Das Buch des US-amerikanischen Soziologen und Anthropologen Steven Vertovec geht im Kern auf einen 2007 erschienenen Artikel zum Thema Superdiversität zurück, der auch das zweite Kapitel des vorliegenden Buches darstellt. Mit der Übersetzung der 2022 erschienenen englischen Fassung des Buches ist dieser Ansatz nunmehr auch im deutschsprachigen Diskurs präsent. Das Konzept der Superdiversität beschreibt im Kontext der Migrationsforschung Konstellationen, in denen das Migrationsgeschehen in Nationalstaaten nicht länger durch einzelne Großgruppen von Zuwandernden geprägt sind; vielmehr weisen die Zuwanderungsstatistiken, wie Vertovec am Beispiel verschiedener britischer Städte aufzeigt, eine hohe Diversität der Migrierenden auf.
Überblick:
- Struktur der Argumentation
- Einleitung
- Konzept der Superdiversität
- Bedeutungen von »Superdiversität«
- Diversifizierungsprozesse
- Reaktionen auf Diversifizierung
- Soziale Komplexität
- Kommentar
- Inhaltsübersicht
- Literatur
Struktur der Argumentation
Einleitung
Im einleitenden ersten Kapitel wird das Konzept der Superdiversität kontextualisiert, indem Vertovec ausführt, es sei vor allem aus der Kritik des britischen Diskurses um Multikulturalismus und der damit verbundenen Essentialisierungen und Kulturalisierungen entstanden (S. 22). Das in einem beschreibenden Sinne verstandene Konzept soll dazu beitragen, den Blick auf die Multidimensionalität und Intersektionalität von Migrationsmustern zu lenken. So komme es in den letzten Jahrzehnten zu einer zunehmenden Mobilität; die spezifischen Kontexte von Migrationen differenzierten sich aber aus. »Es gibt nicht nur mehr kleinere Kohorten aus einer größeren Anzahl von Herkunftsländern, sondern auch sich verändernde Ströme von Menschen, die ein breites Spektrum an Nationalitäten, Ethnien, Sprachen, Religionen, Genderidentitäten, Altersverhältnissen, Humankapital, transnationalen Praktiken sowie, was besonders wichtig ist, Migrationskanälen und Rechtsstatus aufweisen« (S. 23). Dabei komme es dann auch zu vielerlei überschneidenden Effekten. Vertovec konstatiert, die von ihm beschriebenen Phänomene der Superdiversität gingen vor allem auf die Entwicklungen der letzten drei Jahrzehnte zurück. Er grenzt den Ansatz einerseits gegen einige konkurrierende Begriffe (z.B. Hyperdiversität) ab; andererseits verweist er auf verwandte Perspektiven (z.B. Antiessenzialismus) und Konzepte (z.B. Intersektionalität, Postethnizität, Transnationalismus).
Konzept der Superdiversität
In dem im zweiten Kapitel wiedergegebenen Artikel von 2007 versucht Vertovec das Besondere der superdiversen Migrationsbewegungen genauer zu charakterisieren. Er verweist am Beispiel Großbritanniens auf den Anstieg der Nettozuwanderung, die Vielfalt der Herkunftsländer, der Sprachen, der Religionen, der Migrationskanäle und -status (Arbeitskräfte, Studierende, Angehörige, Asylsuchende und Geflüchtete, irreguläre, illegale und undokumentierte Migrant:innen und neue Staatsbürger:innen), der Gender- und Altersgruppen, der örtlichen und regionalen Konstellationen und der transnationalen Praktiken.
Dementsprechend ist die Migrationsforschung mit neuen Herausforderungen konfrontiert; so gehe es um neue Ungleichheits- und Vorurteilsmuster, neue Segregationsmuster, neue Raum- und Konflikterfahrungen, um neue Formen des Kosmopolitismus und der Kreolisierung, um komplexere Migrationswege und neue Formen der Transnationalität und Integration. Das alles erfordere methodologische Innovationen und eine Reflexion der Verhältnisse von Forschung und Politik. Für das politische Feld impliziere die superdiverse Konstellation neue Formen der Erfassung und der Unterstützung auf der Gemeindeebene oder die Bereitstellung spezifischer öffentlicher Dienstleistungen. »Das Bewusstsein für die neue Superdiversität kann politischen Entscheidungsträger:innen helfen, die mehrfachen Zugehörigkeiten der Neuankömmlinge zu berücksichtigen, anstatt ihnen eine einzige feste ethnische Identität zuzuschreiben« (S. 72).
Bedeutungen von »Superdiversität«
Im dritten Kapitel wird untersucht, wie das Konzept der Superdiversität seit der Erstpublikation 2007 in den Sozialwissenschaften und benachbarten Feldern (z.B. Soziolinguistik oder Geschichtswissenschaften) rezipiert und kritisiert wurde.
