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Klassismus

Gamper Kupfer 2024: Klassismus

Der derzeitige Diskurs über Klassismus wird zum einen durch das Feuilleton (und die dort rezipierten Autosoziobiographien) und zum anderen durch verschiedene soziale Bewegungen geprägt. Das Buch von Markus Gamper und Annett Kupfer möchte einen Beitrag zu einer wissenschaftlichen Klärung des Phänomens Klassismus leisten.

Überblick:

Struktur der Argumentation

Die Autor:innen können beim Thema Klassismus kaum auf Vorarbeiten in einem expliziten Sinne zurückgreifen, also wissenschaftliche Darstellungen, die sich systematisch mit dem Thema Klassismus befassen. Umgekehrt gibt es jedoch eine breite Palette von wissenschaftlichen Analysen, in denen Phänomene des Klassismus zum Gegenstand werden. In dieser Besprechung des Buches ist es daher nicht immer leicht, zwischen den Stärken und Schwächen des Buches und den Unzulänglichkeiten bzw. blinden Flecken der zu Grunde liegenden wissenschaftlichen Diskurse zu unterscheiden.

I. Einleitung

In der Einleitung beziehen sich die Autor:innen auf die Thematisierung von Phänomenen des Klassismus in der sozialwissenschaftlichen Literatur. Zusammenfassend konstatieren sie, »dass das Konzept des Klassismus selten in wissenschaftlichen Zusammenhängen Verwendung findet und kaum an wissenschaftliche Theorien rückgebunden ist« (2024, S. 12). Zudem verweisen sie darauf, dass oftmals eine antidiskriminatorische Perspektive auf Klassismus vorherrsche und weniger eine sozialstrukturelle Perspektive.

Sie schlagen dann eine erste Definition von Klassismus vor: Klassismus wird verstanden »als breit angelegte(r) Prozess, der bezogen auf sozioökonomische Klassen(-milieus) einerseits Stigmatisierung und Diskriminierung, andererseits aber eben auch exkludierende Prozesse der Strukturierung und der Schaffung von Klassen und damit die Produktion und Reproduktion sozialer, ökonomischer und kultureller Asymmetrien umfasst. Dazu zählen ebenso Macht- und Herrschaftsstrukturen (…)« (S. 13). Eine weitere Definition folgt am Ende des theoretisch angelegten Kapitels.

In dem Buch fokussieren die Autor:innen auf Klassismus gegenüber unteren Klassen. Das mag im begrenzten Rahmen einer Einführung gerechtfertigt sein; es wird aber dem relationalen Charakter von Klassismus nicht gerecht; man kann ja auch nicht über Sexismus sprechen und nur ein Geschlecht thematisieren.

Am Ende der Einleitung liefern die Autoren einen Überblick über die Geschichte des Klassismusdiskurses in der Wissenschaft wie in sozialen Bewegungen. Dabei kristallisieren sie idealtypisch zwei Positionen heraus. Eine ›sozialstrukturell-ungerechtigkeitsorientierte‹ und eine ›antidiskriminatorische‹ Position.

II. Theoretische Herleitung
Macht und Herrschaft (II.1)

Die Autor:innen gegen davon aus, dass die herausgearbeiteten Idealtypen im Sinne von Macht- und Herrschaftsbeziehungen zusammenhängen. Sie arbeiten dabei jedoch mit recht kühnen Vereinfachungen; so heißt es z.B. einleitend: »Die Legitimierung von Stigmatisierungs- und Diskriminierungsprozessen sowie die Produktion und Reproduktion von vertikalen Sozialstrukturen (›oben‹ und ›unten‹) unterliegen der Durchsetzungsmacht von Interessengruppen in Gesellschaften« (S. 30).

Daran anschließend werden die Konzepte von Macht und Herrschaft mit Bezug auf verschiedene Theoriekonzepte genauer aufgeschlüsselt. Durchgängig werden jedoch, ohne eine weitere inhaltliche Argumentation, bestimmte Theoriekonzepte (z.B. die von Bourdieu und Dahrendorf) als für die Klassismusanalyse geeignet erklärt (S. 40), andere nicht.

Die ›sozialstrukturell-ungerechtigkeitsorientierten Position (II.2)

Die in diesem Abschnitt zusammengefassten sozialstrukturell-ungerechtigkeitsorientierten Positionen sind ausgesprochen heterogen; so werden die recht unterschiedlich lokalisierten Diskurse um soziale Ungleichheiten und Sozialstrukturen (II.2.1-2.5) und Diskurse um soziale Gerechtigkeit (II.2.6) zusammen verhandelt.

