Im Folgenden werden die Ergebnisse der Bundestagswahl 2025 auf einer regionalen Ebene (Wahlkreise und Bundesländer) untersucht. Zur Visualisierung der Daten wird das statistische Verfahren der Korrespondenzanalyse genutzt. Dabei werden die großen West-Ost-Unterschiede und die etwas geringeren Stadt-Land-Unterschiede deutlich. Man muss jedoch fragen, was sich hinter diesen Labeln ›West und Ost‹ bzw. ›Stadt und Land‹ verbirgt. Zudem wird am Beispiel der AfD versucht, deren Wahlergebnisse zu verstehen.
Überblick:
- Die regionalen Wahlergebnisse
- Fallbeispiele
- Die Bedeutung von Regionen
- Wahlerfolge der AfD
- Fazit
- Methodische Erläuterungen
- Anmerkungen
- Literatur
Die regionalen Wahlergebnisse
Im Unterschied zu einem Koordinatensystem, bei dem Punkte entlang bestimmter Werte eingetragen werden, liefert die Korrespondenzanalyse eine (zwei- oder mehrdimensionale) räumliche Darstellung von Ähnlichkeiten und Unterschieden. Diese muss dann ausgewertet und interpretiert werden, indem man untersucht, wie sich die Datenpunkte in den verschiedenen Dimensionen verteilen.
Dimensionen des regionalen bzw. politischen Raums
In der Grafik werden die beiden Hauptachsen der Korrespondenzanalyse dargestellt. Die horizontale Dimension ist am wichtigsten; sie ›erklärt‹ 51% der beobachteten Unterschiede zwischen den Wahlbezirken bzw. Parteien; die vertikale ›erklärt‹ weitere 31%. Die dritte Dimension, auf die nur im Text eingegangen wird, liefert lediglich einen Beitrag von 11%.
Die horizontale Lagerung steht mit der West-Ost-Struktur Deutschlands in engem Zusammenhang. Mit Ausnahme des Saarlandes finden sich alle westlichen Bundesländer sowie Berlin auf der rechten Seite der Grafik; alle östlichen Bundesländer auf der linken Seite. Auf der Kreisebene gilt dies für die Mehrheit der Wahlkreise. Ähnliches zeigt sich bei den Parteien; hier lassen sich ›Westparteien‹ (CDU/CSU, SPD, FDP und Grüne) und ›Ostparteien‹ (AfD und BSW) unterscheiden. Die Linke und die Sonstigen liegen genau auf der Mittelachse.
Die vertikale Lage der Punkte hängt mit der Stadt-Land-Struktur Deutschlands zusammen. So finden sich die drei Stadtstaaten sowie die Mehrheit der großstädtisch geprägten Wahlbezirke im unteren Bereich der Grafik. Die vertikale Struktur ist jedoch im Osten ein wenig nach unten verschoben; so liegen fast alle östlichen Wahlkreise unterhalb der Mittelachse. Bei den Parteien finden sich auf der rechten Seite die CDU/CSU, die FDP und die Sonstigen oberhalb der Mitte; unterhalb liegen die SPD und die Grünen (sowie die Linke). Auf der linken Seite liegt die AfD stärker im oberen eher ländlichen und das BSW eher im unteren städtisch geprägten Bereich.
Die weniger bedeutende dritte Dimension entzieht sich einer einfachen Erklärung. Aus der Sicht der Parteien liegt nur die SPD in dieser Dimension im positiven Bereich. Viele sehr unterschiedliche Parteien (CDU/CSU, FDP, AfD und BSW) rangieren um den Nullpunkt dieser Dimension. Negative Werte weisen die Linke, die Grünen und die Sonstigen auf.
Insbesondere über die ersten beiden Dimensionen entsteht ein recht klares Bild der Parteien- bzw. der Regionenlandschaft; darin liegt der Vorteil einer solchen Korrespondenzanalyse. Man sollte jedoch immer bedenken, dass diese vermeintliche Klarheit immer auch auf Zuspitzungen zurückgeht. So könnte man meinen, ›der Osten‹ wählt AfD und BSW, der ›Westen‹ CDU/CSU, SPD, FDP und Grüne. Nicht wenige wählen in Ost und West aber auch andere Parteien.
