In diesem Beitrag werden die Ergebnisse der Europa-Wahl 2024 vor dem Hintergrund regionaler Wirtschafts- und Sozialstrukturen analysiert.
Überblick:
- Regionale Sozialstrukturen
- Korrespondenzanalyse
- Interpretation der Korrespondenzanalyse
- Anmerkungen zur Datenaufbereitung
Regionale Sozialstrukturen
Regionale Sozialstrukturen, wie sie sich z.B. auf der Ebene von Kreisen oder kreisfreien Städten beobachten lassen, sind ein komplexes Phänomen, in dem sich die Wirtschaftsgeschichte, die politisch-institutionelle Geschichte und die Geschichte der Bevölkerung bzw. Migration spiegelt. Für die Gegenwart spielen zum einen die Entscheidungen von wirtschaftlichen (ein Unternehmen, das sich ansiedelt, expandiert oder abwandert) und politischen (eine Bundes-/ Landesregierung bzw. Kommune, die Infrastrukturen bereitstellt, Wohnungen baut etc.) Akteuren eine wichtige Rolle. Zum anderen sind es dann aber auch Menschen, die entscheiden, wo sie arbeiten, wohnen oder sich zivilgesellschaftlich engagieren wollen; darüber entstehen dann auch politische oder betriebliche Räume, in denen Parteien, soziale Bewegungen, Gewerkschaften und betriebliche Interessenvertretungen agieren.
Diese Entscheidungen hängen eng zusammen; so siedelt sich ein großes Unternehmen nur an, wenn qualifizierte Arbeitskräfte und Infrastrukturen verfügbar sind, wenn die Beschäftigten eine Wohnung und einen Kita-Platz finden und vor rassistischen Anfeindungen geschützt sind. Umgekehrt wandern Menschen ab, wenn sie keine Ausbildungseinrichtungen, Arbeitsplätze oder Lebenspartnerinnen finden. All diese Entscheidungen drücken sich räumlich und baulich aus, d.h. darüber entstehen dann städtische, periphere oder ländliche Regionen, mit spezifischen Formen der (landwirtschaftlichen, infrastrukturellen oder gewerblichen) Flächennutzung und spezifischen Baulichkeiten (z.B. Wohn-, Verwaltungs- oder Gewerbegebäude). Die räumlichen und baulichen Ausdrücke dieser ökonomischen, politischen und individuellen bzw. haushaltlichen Entscheidungen stellen dann ein regionales Erbe dar, das uns als ›Stadt‹ und ›Land‹ erscheint und mit dem wir einschlägige Geschichten verknüpfen. Es gibt aber auch weniger gut sichtbare regionale Erbschaften, die in politischen und zivilgesellschaftlichen Institutionen, im Habitus regionaler Sozialgruppen oder in regionalen Erzählungen stecken. All dies kann mit ein wenig Geduld in der folgenden Darstellung (mehr oder weniger vermittelt) abgelesen werden.
Korrespondenzanalyse
In der folgenden Grafik, die auf eine Korrespondenzanalyse zurückgeht, wurden einerseits die kreisspezifischen Wahlergebnisse der Europawahl und andererseits wichtige demografische und sozioökonomische Eckdaten dieser Kreise dargestellt. Erläuterung zum statistischen Verfahren bzw. zur Interpretation finden sich unter diesem Link; Anmerkungen zur Datenaufbereitung folgen am Ende dieses Beitrags
Für die regionalen Daten wurden die von der Bundeswahlleiterin aufbereiteten Strukturdaten für die kreisfreien Städte und Landkreise (Link) sowie die Mikrozensus-Daten aus der Regionaldatenbank Deutschland (Link) genutzt. Die Eckdaten stammen zumeist aus den Jahren 2019-2023.
Auswertung der Korrespondenzanalyse
Zunächst ist es erforderlich, sich der Analyseeinheit bewusst zu werden. Es sind Gebietseinheiten bzw. die hierfür verfügbaren Informationen; es sind weder Angaben über Personen und Haushalte, noch über politische (z.B. Kommunen) und wirtschaftliche (z.B. Unternehmen) Akteure. D.h. wenn in der grafischen Darstellung z.B. von Alter, Migrationshintergrund und Einkommen die Rede ist, sind dies keine personellen, sondern regionale Merkmale; es sind also Gebietseinheiten, mit einem höheren oder niedrigen Anteil von Menschen mit einem bestimmten Alter, einer Migrationsgeschichte oder einem bestimmten Einkommen.