Diversifizierungsprozesse
Das vierte Kapitel zielt darauf, die hinter dem Konzept stehenden Differenzierungsprozesse genauer zu bestimmen. Zum einen sei es zu einer Diversifizierung der globalen Migration gekommen. So haben sich die Migrationsursachen ausdifferenziert; er verweist auf politische, soziale, wirtschaftliche, demografische und ökologische Faktoren. Auch die Herkunftsländer hätten sich vervielfacht. Schließlich habe man es auch mit einer Vielfalt von Rechtsstatus und Rechtssphären (Zugang zu Arbeitsmarkt, Wohnraum, Spracherwerb, Bildung, Rechtswesen, sozialen Diensten und Gesundheitsversorgung) zu tun.
Zum anderen komme es zu demografischen Diversifizierungen, indem sich die statistische Kategorisierung von Migrationen verändere, indem sich verschiedene urbane Konstellationen herausbilden und indem Phänomene der mixedness zunehmen. Schließlich modifizierten sich auch die Sprachlandschaften, indem Sprachen in neue Kontexte geraten und indem es zu neuen Formen z.B. der Innovation und der Vermischung von Sprachen in superdiversen Zusammenhängen komme. Im Fazit des Kapitels heißt es: »Die variierenden Merkmale der Superdiversität stehen auch in direkten Zusammenhang mit den von Ort zu Ort sehr verschiedenen Systemen der sozialen Schichtung und Ungleichheit« (S. 160). Dies wird leider nicht weiter ausgeführt.
Reaktionen auf Diversifizierung
Im fünften Kapitel geht es um gesellschaftliche Reaktionen auf die Diversifizierung von Migrationsbewegungen. Diese »beruhen in erster Linie auf ihrer Wahrnehmung – und diese auf Kategorisierung, Darstellung und Diskurs« (S. 208). Vertovec führt aus: »Gruppismus, singuläre Zugehörigkeit, Kulturalismus und Rassifizierung sind Tendenzen der sozialen Kategorisierung, aufgrund derer die Gesellschaft oft als eine Sammlung begrenzter und verschieden charakterisierter Gruppen betrachtet wird, die um eingeschränkte Ressourcen konkurrieren. Dies geht einher mit der impliziten Annahme, dass nur Homogenität den sozialen Zusammenhalt gewährleisten kann, soll oder muss (…). Öffentliche Annahmen über Diversität und Diversifizierung sowie über soziale Kategorien werden nicht nur durch persönliche Erfahrungen und Beobachtungen geprägt, sondern auch durch Informationen, Darstellungen und Narrative in den öffentlichen Bereichen« (S. 207). Umgekehrt verweist Vertovec aber auch auf die Möglichkeit der Anerkennung neuer Formen sozialer Komplexität, was er im Folgenden ausführt.
Soziale Komplexität
Im sechsten Kapitel skizziert Vertovec zunächst die Debatten um soziale und kulturelle Komplexität in der Anthropologie und in den Sozialwissenschaften. In den Gegenwartsgesellschaften komme es zum einen zu einer Neubewertung von Differenz, wie er mit Verweis auf Studien zum Wertewandel (Norris und Inglehart) konstatiert. Die weiteren Ausführungen bleiben dann aber recht unscharf. »Der heute im Wandel begriffene Stellenwert von Differenz ist ein wesentlicher Faktor sozialer Komplexität. Es handelt sich um eine Reihe von Prozessen mit vielen Ursachen, Ausprägungen, Bedeutungen, Indikatoren und Folgen, einige relativ verallgemeinerbar, andere kontextspezifisch. Um gegenwärtige und zukünftige Dynamiken gesellschaftlicher Komplexität besser zu verstehen, müssen wir sozialwissenschaftliche Arbeit leisten, die ›soziale Kategorien, Differenzierungsprozesse und Ergebnisse in sozialen, politischen, wirtschaftlichen und geographischen Bereichen untersucht. Dazu gehört die Hinterfragung von Vorannahmen und als selbstverständlich vorausgesetzten Kategorien, Einheiten, Merkmalen und Variablen der Differenz‹ (Vertovec 2015, S. 10)« (S. 224 f.).
Zum anderen komme es zu einer Vervielfältigung, Vermischung, Erschaffung und Aufhebung sozialer Kategorien. Er verweist dabei auf die im Kontext von Intersektionalitätsforschung und LGBTIQ-Bewegungen geführten Debatten um race/ethnicity, Gender und Sexualität, aber auch auf Debatten um Religion und Sprache. Summarisch lassen sich diese Diskurse sowohl durch das Konzept der Intersektion von komplexen Ungleichheiten oder durch das Konzept komplexer sozialer Identitäten erfassen.