Fallbeispiele
Um dies weiter zu vertiefen, werden exemplarisch einige markante Bereiche der Grafik genauer beleuchtet, indem man auf die der Grafik zu Grunde liegenden Wahlergebnisse zurückgreift.
… Hochburgen der CDU/CSU
Im oberen rechten Quadranten werden einige Hochburgen der CDU/CSU in Bayern aber auch im Westmünsterland erkennbar.
SPD | CDU/CSU | Grüne | FDP | AfD | Linke | BSW | Sonstige | |
Borken II | 17,4% | 42,4% | 10,7% | 4,4% | 13,3% | 5,5% | 3,0% | 3,5% |
Coesfeld/Steinfurt II | 17,9% | 40,2% | 13,5% | 4,3% | 12,6% | 5,5% | 2,8% | 3,2% |
München-Land | 13,0% | 39,1% | 17,2% | 6,3% | 11,7% | 5,0% | 2,6% | 5,1% |
Starnberg/Landsberg am Lech | 11,5% | 38,7% | 16,8% | 5,8% | 13,5% | 5,2% | 2,7% | 5,9% |
… Hochburgen der Grünen und der Linken
Diese Hochburgen finden sich in den großstädtischen westlichen Wahlbezirken am Rand des unteren rechten Quadranten.
SPD | CDU/CSU | Grüne | FDP | AfD | Linke | BSW | Sonstige | |
Hamburg-Mitte | 22,2% | 15,7% | 20,3% | 4,1% | 10,5% | 19,0% | 4,5% | 3,7% |
Hamburg-Altona | 20,6% | 19,5% | 23,7% | 4,7% | 7,3% | 18,0% | 3,3% | 2,9% |
Berlin-Mitte | 15,0% | 13,5% | 21,7% | 4,0% | 8,9% | 27,1% | 6,1% | 3,8% |
Berlin-Friedrichshain-Kreuzberg/Prenzl. Berg Ost | 13,4% | 9,3% | 25,9% | 2,8% | 7,2% | 31,7% | 5,9% | 3,9% |
… Rechte Hochburgen im Westen
Hier wird deutlich, dass sich hohe Anteile für die AfD auch in einigen baden-württembergischen und pfälzischen Wahlkreisen finden. Diese Kreise liegen am linken Rand des eher ländlichen westlichen Blocks.
SPD | CDU/CSU | Grüne | FDP | AfD | Linke | BSW | Sonstige | |
Pirmasens | 17,4% | 30,3% | 5,9% | 4,1% | 27,1% | 4,8% | 5,0% | 5,4% |
Calw | 12,2% | 33,8% | 8,8% | 5,9% | 25,6% | 4,7% | 4,0% | 5,0% |
Rottweil/Tuttlingen | 10,8% | 34,4% | 7,8% | 6,1% | 27,1% | 4,7% | 4,5% | 4,7% |
Zollernalb/Sigmaringen | 11,1% | 36,5% | 7,5% | 5,5% | 26,2% | 4,9% | 4,2% | 4,1% |
… Konservative, rechte und sonstige Parteien im Westen
Diese Wahlkreise finden sich am oberen linken Rand des eher ländlichen westlichen Blocks. Hier weisen konservative, rechte und sonstige Parteien überdurchschnittliche Werte auf; SPD und Grüne fallen weit zurück.