Sozioökonomische und demografische Strukturen
In der Horizontalen (ca. 40% der Inertia) wird auf den ersten Blick eine Stadt-Land-Strukturierung erkennbar. Das lässt sich an der Nutzung der Fläche ablesen, wo die Anteile der Flächen für Siedlung und Verkehr (Bod.Fl.Sied+Verkehr) und der Flächen für Vegetation und Gewässer (Bod.Fl.Veg+Gew) einander gegenüberstehen. Dementsprechend sind in den beiden linken Quadranten nahezu alle Städte lokalisiert und es finden sich die drei Stadtstaaten sowie die stärker verstädterten Bundesländer. Sozioökonomisch korrespondiert mit der Stadt-Land-Struktur die Branchenverteilung. Ganz rechts Regionen mit einem (überdurchschnittlich) hohen Anteil von Beschäftigten in der Land- und Forstwirtschaft (Sv%Land/F.), rechts der Mitte ein hoher Anteil im produzierenden Gewerbe (Sv%Prod.); im mittleren Bereich die überall zu findenden Branchen Handel, Gastgewerbe, Verkehr (Sv%HandVerk) und die sonstigen Dienstleistungen (Sv%übr.Dienst). Im linken Teil schließlich die eher in den Städten angesiedelten Branche der öffentlichen und privaten Dienstleistungen (Sv%ö.p.Dienst). Auch der Anteil der Personen in einem sozialversicherten Beschäftigungsverhältnis (% Sozialvers. bzw. % N-Sozialv.) geht mit der Stadt-Land-Struktur einher (s. Anmerkg.).
In der Vertikalen (ca. 20% der Inertia) ist die regionale Einkommenslage (Eink …) von zentraler Bedeutung; in beiden unteren Quadranten finden sich vor allem die einkommensstarken städtischen und ländlichen Regionen, oben eher die Regionen mit den geringeren Prokopfeinkommen. Damit korrespondiert dann auch ein höherer Anteil an Bezieherer:innen von Sozialleistungen (% SGB II).
Der Anteil der Bevölkerung mit einem Migrationshintergrund (Bev.ohne Mig. bzw. Bev.mit Mig.) bzw. ohne eine deutsche Staatsbürgerschaft (% deutsch bzw. % ausländ.) führt zu einer diagonal strukturierten Verortung der jeweiligen Kommunen. Unten links die einkommensstarken und verstädterten Kommunen mit einem höheren Anteil von Migrierten oben rechts die Regionen mit geringen Einkommen und einem geringeren Anteil von Migrant:innen.
Die Altersstruktur (Alt …) ist auf der regionalen Ebene nur schwach ausgeprägt. Im Zentrum, die große Gruppe der 35 bis 59-Jährigen und deren Kinder bzw. Jugendliche. Junge Erwachsene (meist in der Ausbildung) finden sich überdurchschnittlich in den einkommensstarken Städten; ältere Erwachsene überdurchschnittlich in den einkommensschwächeren ländlichen Räumen. Bildungsunterschiede spielen auf der regionalen Ebene keine bedeutende Rolle.
Politische Strukturen
Wenn man nun das Wahlverhalten bei der Europawahl 2024 betrachtet, so zeigen sich deutliche Zusammenhänge (die Frage von ursächlichen Beziehungen ist gesondert zu diskutieren) zwischen den sozioökonomischen bzw. -demografischen und den politischen Strukturen. Grob vereinfacht ist eine Vierteilung zu beobachten. In den einkommensstarken verstädterten Regionen erzielen die FDP und die Grünen überdurchschnittliche Ergebnisse, in den einkommensstarken ländlichen Regionen sind es die CDU/CSU und die Freien Wähler. In den weniger einkommensstarken Städten sind die SPD und die Linke überdurchschnittlich gewählt worden, in den einkommensschwachen ländlichen Regionen sind AfD und BSW besonders stark vertreten.
Um einer kurzschlüssigen Lesart zu begegnen, werden hier exemplarisch die Wahlergebnisse für vier Kreise aus unterschiedlichen Quadranten wiedergegeben.
CDU/ CSU | Grüne | SPD | AfD | Linke | FDP | Freie Wähler | Volt | BSW | andere Part. | |
Offenbach S | 22,5% | 15,4% | 15,9% | 11,2% | 6,0% | 6,0% | 1,4% | 3,9% | 5,8% | 11,9% |
Oldenburg S | 20,4% | 22,7% | 18,6% | 7,6% | 4,1% | 5,5% | 0,6% | 5,9% | 4,7% | 9,8% |
Mansfeld-Südharz | 23,3% | 1,6% | 7,9% | 36,3% | 4,5% | 2,0% | 1,2% | 0,4% | 15,1% | 7,7% |
Miesbach | 43,1% | 12,0% | 6,7% | 10,6% | 0,9% | 5,0% | 8,8% | 2,0% | 3,7% | 7,4% |
Bundesgebiet | 30,0% | 11,9% | 13,9% | 15,9% | 2,7% | 5,2% | 2,7% | 2,6% | 6,2% | 8,9% |
In dieser Korrespondenzanalyse wurden sozioökonomische bzw. -demographische und politische Variablen gemeinsam analysiert. Wenn man nur die sozioökonomischen bzw. -demographischen Merkmale untersucht, zeigt sich eine ähnliche Struktur, die Ost-West-Teilung ist jedoch etwas schwächer ausgeprägt. So finden sich z.B. in dem einkommensschwächeren ländlichen Quadranten auch einige Kreise aus Schleswig-Holstein. Die oben herausgestellten Grundmuster bleiben aber unverändert.