Die Darstellung der sozialstrukturellen Ansätze folgt einer begriffsrealistischen Logik (Klasse, Schicht, Milieu), obwohl verschiedentlich auf die angloamerikanische Lesart (social class) verwiesen wird, in der sich diese begrifflichen Differenzierungen kaum wiederfinden. Die Darstellung geht über weite Strecken auf eine Kompilation von ›Lehrbuchwissen‹ zurück. Es ist unklar, was diese Zusammenstellung bringt, weil nur die wenigsten dieser Ansätze sich auch nur ansatzweise mit Fragen des Klassismus befassen. Am Ende werden dann die ›Klassentheorien‹ Bourdieus und die ›Milieutheorien‹ Vesters für das Verständnis von Klassismus als besonders geeignet herausgestellt, weil sie auf die Bedeutung von Lebensstilen für Distinktionsprozesse verweisen (S. 93). Die Vielfalt der Konzepte, die Bourdieu, der ja auch bei Vester eine wichtige Rolle spielt, bereitstellt (Habitus, Inkorporierung, Naturalisierung etc.), wird damit nur ansatzweise ausgeschöpft. Summarisch wird schließlich behauptet, dass Sozialstrukturanalysen nur deskriptiv angelegt seien (S. 94) und dass Klassismusforschung nur aus einer gesellschaftskritischen Perspektive betrieben werden könne (S. 94).

In der Darstellung verschiedener Gerechtigkeitskonzepte (II.2.6) arbeiten die Autor:innen mit einer bei Merkel (2015) – die Quelle findet sich leider nicht im Literaturverzeichnis – entlehnten Idealtypik. Sie unterscheidet markwirtschaftlich-liberale (z.B. Hayek), sozial-liberale (z.B. Rawls) kommunitaristische (z.B. Walzer) und egalitär-soziale (z.B. Marx) Gerechtigkeitstheorien. Die Ansätze werden durchaus differenziert dargestellt; das Fazit ist dann aber doch erschlagend: »KIassismusforscher*innen gehen davon aus, dass der Markt keine Gerechtigkeit herstellen kann, sondern vielmehr auf Kosten unterer Klassen Ungerechtigkeit produziert bzw. konserviert« (S. 106). Jede weitere Debatte erübrigt sich damit.

Die ›Antidiskriminatorische‹ Position (II.3)

In diesem Abschnitt werden verschiedene in der Sozialpsychologie wie in der Soziologie genutzte Konzepte (Stereotype, Vorurteile, Stigmatisierung, Diskriminierung) vorgestellt, die auch für ein Verständnis von Klassismus dienlich sein können. So könne »der Zugang über strukturelle Diskriminierung deutlich machen, dass soziale Ungleichheiten sozial hergestellt werden, indem (in Institutionen) Gleiches ungleich und Ungleiches gleich behandelt wird und derartiges diskriminierendes Verhalten Teilhabemöglichkeiten bewusst oder unbewusst beschränkt oder ermöglicht. Der Fokus auf institutionelle und strukturelle Diskriminierung kann demnach hilfreich sein, um vertikale Gesellschaftsstrukturierungen aufzudecken, die durch Institutionen – jenseits von individuellen Prozessen – produziert und reproduziert werden« (S. 128).

Am Ende des Kapitels wird schließlich der Klassismusbegriff weiter spezifiziert: »Klassismus bezeichnet strukturelle, institutionelle, kulturelle oder auch individuelle Praktiken und Einstellungen, die Menschen aus unteren sozioökonomischen Klassen bzw. Klassenmilieus stigmatisieren und/oder diskriminieren und soziale, kulturelle oder ökonomische Hegemonien produzieren oder reproduzieren« (S. 129).

III. Eine strukturell-kritische Perspektive auf Klassismus

Im dritten Kapitel werden Ansätze behandelt, die Phänomene des Klassismus in einen eher makrosoziologischen Zusammenhang stellen: die Bedeutung des Kapitalismus, das Konzept der Meritokratie, Konzepte der Individualisierung und schließlich Phänomene des Abwärts- bzw. Aufwärtsklassismus. Die Ansätze bewegen sich auf recht unterschiedlichen Ebenen; sie führt allenfalls zusammen, dass sie ›irgendwie‹ mit Klassismus in Zusammenhang stehen.