SPD | CDU/CSU | Grüne | FDP | AfD | Linke | BSW | Sonstige | |
Deggendorf | 8,1% | 38,5% | 5,1% | 3,2% | 29,2% | 3,1% | 2,9% | 10,0% |
Rottal-Inn | 7,7% | 38,4% | 5,5% | 3,0% | 26,1% | 3,5% | 2,9% | 12,9% |
Straubing | 8,0% | 39,3% | 5,3% | 3,0% | 27,7% | 3,5% | 2,9% | 10,2% |
Schwandorf | 9,3% | 39,3% | 5,0% | 2,7% | 28,2% | 3,3% | 2,5% | 9,9% |
… Zwischen Ost und West
Zwischen der westlichen und der östlichen Wolke finden sich (links unterhalb der Mitte) westliche Wahlkreise, die auch im Osten liegen könnten und östliche Wahlkreise, die den westlichen nicht unähnlich sind.
SPD | CDU/CSU | Grüne | FDP | AfD | Linke | BSW | Sonstige | |
Oberhavel/Havelland II | 15,4% | 21,7% | 8,4% | 3,6% | 29,3% | 9,3% | 8,8% | 3,5% |
Duisburg II | 25,2% | 19,6% | 6,8% | 2,7% | 24,6% | 11,1% | 5,8% | 4,4% |
Gelsenkirchen | 24,1% | 22,7% | 6,5% | 3,0% | 24,7% | 9,4% | 5,1% | 4,5% |
Dresden I | 9,9% | 19,9% | 12,3% | 3,9% | 27,4% | 13,8% | 8,4% | 4,5% |
… Großstädte im Osten
Am unteren Rand, etwas links der Mitte, sind eine Reihe von großstädtischen ostdeutschen Bezirken lokalisiert. Alle weisen hohe Anteile der Linken, einige aber auch überdurchschnittliche Anteile anderer Parteien (BSW, Grüne und AfD) auf.
SPD | CDU/CSU | Grüne | FDP | AfD | Linke | BSW | Sonstige | |
Berlin-Treptow-Köpenick | 12,7% | 15,3% | 12,0% | 2,9% | 21,6% | 21,7% | 9,2% | 4,7% |
Berlin-Lichtenberg | 11,9% | 13,8% | 10,8% | 2,5% | 22,4% | 23,5% | 10,1% | 5,0% |
Leipzig II | 11,2% | 15,8% | 16,3% | 3,1% | 18,7% | 23,9% | 7,1% | 4,0% |
Erfurt/Weimar/Weimarer Land II | 10,5% | 17,6% | 8,8% | 2,9% | 26,9% | 22,1% | 9,0% | 2,3% |
… Hochburgen der AfD im Osten
Am linken Rand liegen in der mittleren Lage jene Wahlkreise, in denen der Anteil der AfD bei mehr als 45% liegt. Sie zeichnen sich aber auch durch überdurchschnittliche Anteile des BSW aus.
SPD | CDU/CSU | Grüne | FDP | AfD | Linke | BSW | Sonstige | |
Bautzen I | 6,5% | 20,0% | 2,9% | 3,1% | 46,0% | 7,8% | 9,2% | 4,5% |
Görlitz | 6,4% | 19,8% | 3,4% | 2,9% | 46,7% | 7,7% | 9,0% | 4,2% |
Sächsische Schweiz-Osterzgebirge | 6,0% | 19,3% | 4,0% | 3,2% | 46,5% | 7,4% | 9,2% | 4,5% |
Erzgebirgskreis I | 6,6% | 20,6% | 2,2% | 3,0% | 46,2% | 7,0% | 9,9% | 4,6% |
… Die dritte Dimension
Wie erwähnt, ist die Interpretation der (nicht besonders einflussreichen) dritten Dimension nicht ganz einfach. Positive Werte in der dritten Dimension weisen die ersten beiden Wahlkreise auf; hier finden sich zwei SPD-Hochburgen. Niedrige Werte in der dritten Dimension finden sich in den beiden unteren Wahlkreisen, in denen die Linke sehr hohe Werte erreicht.
