Wolfgang Knöbl geht in diesem Buch der Frage nach, wie die Soziologie im Laufe ihrer Entwicklung versucht hat, die historische Gewordenheit gesellschaftlicher Verhältnisse zu erfassen.
Überblick:
Thematische Struktur
Wolfgang Knöbl interessiert sich in dieser Studie für die Frage, wie die Soziologie bzw. verschiedene Sozialwissenschaften im Laufe ihrer Entwicklung versucht haben, die historische Gewordenheit gesellschaftlicher Verhältnisse zu erfassen und einen »adäquaten Zugang zur Vergangenheit zu finden« (S. 13). Von zentraler Bedeutung waren dabei großformatige Prozessbegriffe wie Modernisierung, Rationalisierung, Differenzierung oder Individualisierung, »deren Plausibilität und Tragfähigkeit, aber in der Regel nicht hinterfragt« wurde (S. 10). Knöbl macht darauf aufmerksam, dass all diese Prozessbegriffe das Risiko bergen, einer Geschichtsphilosophie aufzusitzen. Der zentralen Frage wird in sechs analytischen Kapiteln nachgegangen, die mit wechselndem Ortsbezug vor allem historisch geordnet sind. In einem ersten Teil geht es um die Entwicklungen bis zum Ende der Weimarer Republik; der zweite Teil fokussiert auf die Entwicklungen seit dem Zweiten Weltkrieg.
Wolfgang Knöbl ist seit 2015 Direktor des Hamburger Instituts für Sozialforschung.
I Sozialtheorie zwischen Geschichtsphilosophie
und Historismus
Im zweiten Kapitel wird Talcott Parsons‘ Ansatz einer normativ gegründeten und eher ahistorischen Sozialordnung mit dem von Raymond Aron konfrontiert, der kritisch fragt, welche Konzepte »zur Fassung der Vergangenheit« (S. 35) verfügbar sind. Knöbl will mit dieser Gegenüberstellung »demonstrieren, dass vielleicht auch eine andere Schwerpunktsetzung in der Entwicklung der Soziologie möglich gewesen wäre, eine, die das Handeln nicht unbedingt in erster Linie aus der Perspektive der Denkmöglichkeiten einer (normativen) sozialen Ordnung thematisiert, sondern eine, welche die historische Situiertheit des Akteurs zum Ausgangspunkt gemacht hätte« (S. 50).
Ausgehend von dieser Gegenüberstellung, wendet er sich im dritten und vierten Kapitel dem Erbe der Geschichtsphilosophie in Deutschland zu, im langen 19. Jahrhundert, dann in der Weimarer Republik. Zunächst geht es um »die Schlachten zwischen der Hegel’schen Geschichtsphilosophie und den vermeintlich rein empirisch verfahrenden historistischen Historikern wie etwa Leopold von Ranke oder Gustav Droysen« (S. 14f). Aber auch die sich Ende des 19. Jahrhunderts etablierenden Sozialwissenschaften standen vor der Frage, wie der Geschichtsphilosophie zu entkommen sei. Er macht das an Max Webers Konzept der ›Rationalisierung‹ deutlich. In der Weimarer Zeit stellt sich das Problem sowohl bei Soziologen (z.B. Alfred Weber, Karl Mannheim oder Norbert Elias) wie bei Sozialphilosophen (z.B. Max Horkheimer oder Walter Benjamin), die Versuche vorlegten, »einen angemessenen Zugriff auf die Vergangenheit zu erlauben und Zeitlichkeit zum Thema zu machen. Jedoch wurde schnell deutlich, dass man daran scheiterte und/oder selbst zu geschichtsphilosophischen Konstruktionen griff, die man nur als ›gewagt‹ bezeichnen konnte« (S. 15).
