen guten Überblick über wichtige Themen und Theorien globaler Ungleichheiten. Es enthält neben 14 inhaltlichen Kapiteln die bereits erwähnten eher kurz gehaltenen Exkurse. Darüber hinaus werden jeweils auch sogenannte ›Lernfragen‹ gestellt.

Im Unterschied zu vielen anderen Lehrbüchern, die eher als Monographie oder in Koautorschaften entstanden sind, haben die Leser_innen es hier mit einer Vielzahl von Autor_innen und ihren spezifischen Ansätzen und Themenzuschnitten zu tun. Das ist auf der einen Seite sinnvoll, um unterschiedliche Perspektiven auf Verhältnisse globaler Ungleichheit darzustellen; andererseits werden damit aber auch hohe Anforderungen an die Lesenden gestellt. Sie sind mit Autor_innen konfrontiert, die eher Prozesse der Konvergenz ausmachen (z.B. bei den Einkommen oder HDI´s), andere arbeiten mit eher dichotomen Gegenüberstellungen (Nord-Süd, Zentrum-Peripherie).  Zudem sind sie gefordert, sich neben der wissenschaftlichen Analyse auch mit normativen Ansätzen und der Perspektive von NGO´s und sozialen Bewegungen auseinanderzusetzen. Nicht zuletzt kommt es durch die Vielzahl von Autor_innen auch zu mancherlei Redundanzen, insbesondere bei der Darstellung theoretischer Konzepte.

Schließlich ist anzumerken, dass über die Auswahl der Autor_innen und theoretischer Konzepte doch eine gewisse Schieflage entsteht, indem wichtige Beiträge z.B. aus den neueren globalgeschichtlichen oder wirtschafts- und sozialgeschichtlichen Forschungen zu kurz kommen.

Inhaltsübersicht

Kapitel 1: Globale Ungleichheit. Eine Einführung (Karin Fischer, Margarete Grandner)

Kapitel 2: Menschliche Entwicklung in einer ungleichen Welt (Andreas Exenberger)
Exkurs: Bildungsungleichheit und ihre Beharrlichkeit. Das Beispiel Venezuela (Margarita Langthaler)

Kapitel 3: Die Entstehung der „Dritten Welt“. Geschichte der globalen Ungleichheit (Andrea Komlosy)
Exkurs: Theorien und Debatten über die „Great Divergence“ (Jonas M. Albrecht)
Exkurs: Peripherisierungsprozesse im östlichen Europa zwischen dem 15. Jahrhundert und dem Ersten Weltkrieg (Klemens Kaps)

Kapitel 4: Globale Ungleichheiten in der longue durée. Kolonialismus, Sklaverei und Forderungen nach Wiedergutmachung (Claudia Rauhut, Manuela Boatcă)
Exkurs: Der „Mau-Mau“-Aufstand in Kenya (Gerhard Hauck)

Kapitel 5: Globale Arbeit, Arbeitskämpfe und Klassenbildung in historischer und globaler Perspektive (Marcel van der Linden)
Exkurs: Initiativen zur Verbesserung von Arbeitsstandards in der Bekleidungsindustrie (Nora Lohmeyer, Elke Schüßler)
Exkurs: Einen Koloss ins Wanken bringen (Martina Sproll)

Kapitel 6: Theorien globaler Ungleichheit (Karin Fischer, Bernhard Leubolt)

Kapitel 7: Globale Achsen der Ungleichheit. Intersektionalität und/als verflochtene Machtverhältnisse (Julia Roth)
Exkurs: Stabilität in der Krise. Eine intersektionale Analyse migrantischer Arbeit in Spanien (Johanna Neuhauser)

Kapitel 8: Globalisierung und Ungleichheit (Axel Anlauf, Stefan Schmalz)
Exkurs: Freihandelsabkommen und Ungleichheit (Jan Grumiller, Bernhard Tröster)

Kapitel 9: Die Weltkarte der Einkommensungleichheit (Karin Fischer)
Exkurs: Ein frischer Blick auf gesellschaftliche Ungleichheit. Das Konzept der Extraktionsrate nach Branko Milanović (Andreas Exenberger)

Kapitel 10: Finanzialisierung und globale Ungleichheit (Jakob Kapeller, Bernhard Schütz, Benjamin Ferschli)
Exkurs: Die Macht der internationalen Vermögensverwalter. Das Beispiel BlackRock (Jakob Kapeller, Bernhard Schütz, Benjamin Ferschli)
Exkurs: Für einen Apfel und ein Ei. Steuerdumping am Beispiel von Apple
(Martina Neuwirth)

Kapitel 11: Reichtum, Macht und Vermögensungleichheit – global betrachtet (Karin Fischer)
Exkurs: Reich und rechts. Das globale Medienimperium der Familie Murdoch (Karin Fischer)

Kapitel 12: Globale ökologische Ungleichheit (Anke Schaffartzik)
Exkurs: Ungleiche Pestizidbelastung in der globalen Bioökonomie. Das Beispiel Glyphosat (Anne Tittor, Maria Backhouse)
Exkurs: „Es waren einmal die weißen Riesen in der Cordillera Blanca …“ Klimawandel, Ressourcen und andine Wasserwelten in Peru (Martina Neuburger)

Kapitel 13: Gewalt, Krieg und Ungleichheit (Angela Meyer, Gregor Giersch)
Exkurs: Globale Ungleichheit und die Debatte um imperiale Herrschaft (Helmut Krieger)

Kapitel 14: Theorien globaler Gerechtigkeit (Anke Graneß)
Exkurs: Henry Odera Oruka und das menschliche Minimum (Anke Graneß)
Exkurs: Die Yasuní-ITT-Initiative und das „gute Leben“ (Jana Winter)

Literatur

Karin Fischer/ Margarete Grandner (Hrsg.) 2019: Globale Ungleichheit. Über Zusammenhänge von Kolonialismus, Arbeitsverhältnissen und Naturverbrauch. Wien: Mandelbaum