SPD | CDU/CSU | Grüne | FDP | AfD | Linke | BSW | Sonstige | |
Aurich/Emden | 28,6% | 23,3% | 8,2% | 3,3% | 21,0% | 7,6% | 4,2% | 3,9% |
Duisburg II | 25,2% | 19,6% | 6,8% | 2,7% | 24,6% | 11,1% | 5,8% | 4,4% |
Berlin-Friedrichshain-Kreuzberg/Prenzl. Berg Ost | 13,4% | 9,3% | 25,9% | 2,8% | 7,2% | 31,7% | 5,9% | 3,9% |
Leipzig II | 11,2% | 15,8% | 16,3% | 3,1% | 18,7% | 23,9% | 7,1% | 4,0% |
Die Bedeutung von Regionen
Für die Interpretation der ›Kreisdaten‹ ist zu klären, wie diese mit den letztlichen Entscheidungen beim Ausfüllen eines Stimmzettels zusammenhängen.
Mesokontexte und Mikrokontexte
Individuen treffen eine freie Wahl. Diese Wahlentscheidungen werden jedoch in biografischen und sozialen Kontexten getroffen. Was man auf der ›Kreisebene‹ (Wahlkreise oder Landkreise) sieht, sind weniger die Mikrokontexte (Familie, Verwandtschaft, Arbeitszusammenhänge oder Vereine) dieser Wahlentscheidungen, sondern eher die Mesokontexte (z.B. lokale Öffentlichkeiten und Normalitäten, lokale Milieus, regionale Erwerbsmöglichkeiten und Infrastrukturen). Diese Mesokontexte prägen jedoch die Möglichkeitsräume, in denen sich Mikrokontexte herausbilden können: die Möglichkeiten, Partner:innen und Freund:innen zu treffen, einen Arbeitsplatz zu finden, (angstfrei) an Öffentlichkeiten teilzuhaben etc. Vermutlich liegt hier auch ein Schlüssel zum Verständnis von Zu- und Abwanderung.
Die Meso- und Mikrokontexte fungieren einerseits einschränkend, indem sie Handlungsoptionen (z.B. im Erwerbssystem oder am Partnerschaftsmarkt) begrenzen. Andererseits wirken sie aber auch ermöglichend, indem man gegebene Chancen (z.B. im Bildungs- oder Erwerbssystem) nutzt oder indem man sich gegen bestehende Strukturen auflehnt.
Die ›Kreisebene‹ informiert demnach zum einen über die gegenwärtigen sozioökonomischen, soziopolitischen, soziokulturellen und soziodemografischen Rahmenbedingungen; mithin über die Möglichkeiten, zu arbeiten, teilzuhaben und zu leben.
Zum anderen informiert die ›Kreisebene‹ über die regionale bzw. lokale Geschichte von Wirtschaft und Arbeit, von Politik, Zivilgesellschaft und Kultur oder von Zu- und Abwanderung. Diese Geschichte steckt in den lokalen und regionalen Öffentlichkeiten und Institutionen; sie prägt aber auch die dort (mehr oder weniger lang) Lebenden und ihre sozialen Netzwerke. So betrachtet kann man die Regionen – die hier lebenden Menschen, die Unternehmen und Verwaltungen, aber auch die baulichen und räumlichen Strukturen – als ein institutionalisiertes, versteinertes und inkorporiertes Gedächtnis dieser Gesellschaften begreifen.
Mit diesen Überlegungen lässt sich ein wenig genauer bestimmen, um welche Unterschiede es geht, wenn man von ›West und Ost‹ bzw. von ›Stadt und Land‹ spricht.
West-Ost-Unterschiede
Die heute bedeutsamen West-Ost-Unterschiede gehen auf die sehr unterschiedliche Entwicklung der beiden Landesteile nach dem Zweiten Weltkrieg, auf den Verlauf der ›Wende‹ und auf die lange Nach-Wende-Geschichte zurück. Die derzeitigen Unterschiede sind in einem ausdifferenzierten Berichts- und Monitoringsystem (z.B. Berichte der Ostbeauftragten, Gleichwertigkeitsbericht, sozioökonomischer Disparitätenbericht oder Berichtssysteme der Raumbeobachtung ) genauestens dokumentiert. Wichtige regionale Eckdaten finden sich auch in einer regionalen Analyse zur Europawahl 2024 auf dieser Website.