II Befreiung von Historismus und Geschichtsphilosophie
Im fünften Kapitel geht es um die Karriere der Modernisierungstheorie in den USA und um den Begriff der Moderne. In den Anfängen der Soziologie spielte der Begriff der Moderne keine große Rolle; er kann erst in den 1970er Jahren Fuß fassen (S. 157). Knöbl macht deutlich, dass die Substantivierung (Moderne) das Risiko berge, dem Konzept einen Akteursstatus zuzumessen und dass diese Gefahren aber kaum diskutiert wurden. »Der Modernebegriff avancierte seit den 1970er Jahren zu einem für selbstverständlich erachteten Instrument, von dem aus alle weiteren Analysen ihren Ausgang (…) zu nehmen hatten« (S. 160). Die bereits seit den 1960er Jahren einsetzende Kritik an der Modernisierungstheorie wurde entkräftet, indem man nach und nach die Differenzierungstheorie zum zentralen makrosoziologischen Konzept für die Analyse sozialen Wandels erkor. Interessanterweise folgten der Luhmannschen Argumentation, funktionale Differenzierung zu dem Merkmal der Moderne zu erklären, auch viele Kritiker seines Ansatzes. Geadelt wurde das Konzept schließlich, als es »von höchster geschichtswissenschaftlicher Warte aus verifiziert (…) zu werden schien«. So findet es sich in der Begriffsgeschichte Reinhart Kosellecks wie in der Gesellschaftsgeschichte von Jürgen Kocka und Hans-Ulrich Wehler. Dabei wird die Differenzierungstheorie eng gekoppelt »an jenes Epochenkonzept der Moderne, das in den Sozialwissenschaften selten hinterfragt wird« (S. 176). Knöbl macht deutlich, dass es nur schwer möglich sei, der eingefahrenen Modernedebatte zu entkommen, »weil nicht wenige Soziologen glauben, die Identität und Existenz des Faches hänge an derartig umfassenden Prozessbegriffen und an wagemutigen zeitdiagnostisch angeleiteten epochenkonstituierenden Zäsurbehauptungen« (S. 189).
Das sechste Kapitel befasst sich mit den Versuchen der Soziologie und der Geschichtswissenschaft, Phänomene des sozialen Wandels über die Identifizierung von Prozessen zu analysieren. Nachdem die großen (geschichtsphilosophischen) Erzählungen (der Modernisierung und Evolution, wie des Kapitalismus) in die Krise geraten waren, eröffneten Prozessbegriffe die Möglichkeit, »Sinnzusammenhänge für begrenztere Räume und Zeiten herzustellen« (S. 199). Das bot auch die Chance, ausgehend von einer Prozesserzählung Theoriebausteine zu kombinieren, wie es z.B. im Kontext der Bielefelder Gesellschaftsgeschichte geschah, als Elemente der Modernisierungstheorie mit Kapitalismustheorien verschränkt wurden. Im Folgenden diskutiert Knöbl verschiedene Ansätze, Prozessbegriffe zu konzeptionieren und mit Strukturbegriffen verknüpfen; er fokussiert dabei auf die Debatten in Deutschland und Frankreich. Etwas anders verläuft die Debatte in den USA, wie Knöbl am Beispiel von Andrew Abbott zeigt.
Im siebten Kapitel geht es schließlich um Ansätze, mit denen seit den späten 1980er Jahren versucht wurde, zu einem »reflektierten Umgang mit ›-isierungen‹« zu kommen (S. 239). Knöbl macht in der internationalen Theoriedebatte drei Strömungen aus: In der französischen Debatte war der Strukturbegriff schon früh (Gurwitch) problematisiert worden, auch die Prozessbegriffe wurden diskutiert. In den Debatten um Pfadeffekte ging es um das Aufzeigen jener (materiellen, institutionellen und kognitiven) Beharrungskräfte, die Pfadwechsel erschweren. Als drittes wird auf die Debatten um soziale Mechanismen, insbesondere den Ansatz von Charles Tilly, verwiesen. Ob man diese in ganz unterschiedlichen Feldern geführten Debatten im Sinne eines »wachsende[n] Interesses für erzähltheoretische Fragen« (S. 241) deuten kann, sei dahingestellt. Dennoch ist der Diagnose zuzustimmen, dass »ab den 1980er Jahren (…) das Verhältnis von Erzählung und Erklärung neu konzeptualisiert wurde« (S. 250).
Zu den zentralen Einsichten der erzähltheoretischen Debatten gehört, dass die Sozialwissenschaften mit ihren Narrationen den Ereignissen, »bestimmte Zeit- und Raumordnungen auferlegen« (S. 256) und es gilt, die verschiedenen Zeitbegriffe (S. 258) sowie die zeitliche Konstanz bzw. Identität von zu untersuchenden Phänomenen zu reflektieren. Paul Ricœur macht deutlich, dass Erzählungen die wilde Kontingenz der Ereignisse in eine intelligible Form der Kontingenz (S. 261). bringen und dass ihre explanatorische Kraft auch auf die konfiguratorischen Leistungen (z.B. des Arrangements und der Gewichtung von Ereignissen) zurückgeht. Im Sinne Hayden Whites ist schließlich auch der soziopolitischen und moralischen Einbettungen von Erzählungen nachzugehen. Nach der Diskussion wichtiger sozialwissenschaftlicher Prozessbegriffe (Industrialisierung, Demokratisierung und Individualisierung) wird schließlich für eine reflektierte Anwendung von Prozessbegriffen plädiert.