Insbesondere an den Ausführungen zu Kapitalismus und Individualisierung wird eine recht holzschnittartige Argumentation erkennbar. So sprechen die Autor:innen von durch den »Kapitalismus vorgegebenen Gesellschaftsstrukturen« (S. 135). Das trifft vielleicht auf die positionierenden Effekte des Privateigentums zu; die Autor:innen führen dann aber auch betriebliche Hierarchien und Verfahren der Arbeitsteilung unmittelbar auf den Kapitalismus zurück. Dieses monolithische Verständnis vernachlässigt das Zusammenspiel von Kapitalismen und regulierenden Nationalstaaten, unterschiedliche Phasen und Pfade der Entwicklung von Kapitalismen sträflich.

An der eher empirisch bzw. historisch angelegten Argumentation Becks wird kritisiert, dass damit die Bedeutung von Klassenzugehörigkeiten eingeschränkt werde (S. 149). Das macht auf ein (in meinen Augen) wesentliches Problem in der Argumentation der Autor:innen aufmerksam; sie binden das Phänomen des Klassismus an die ›Existenz‹ von Klassen. Dabei könnten gerade aus den Beckschen Ausführungen wichtige Einsichten gewonnen werden, weil sich mit dem Zurücktreten der Klassenrhetorik im politischen Raum die fortbestehenden Probleme des Klassismus noch stärker der öffentlichen Thematisierung entziehen.

IV. Klassismus in verschiedenen sozialen Feldern

Im vierten Kapitel werden Phänomene des Klassismus in ganz unterschiedlichen gesellschaftlichen Feldern aufgezeigt: bei Beschäftigung bzw. Erwerbslosigkeit, im Bildungs- und Gesundheitssystem, im Rechtssystem, in medialen Darstellungen, in der politischen Repräsentation und schließlich beim Wohnen. Unbestritten werden damit wichtige Felder dargestellt, in denen sich Klassismus äußert. Die Darstellung verbleibt aber im Themenkanon und in der Argumentation der (vollauf berechtigten) klassischen Sozialkritik. Dass Klassismus weit über ungleiche Arbeits- und Lebenschancen hinausgeht, dass er in Institutionen, in Symbolsystemen, in Körpern tief verankert ist, wird nur an wenigen Stellen (z.B. S. 157) deutlich.

In zwei abschließenden Kapitel (V und VI) werden dann Kritiken am Klassismuskonzept diskutiert und ein Fazit gezogen.

Kommentar

Die Autor:innen versuchen mit ihrer Einführung, das Konzept Klassismus genauer zu bestimmen, zu systematisieren, mit empirischen Befunden zu belegen und theoretisch zu unterfüttern. Damit gelingt es ihnen, über die bislang vorherrschenden Klassismusdiskurse hinauszugehen; das Ergebnis bleibt jedoch trotz vieler Anstrengungen durchwachsen. 

Die Systematisierung ist durchaus gelungen, wenngleich es da sicherlich verschiedene Wege geben mag. Auch gegen die empirische Unterfütterung ist nichts einzuwenden. Umgekehrt bleibt jedoch die theoretische Fundierung (in meinen Augen) weit hinter dem Möglichen zurück. Wichtige Ansätze – vor allem die Pierre Bourdieus, bei dem die Beschäftigung mit Klassismus einen wichtigen Teil seiner wissenschaftlichen Arbeit ausmacht – werden kaum genutzt. Andere Ansätze (z.B. aus der Sozialpsychologie wie der Gerechtigkeitsforschung), die durchaus interessante Beiträge zum Verständnis von Klassismus hätten leisten können, werden zunächst dargestellt, dann aber verworfen, weil sie nicht mit einer von den Autor:innen favorisierten ›kritischen Gesellschaftstheorie‹ vereinbar sind.

Es war bereits darauf verwiesen worden, dass Klassismus nicht unbedingt etwas mit Klassen zu tun hat, sondern eher mit Klassierungen. Man kann das vielleicht über einen Vergleich verdeutlichen: so erfordert ja die Analyse von Sexismus auch kein binäres Geschlechterbild. Zudem ist zu konstatieren, dass die Analyse von Klassismus nicht eine wie auch immer geartete Gesellschaftskritik voraussetzt. Diese Verknüpfung entstammt eher der Logik des politischen Feldes der sozialen Bewegungen; für die wissenschaftliche Klärung des Phänomens Klassismus ist eine solche Koppelung hinderlich.