Bei der ›West-Ost‹-Dimension geht es also um
- sozio-ökonomische Unterschiede: Die Westöffnung und eine prosperierende Marktwirtschaft haben zu recht anderen Wirtschaftsstrukturen geführt als eine zentralverwaltete und großbetriebliche Planwirtschaft. Diese strukturellen Unterschiede konnten nach der Wende nur bedingt kompensiert werden; dazu haben auch die verschiedenen Wellen der selektiven Abwanderung beigetragen. Sie zeigen sich heute vor allem in der Branchenstruktur und in den Betriebsgrößen, in der gering verdichteten Siedlungsstruktur und trotz aller Transfers im Wohlstandsniveau (s. Tab. unten).
- sozio-politische Unterschiede: Auf der einen Seite eine Gesellschaft, die durch die Erfahrungen zweier Diktaturen und die Zerstörung von Parteien und anderen zivilgesellschaftlichen Organisationen geprägt wurde. Auf der anderen Seite die Erfahrung einer stabilen Demokratie und einer gewachsenen, aber auch erneuerten Zivilgesellschaft. Die Spuren dieser Vorgeschichte zeigen sich noch heute in den neuen Bundesländern, wenn die Zivilgesellschaft nur schwach ausgebildet und die Verankerung der Parteien in der Fläche nur unzureichend gelungen ist.
- sozio-kulturelle Unterschiede: Häufig werden die soziokulturellen Unterschiede zwischen West und Ost unterschätzt. So gibt es durchaus West-Ost-Unterschiede in der Bildung: z.B. liegt der Anteil der Abitur:innen im Westen (inkl. Berlin) bei 36,1% und im Osten bei 28,0% (Regionaltabelle der Zensus-Datenbank 2022). Die Unterschiede zeigen sich aber auch in der Medienlandschaft, bei bei regionalen Kultureinrichtungen oder in Subkulturen.
- sozio-demografische Unterschiede: Die großen Differenzen in der Zuwanderung von Arbeitskräften, Asylsuchenden und Geflüchteten seit den 1960er Jahren haben im Westen zu einer völlig anderen demografischen Struktur geführt als im Osten. Diese Entwicklung wurde durch die bereits erwähnten Wellen der selektiven Abwanderung (vor allem bis 1961 und nach 1989) und durch die Land-Stadt-Wanderungen in neuerer Zeit weiter verstärkt. Das zeigt sich im durchschnittlichen Alter, in den Anteilen von Menschen mit einer Migrationsgeschichte, aber auch in den Geschlechterverhältnissen im ländlichen Raum.
Mau (2024) beschreibt summarisch jene Teilungen, die sich bis zur Wende herausgebildet hatten. »Die Vorstellung, jetzt wachse zusammen, was zusammengehöre, überdeckte jene Unterschiede, die auch unabhängig von der Existenz des staatssozialistischen Systems fortdauern sollten. Aus asymmetrischen Vorbedingungen der Wiedervereinigung sind heute recht hartnäckige Ungleichheitsverhältnisse geworden. Hinzu traten postsozialistische Dynamiken wie Umbrucherfahrung und Transformationsschock, die sich als mächtige Generatoren von Differenz erweisen sollten« (S. 21 f.).
Stadt-Land-Unterschiede
In Deutschland sind erhebliche Stadt-Land-Unterschiede zu verzeichnen. Diese überschneiden sich jedoch auch mit den West-Ost-Unterschieden.