Interpretation der Korrespondenzanalyse
Zunächst muss berücksichtigt werden, dass die Betrachtungsebene (räumliche Aggregate auf der Kreis- bzw. der Landesebene) und die letztliche Handlungsebene (einzelne geheim Wählende) auseinanderfallen. Von zentraler Bedeutung ist die Frage, wie Wahlentscheidungen getroffen werden: sind es (sozial betrachtet) eher autonome Entscheidungen, die von Individuen getroffen werden oder spielen nicht auch die umgebenden sozialen Netzwerke (Mikromilieus, die z.B. über Familien, Freundeskreise, Verwandtschaften, Arbeitszusammenhänge oder Vereine entstehen) und regionale Öffentlichkeiten (Regionalmilieus, die sich z.B. über Medien, politische Organisationen und Öffentlichkeiten herausbilden) eine wichtige Rolle. Aus der temporalen Perspektive ist zu fragen, in welchem Maße Wahlentscheidungen im ›Hier und Jetzt‹ getroffen werden und welche Rolle die individuelle und kollektive Geschichte von Lebens- und Arbeitserfahrungen bzw. von politischen Erfahrungen spielt. Über die Individuen und ihre Beweggründe wie auch über die umgebenden Mikromilieus lassen die hier genutzten Daten keine Aussage zu; sie informieren eher über regionale Einbindungen bzw. über den Durchschnitt der umgebenden Mikromilieus.
Der Befund, dass sich eine klare Ost-West-Strukturierung sowohl auf Basis der sozioökonomisch-soziodemografischen Daten als auch auf Basis der politischen Daten einstellt, legt es nahe, von einer doppelten und nur bedingt verknüpften Erbschaft auszugehen. Das bedeutet, dass die unterschiedliche Geschichte der beiden Landesteile zum einen im Sinne einer sozioökonomischen Erbschaft wirkt. D.h. die regionalen Unterschiede, die bereits im Deutschen Reich zu beobachten sind, die gravierenden ökonomischen und sozialen Unterschiede, die über die Planwirtschaft und den ›Klassenkampf‹ bzw. die selektive Abwanderung (bis 1961 und nach 1989) entstanden sind, und die mit der ökonomisch sozialen Nachwendegeschichte einhergehenden gravierenden ökonomischen Umbrüche wirken zusammen. Dabei sollte beachtet werden, dass mit den wirtschaftlichen Umbrüchen immer auch einschneidende soziale Umbrüche (z.B. die Abwanderung von Selbstständigen, Langzeitarbeitslosigkeit von abhängig Beschäftigten) einhergehen. Zum anderen ist von einer politisch sozialen Erbschaft auszugehen, die mit der Erfahrung von zwei Diktaturen, mit der Zerstörung zivilgesellschaftlicher Strukturen und mit dem Rückzug in den privaten Raum zusammenhängt. Das Charakteristikum dieser Hypothese liegt darin, diese beiden Erbschaften getrennt zu begreifen. So lassen sich die politischen Positionierungen, wie sie in Wahlen zum Ausdruck kommen, nicht auf die noch immer bestehenden sozioökonomischen Unterschiede zurückführen; vielmehr ist beides als eine Erbschaft einer politischen Diktatur und einer zentral verwalteten Wirtschaft zu begreifen.
Anmerkungen zur Datenaufbereitung
- Fehlende, anonymisierte oder geheime Angaben zu einer Gebietseinheit wurden durch die Werte der jeweils übergeordneten Einheit substituiert.
- Für die Schätzung der Einkommensverteilung auf Kreisebene wurde einerseits der in der Regionaldatenbank zu findende kreisspezifische Durchschnittswert der verfügbaren Einkommen der privaten Haushalte 2021 (in EUR je Einw.) genutzt. Andererseits wurde dem Mikrozensus die für das Bundesland und die Gemeindegrößenklasse typische Verteilung von Einkommen entnommen.
- Da sich die bereitgestellten Angaben zu den Sozialversicherten auf den Arbeitsort beziehen, kann die Quote in einigen Fällen mehr als 100% ausmachen.