Der deutsche Soziologe Reinhard Kreckel hat in den 1990er Jahren ein Modell von Zentrum und Peripherie entwickelt, um Aussagen über ein ungleichheitsbegründendes Kräftefeld zu machen. Er begreift die Analyse von Sozialstrukturen als eine doppelte Aufgabe: zum einen gelte es, entlang von beobachtbaren Ungleichheiten (z.B. materielle Unterschiede, Hierarchien, symbolisches Kapital) Aussagen über »reale ›soziale Klassen‹« zu machen. Zum anderen »geht es um die (…) gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse, die für die Aufrechterhaltung oder auch Veränderung des jeweils gegebenen Systems sozialer Ungleichheit verantwortlich sind (1992, S. 150)«.
Zur Visulisierung dieses ungleichheitsbegründenden Kräftefeldes nutzt Kreckel das Bild von vier konzentrischen Kreisen:
»1. Im Kernbereich finden wir die (…) Akteure, die sich dem zum korporatistischen Dreieck von Lohnarbeit, Kapital und Staat (…) zuordnen lassen (…): Gewerkschaften, Arbeitgeberverbände und Großunternehmen sowie die (…) Organe der öffentlichen Hand.
2. Um diese herum gruppiert sich ein Kranz von spezialisierten Interessenorganisationen« (S. 164). Hierzu gehören z.B. Wohlfahrtsverbände und Kirchen, Ärzte- oder Bauernverbände.
»3. Des weiteren treten als mögliche Machtfaktoren auch soziale Bewegungen in Erscheinung, die sich mit verteilungsrelevanten Themen befassen. Zu ihnen gehört etwa die Frauen- oder die Umweltbewegung. (…)
4. An der ›Basis‹ des Kräftefeldes schließlich finden wir die sozial strukturierte Bevölkerung selbst, die mit ihren schicht- bzw. milieuspezifischen Handlungspotentialen die gesellschaftlichen Ungleichheitsverhältnisse ins tägliche Leben übersetzt, beispielsweise durch Arbeitsmarktverhalten, Konsumverhalten, Wahlverhalten usw.« (S. 164) .
Quer zu diesem Kräftefeld begreift Kreckel dann die Parteien als institutionelle Vermittlungsinstanzen.
Kommentar
Das von Kreckel vorgeschlagene Modell, das er als einen Ansatz zu einer politischen Soziologie sozialer Ungleichheit begreift, geht über den vorherrschenden Kanon der Sozialstrukturforschung des 20. und 21. Jahrhunderts hinaus. Er nimmt die Marxsche Frage nach gesellschaftlichen Machtverhältnissen auf, stellt sich dann aber der Herausforderung, diese Frage auf der Ebene verschiedener gesellschaftlicher Institutionen präziser zu beantworten, als es eine pauschalisierende Diagnose eines xxx-Kapitalismus tut. Verglichen mit anderen Analysen, die nach gesellschaftlichen Machtgruppen fragen (z.B. Dahrendorf), lenkt Kreckel den Blick weit stärker auf die Bedeutung institutioneller Konstellationen (z.B. das korporatistische Arrangement des Tarifsystems oder der Betriebsverfassung) oder auf die Rolle alter und neuer sozialer Bewegungen.
Man mag einwenden, dass Kreckel mit diesem Modell im nationalstaatlichen Horizont verbleibt, dass wichtige Felder der Reproduktion von Ungleichheiten (z.B. das Bildungssystem) nicht angemessen berücksichtigt sind, oder dass die stabilisierenden Effekte von symbolischen Ordnungen und Prozessen des othering fehlen; all dies sollte aber dann nicht gegen das Modell gerichtet werden, sondern zu Erweiterungen und Ergänzungen einladen.
Literatur
Kreckel, Reinhard 1992: Politische Soziologie der sozialen Ungleichheit, Frankfurt am Main/New York: Campus
Kreckel, Reinhard 1990: Klassenbegriff und Ungleichheitsforschung, in: Berger, Peter A. / Hradil, Stefan (Hrsg.), Lebenslagen, Lebensläufe, Lebensstile. Soziale Welt, Sonderband 7