Siedlungstyp | BIP/Erw. | BIP/Erw. in Relation zum Bundeswert | Verteilung der Erwerbstätigen |
Alte Bundesländer | 82.037,36 | 102,5% | 86,8% |
Neue Bundesländer | 67.171,61 | 83,9% | 13,2% |
West: | |||
W-Dünn besiedelt | 73.037,61 | 91,2% | 9,6% |
W-Verdichtungsansätze | 74.468,72 | 93,0% | 12,6% |
W-Städtisch | 79.600,65 | 99,4% | 39,8% |
W-Großstadt | 89.386,74 | 111,6% | 38,0% |
Ost: | |||
O-Dünn besiedelt | 66.728,79 | 83,3% | 37,5% |
O-Verdichtungsansätze | 68.387,95 | 85,4% | 28,7% |
O-Städtisch | 61.818,22 | 77,2% | 7,7% |
O-Großstadt | 68.050,36 | 85,0% | 26,1% |
Gesamt | 80.068,96 | 100,0% |
Die Zahlen zeigen neben den besprochenen Ost-West-Differenzen auch die großen Unterschiede in der Siedlungsstruktur. Im Westen arbeiten 78% der Erwerbstätigen in städtischen und großstädtischen Räumen; im Osten sind es nur 34%. In der Ost-West-Dimension stehen sich somit eine weitgehend verstädterte und eine eher ländliche Gesellschaft gegenüber. Das zeigt sich dann auch in den oben besprochenen Unterschieden sozio-ökonomischer, sozio-politischer, sozio-kultureller und sozio-demografischer Art.
Wahlerfolge der AfD
Die weitere Analyse fokussiert auf eine ›Erklärung‹ oder zumindest eine Plausibilisierung der Wahlerfolge der AFD und ihrer regionalen Verteilung.
1. Viele der Argumentationen, Stereotypen und Ressentiments, die bei der AFD zu finden sind, haben eine lange Vorgeschichte. Exemplarisch sei auf die in der gesamten Nachkriegsgeschichte Westdeutschlands zu beobachtenden antisemitischen Einstellungen1) oder auf die verschiedenen Untersuchungen zur gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit2) verwiesen. Auch die Haltungen der ›von der Politik Enttäuschten‹ oder der ›Wutbürger‹ finden sich seit Langem3). Diese Positionen waren jedoch über viele Jahrzehnte im etablierten Parteienspektrum eingebunden. Auch in der DDR findet sich eine lange Geschichte des Rassismus4).
2: Seit den 1980er Jahren lässt sich in Deutschland wie in vielen anderen westeuropäischen Ländern ein Reorganisationsprozess im Parteienspektrum beobachten. Er äußert sich z.B. in einem Bedeutungsverlust, nicht selten auch im Verschwinden von Volksparteien. Betroffen sind aber auch zivilgesellschaftliche oder religiöse Organisationen. Der Begriff der Reorganisation verharmlost sicherlich die gravierenden Folgen dieses Umbruchs, die sich auch in einem Wandel des ›politischen Klimas‹ und der Anerkennungsverhältnisse ausdrücken – Normalitäten haben sich verschoben.
Dieser Wandel, so ist zu vermuten, hängt mit der Erosion von großen sozialmoralischen Milieus im Kontext der sich transformierenden Industriearbeit, sowie mit der Bildungsexpansion, der Migration und den veränderten Geschlechterverhältnissen zusammen. Eine wichtige Rolle spielen dabei auch die beachtlichen Erfolge der neuen sozialen Bewegungen. In den postsozialistischen Staaten entstehen neue Parteienlandschaften; große Unterschiede gibt es in den Zivilgesellschaften, wenn mancherorts Institutionen überdauern konnten oder in der Transformationsphase neue Formen entstanden sind.
Oftmals wird diese Entwicklung seit den 1980er Jahren mit dem Erstarken (rechts)populistischer bzw. rechtsextremer Parteien in Verbindung gebracht; die Veränderungen des politischen und zivilgesellschaftlichen Feldes sollten jedoch zusammenhängend analysiert werden. Populistische, chauvinistische und andere Vereinfachungs- und Erlösungsangebote gewinnen dort an Attraktivität, wo alternative Angebote fehlen.