Durch diese Selbstbindung sind die Autor:innen dann auch kaum in der Lage, die Verwicklung ganz unterschiedlicher Akteure in die Phänomene des Klassismus zum Gegenstand der Analyse zu machen. So sind ja wichtige Mythen (Leistung, Bildungsaufstieg, Förderung von Begabten etc.) immer auch von den Organisationen der ›Arbeiterbewegung‹ mitgetragen worden. Befragungsdaten (z.B. des Allbus) zeigen, dass gerade auch untere soziale Gruppen zu Einstellungen neigen, die mit diesen Mythen korrespondieren. Indem die Autor:innen nur auf untere soziale Gruppen fokussieren, entgeht ihnen, dass klassistische Argumentationen auch in vielen Zwischenlagen zu finden sind und sich nicht auf ein polares Oben-Unten reduzieren lassen; dabei kann ja dann noch immer überlegt werden, ob das in jedem Fall als Klassismus zu bezeichnen ist; die Probleme werden ja von den Autor:innen am Beispiel des Konzepts ›Aufwärtsklassismus‹ angesprochen (S. 158f).

Leider wird das Konzept der Intersektionalität und die Möglichkeiten, Klassismus mit Sexismus und Rassismus zusammenzubringen und diese Phänomene vergleichend bzw. historisch zu analysieren, von den Autor:innen nicht genutzt; sie gestehen dies am Ende des Bandes (S. 193) zu. Ein solches Vorgehen hätte viele Vorteile, weil bei Klassismusphänomenen solche Intersektionen allgegenwärtig sind, weil die Kontextualisierung von Klassismus im Spektrum von Prozessen des othering vielerlei Möglichkeiten bietet, Ähnlichkeiten und Unterschiede zu analysieren und schließlich, weil die Debatten um Sexismus und (mit Einschränkungen) auch um Rassismus bereits weiter vorangeschritten sind und so die wissenschaftliche Analyse von Klassismus inspirieren könnten.

Schließlich sei angemerkt, dass sich in Großbritannien in jüngerer Zeit verschiedene Analysen (und rege Debatten) zum Thema Klassismus finden, so z.B. bei Savage (2015) oder bei Friedman/Laurison (2020).

Vielleicht kann man das Buch von Gamper und Kupfer als eine gelungene Zusammenschau des bisherigen Debattenstands begreifen. Einiges wurde bereits geleistet; vieles gibt es noch zu tun. Man sollte diese Unzulänglichkeiten nicht den Verfasser:innen eines Lehrbuchs anlasten.

Inhaltsübersicht

I. Zugänge zum Begriff Klassismus und Orientierungshilfe zum Buch

II. Klassismus: Theoretische Herleitung und Rahmensetzung

1. Macht und Herrschaft als verbindendes Basiselement von Klassismus
2. Theoretische Grundlagen der »sozialstrukturell-ungerechtigkeitsorientierten« Position
3. »Antidiskriminatorische« Position und ihre theoretischen Grundlagen
4. Klassismus – Ein Definitionsversuch

III. Klassismus und seine strukturell-kritische Perspektive

1. »Der kapitalistische Geist als gerechtes Ordnungssystem« – Klassismuskritik und Kapitalismus
2. »Herrschaft durch Leistung« – Meritokratie als klassistisches Konzept
3. »Jede*r ist des eigenen Glückes Schmied« – lndividualisierung(-stheorie) und Klassismus
4. »Arbeitsscheu und faul« – Gesellschaftliche Einstellungen und Abwärtsklassismus
5. Exkurs: Aufwärtsklassismus

IV. Gesellschaftliche Bereiche und darin eingelagerte klassistische Mechanismen

1. Beschäftigung, Erwerbslosigkeit und Klassismus
2. Bildungsklassismus  
3. Gesundheit unter einer Klassismusperspektive
4. Klassismus und Rechtssystem
5. Mediendarstellung und Klassismus
6. Klassismus und politisches System
7. Wohnen und Klassismus

V. Kritik am Klassismuskonzept

VI. Fazit

Literatur

Bourdieu, Pierre 1985: Sozialer Raum und ´Klassen´, in: ders., Sozialer Raum und ´Klassen´. Leçon sur la leçon, Frankfurt: Suhrkamp

Bourdieu, Pierre 1987: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt: Suhrkamp

Friedman, Sam/ Laurison, Daniel 2020: The class ceiling. Why it pays to be privileged, Bristol, UK, Chicago, IL, USA: Policy Press

Gamper, Markus/ Kupfer, Annett 2024: Klassismus, Bielefeld: transcript Verlag

Savage, Mike et al. 2015: Social Class in the 21st Century, London: Penguin