Im Schlusskapitel rekurriert Knöbl zunächst auf die eingangs dargestellte Kontroverse zwischen Aron und Parsons, um dann die im Titel des Buches favorisierte Relationierung von Soziologie und Geschichte zu diskutieren. Das endet salomonisch, indem er die Disziplinen auf Augenhöhe sieht und auf gemeinsame Problemlagen (z.B. die der Globalgeschichte bzw. die der Globalisierungsdiagnosen) verweist. Er wendet sich schließlich der Soziologie zu und fordert eine »Historisierung der Sozialtheorie« (S. 303). Am Ende müsse es zu einer Verschränkung von handlungstheoretischen Debatten und historischen Prozessanalysen kommen; in jedem Falle müssten dabei auch die kritischen Potentiale der erzähltheoretischen Reflexion genutzt werden.
Kommentare
Knöbl diskutiert in seinem Buch ›große Fragen‹ der Soziologie wie der Geschichtswissenschaft und kann auf eine Vielzahl gemeinsamer Problemstellungen verweisen. Ihm gelingt eine gute und zusammenführende Rekonstruktion wichtiger Debatten. Von großer Bedeutung ist die kritische Bestandsaufnahme der Effekte des Moderne-Konzepts und der Modernisierungs- bzw. Differenzierungstheorien. Auch seinen daraus abgeleiteten Schlussfolgerungen für die Soziologie ist umstandslos zuzustimmen.
Man muss aber auch über die Kosten einer solchen Debatte über ›große Fragen‹ sprechen – z.B. in der Soziologie. Wenn er Parsons eine Schlüsselrolle für die Entwicklung zumisst, liegt er sicher nicht falsch; er unterschätzt jedoch die (auch in Phasen der modernisierungs- bzw. differenzierungstheoretischen Hegemonie) große paradigmatische Vielfalt der Soziologie bzw. der Sozialwissenschaften. Es fehlen all jene Ansätze, die die disziplinäre Trennung immer wieder unterlaufen haben. Die Rezeption Marxscher Theorien bzw. ihrer Versatzstücke, auf die er nur am Rande (z.B. S. 199) verweist, implizierte in beiden Disziplinen immer auch einen Bruch mit jenen disziplinären Grenzziehungen, die mit dem Parsonsschen Konzept der Soziologie einhergingen. Zudem wären hier jene Ansätze aufzuführen, die gemeinhin der Praxistheorie zugerechnet werden; so haben z.B. die Konzepte Pierre Bourdieus sowohl in der Soziologie wie in der Geschichtswissenschaft einen breiten Widerhall gefunden. Auch die Debatten, die von intersektionalen und postkolonialen Ansätzen oder von der Kritik am methodologischen Nationalismus ausgingen, implizierten immer auch eine Neubestimmung disziplinärer Grenzen.
Zudem kommt die starke Differenzierung innerhalb dieser Paradigmen zu kurz. Das wird z.B. deutlich, wenn sich die Debatte um soziale Mechanismen vorwiegend auf Charles Tilly bezieht, eher mikrosoziologische (z.B. Hedström/ Swedberg oder Boudon) oder pragmatische Ansätze (z.B. Neil Gross) aber unberücksichtigt bleiben.
Verglichen mit seiner scharfen Kritik am Verallgemeinerungszwang der Soziologie bleibt Knöbls Plädoyer für reflektierte Prozessbegriffe doch eher zurückhaltend; die in den Kritiken an den latenten Geschichtsphilosophien dieser Konzepte immer wieder vorgebrachten Verweise auf Kontingenzen kommen zu kurz.
Inhaltsübersicht
1. Einleitung
I. Sozialtheorie zwischen Geschichtsphilosophie
und Historismus
2. Wege nicht gegangen: Frühstück in Rom und das Paris der 1930er Jahre
3. Der Weg zurück nach Deutschland: Das lange 19. Jahrhundert und das Erbe der Geschichtsphilosophie
4. Nur das Ziel ist im Weg: Die Republik von Weimar und die Herausforderungen des Historismus
II. Befreiung von Historismus und Geschichtsphilosophie – so oder so
5. Der Weg nach vorn und kein Blick zurück: Auf in die (amerikanische) Moderne
6. Weg von der Geschichte, hin zu Prozessen
7. Auf dem Weg zu einem reflektierten Umgang mit »-isierungen«
8. Schluss
Literatur
Gross, Neil 2009: A Pragmatist Theory of Social Mechanisms, in: American Sociological Review, 74(3), S. 358–379 — https://doi.org/10.1177/000312240907400302
Hedström, Peter/ Swedberg, Richard 1996: Social Mechanisms, in: Acta Sociologica, 39(3), S. 281–308 — https://doi:10.1017/CBO9780511663901
Knöbl, Wolfgang 2022: Die Soziologie vor der Geschichte. Zur Kritik der Sozialtheorie, Berlin: Suhrkamp