3. Im weiteren Vorfeld der Bundestagswahl ist es zu einer Reihe von fundamentalen Erschütterungen gekommen: eine Pandemie, die ›Erfahrbarkeit‹ des Klimawandels, ein Angriffskrieg in Europa mit Folgen für die Energieversorgung und schließlich die epochalen Folgen der Umbrüche in den USA. Zudem lassen sich in jüngster Zeit eine Reihe von Triggerpunkten5) ausmachen, die auf die politische und mediale Interpretation des Regierungshandelns, der wirtschaftlichen Krise oder einzelner Gewalttaten zurückgehen.
Mit dieser Argumentation lassen sich der allmähliche Bedeutungszuwachs der AfD in der bundesdeutschen Fläche wie auch die beobachteten regionalen Differenzierungen bereits recht gut plausibilisieren. Grob vereinfacht hat man es mit einer ›Grundströmung‹ zu tun, die dann landesspezifisch und regional mehr oder weniger gebrochen (bzw. verstärkt) wird. Das führt schließlich dazu, dass die AfD-Ergebnisse auf der Wahlkreisebene zwischen 6,3% und 46,7% variieren.
Fazit
Die Analysen verdeutlichen, welche Möglichkeiten regionalisierende Analysen zum Verständnis von Wahlergebnissen bieten. Sie können dazu dienen, die Einsichten aus individualisierenden Querschnittsanalysen (z.B. auf Basis der Nachwahlbefragungen oder der Erhebungen zur ›Sonntagsfrage‹) zu erweitern. Wahlentscheidungen sind neben einer nicht unerheblichen zeitspezifischen Prägung durch Triggerthemen eben auch Entscheidungen von sozial, regional, lebensgeschichtlich und zeitgeschichtlich eingebundenen Wähler:innen.
Methodische Erläuterungen
Korrespondenzanalyse
Korrespondenzanalysen bieten die Möglichkeit, die in einfachen und zusammengesetzten Kreuztabellen enthaltenen Informationen zu visualisieren. Sie stellen Unterschiede und Ähnlichkeiten in den Zeilen (Wahlkreise) und Spalten (gewählte Parteien) räumlich dar. Wahlkreise, die einander recht ähnlich sind, liegen nahe beieinander; ein großer Abstand deutet auf große Unterschiede hin. Parteien, die nahe beieinander liegen, haben ähnliche regionale Schwerpunkte; weit entfernte Parteien sprechen sehr unterschiedliche regionale Wählergruppen an.
Wahlkreise und Parteien werden in dieser Grafik gemeinsam betrachtet; es gilt jedoch zu bedenken, dass sie unterschiedlich skaliert sind. Dieses Problem reduziert sich, wenn man jeweils die vier Quadranten betrachtet, die über den Mittelpunkt (Schnittpunkt der 0-Achsen) abgegrenzt werden. Die Nähe eines Datenpunktes zum Mittelpunkt informiert über die ›Durchschnittlichkeit‹ dieses Punktes. Daher liegt das Ergebnis für das Bundesgebiet nahezu in der Mitte. Das gilt aber auch für den Wahlkreis Salzgitter-Wolfenbüttel; hier wählt man ähnlich wie im Bundesdurchschnitt – nicht ganz zufällig liegt dieser Wahlkreis in der Mitte der Bundesrepublik Deutschland. Genauere Ausführungen zum Verfahren der Korrespondenzanalyse und zur Interpretation finden sich hier.
Datenbasis
Für die Analyse wurden die von der Bundeswahlleitung zur Verfügung gestellten Daten (vorläufige Ergebnisse nach Wahlkreisen) genutzt.
Anmerkungen
1) Vgl. zur Entwicklung des Antisemitismus in Deutschland seit 1945 den Beitrag von Bergmann (2004).
2) Vgl. dazu die GMF-Studien (z.B. Heitmeyer 2011), die Mitte-Studien (z.B. Zick/ Küpper 2021) oder die Leipziger Autoritarismus Studien (z.B. Decker/ Brähler 2022).
3) Eine von Michael Vester u. a. 1991 in Westdeutschland durchgeführte Studie (Vester et al. 2001) befasst sich unter anderem auch mit Politikstilen. Dabei wurden sieben unterschiedliche Typen von gesellschaftspolitischen Grundeinstellungen identifiziert. Zwei Typen sind hier von besonderem Interesse, da ihre Charakterisierung verblüffende Ähnlichkeiten zu Wähler:innen der AfD aufweist. Nimmt man beide Gruppen zusammen, ergibt sich in Westdeutschland ein Anteil von mehr als 27%.
Die ›Enttäuscht-Apathischen‹ machen 13,4 % der Befragten aus. Sie »erleben die Konkurrenz- und Leistungsgesellschaft als schicksalhaft unabänderlich. Politik ist in der von ihnen wahrgenommenen gesellschaftlichen Dichotomie oben angesiedelt und damit außerhalb des eigenen Horizonts. Mit ihren traditionellen Arbeitnehmerorientierungen verbinden sie keinerlei Engagement. Bei anwachsenden sozialen Disparitäten münden eigene Abstiegs- und Zukunftsängste in wohlstandschauvinistische Einstellungen« (S. 464).
Die ›Enttäuscht-Aggressiven‹ stellen 13,8% der Befragten. Ihr Gesellschaftsbild »ist durch die von ihnen empfundene Lage ›kleiner Leute‹ und von starken Verunsicherungen durch die Modernisierung der Gesellschaft geprägt. Gleichwohl befürworten sie eine sozialdarwinistisch interpretierte Leistungsgesellschaft. Persönliche Enttäuschungen und soziale Befürchtungen münden in ausgeprägte Ressentiments« (S. 467).
4) Vgl. dazu exemplarisch Michael et al. (2021).
5) Steffen Mau u.a. erläutern ihr Konzept der Triggerpunkte wie folgt: »Triggerpunkte sind neuralgische Stellen, an denen besonders aufgeladene Konflikte aktiviert werden. Wir arbeiten heraus, dass das Auftreten starker Pro- und Kontra-Reaktionen an typische Beweggründe geknüpft ist, wozu etwa wahrgenommene Ungleichbehandlungen, Normalitätsverstöße, Entgrenzungsbefürchtungen und Verhaltenszumutungen gehören« (2023, S. 27).
Literatur
Bergmann, Werner 2004: Antisemitismus in Deutschland von 1945 bis heute, in: Samuel Salzborn (Hrsg.), Antisemitismus. Geschichte und Gegenwart, Gießen: Netzwerk für politische Bildung, Kultur und Kommunikation, S. 51–80
Decker, Oliver/ Elmar Brähler et al. (Hrsg.) 2022: Autoritäre Dynamiken. Neue Herausforderungen – alte Reaktionen? Gießen: Psychosozial-Verlag
Heitmeyer, Wilhelm 2011: Deutsche Zustände. Folge 10, Berlin: Suhrkamp
Mau, Steffen 2024: Ungleich vereint. Warum der Osten anders bleibt, Berlin: Suhrkamp
Mau, Steffen/ Linus Westheuser/ Thomas Lux 2023: Triggerpunkte. Konsens und Konflikt in der Gegenwartsgesellschaft, Berlin: Suhrkamp
Michael, Jana/ Patrice Jaeger/ Zsófia Torma 2021: Unaufgearbeiteter Rassismus in der DDR und seine Folgen für die heutige migrantische Gesellschaft in Mecklenburg-Vorpommern, in: Júlia Wéber, Kai Brauer (Hrsg.), Die Friedliche Revolution 1989 und die Soziale Arbeit, Bielefeld: transcript Verlag, S. 265-280
Vester, Michael et al. 2001: Soziale Milieus im gesellschaftlichen Strukturwandel. Zwischen Integration und Ausgrenzung, Frankfurt: Suhrkamp
Zick, Andreas/ Beate Küpper (Hrsg.) 2021: Die geforderte Mitte. Rechtsextreme und demokratiegefährdende Einstellungen in Deutschland 2020/21, Bonn: J.H.W. Dietz