Am Ende dieser Ausführungen heißt es: »Das Konzept der Superdiversität bezieht sich auf eine Reihe von gesellschaftlichen Verhältnissen und Prozessen, die gemeinsam die Formen der sozialen Organisation verändern. Diese Verhältnisse sind in den sich wandelnden Bedeutungen multipler sozialer Kategorien und durch sie hervorgebrachten gesellschaftlichen Beziehungen begründet und beeinflussen beide in Wechselwirkung. Soziale Kategorien aller Art sind heute einem enormen Wandel unterworfen – einem Wandel, der von Vielfältigkeit, Vermischung, Erschaffung und Auflösung charakterisiert ist. Soziale Kategorien und Beziehungen umfassen inzwischen zudem einen scheinbar nahtlosen Übergang von Online- und Offline-Modalitäten. Das Konzept der sozialen Komplexität widmet sich den gegenseitig abhängigen Beziehungen und Prozessen zwischen diesen Elementen, die die gesamten soziologischen Skalen durchkreuzen. Komplexitätsdenken (complexity thinking) – ein Ansatz, eine Reihe von Werkzeugen und ein den Naturwissenschaften entlehntes Vokabular zur Konzeptualisierung dieser Bedeutungs- und Beziehungsvielfalt – ist nicht nur für die Sozialwissenschaft von Wert, sondern auch für jeden Menschen. Komplexitätsdenken hilft, die Gesellschaft und sozialen Wandel auf eine kohärentere Weise zu betrachten, andere wertzuschätzen und sich selbst zu verstehen« (S. 265).
Kommentar
Das Konzept der Superdiversität bietet zunächst gute Möglichkeiten, um die komplexe Situation von Migrationsbewegungen in manchen (attraktiven) Zielländern des globalen Nordens zu beschreiben. Dabei fungiert das Konzept, wie Vertovec einräumt, vor allem als ein beschreibendes Konzept. Auch seine Überlegungen zu den erforderlichen politischen Konsequenzen auf eine solche superdiverse Konstellation sind durchaus informativ. Schließlich ist auch seiner antikategorialen Perspektive umstandslos zuzustimmen. Problematisch sind vor allem die Versuche einer Verallgemeinerung und theoretischen Fundierung des Konzepts.
- Das betrifft z.B. den Versuch, das Phänomen der Superdiversität im Kontext von Komplexitätstheorien zu verallgemeinern und Superdiversität auch in einem allgemeineren Sinne zum Verständnis von Migrationsbewegungen und sozialer Differenz zu verwenden. Es wird kaum beleuchtet, dass das, was im Kontext mehr oder weniger demokratischer, pluralistischer und wohlfahrtsstaatlich organisierter Gesellschaften als superdivers wahrgenommen wird, immer auch mit mitunter existenzbedrohenden Konflikten verbunden ist. Die statistisch erscheinende ›Superdiversität‹ lässt diese nach wie vor harten Auseinandersetzungen um den Zugang zu Nationalstaaten, zu Staatsbürgerschaften, zu (regulärer) Arbeit, sozialer Sicherung, Anerkennung und politischer Teilhabe in den Hintergrund treten. Bei diesen Kämpfen um verschiedene Grade der Inklusion und Exklusion spielt die Konstellation der Superdiversität keine spezifische Rolle. Auch bei den gesellschaftlichen Reaktionen geht es eher um die Zahl der Zuwandernden und variierende Konstrukte von Fremdheit; dem Phänomen der Superdiversität kommt dabei eher eine marginale Bedeutung zu.
- Ein weiteres Problem stellt sich, wenn Superdiversität von den gesellschaftlichen Kontexten gelöst wird, in denen mit Veranderungen gearbeitet wird. Das verweist auf ein Problem, das sich auch den klassischen Ansätzen der Diversitätsforschung stellt. Ohne ein systematisches Verständnis, wie gesellschaftlich mit Diversität operiert wird, führt die Analyse von Diversität ins Leere; d.h. es gilt zu untersuchen, wie Diversität von verschiedenen Akteuren in verschiedenen Feldern ›genutzt‹ wird, wenn es um den Zugang zu Nationalstaaten (Grenzregime) und die Wege in die Staatsbürgerschaft (Aufenthalts- und Integrationsregime) geht oder wenn es um die Teilungen der gesellschaftlichen Arbeit (good vs. bad jobs, legale vs. illegale Beschäftigungsverhältnisse etc.) geht. Wenn man diese Zusammenhänge in historischer Perspektive untersucht, wird deutlich, dass man es mit stets wechselnden Konstruktionen von Anderen und der gesellschaftlichen Verwendung solcher Veranderungen zu tun hat. Es lassen sich keine Entwicklungslinien – etwa von der Diversität zur Superdiversität – ausmachen.
Während der zugrunde liegende Aufsatz von 2007 viele durchaus inspirierende Einsichten enthält, haben die Versuche der Verallgemeinerung und theoretischen Einbettung des Konzepts nur einen geringen Erkenntniszuwachs erbracht. Sie haben implizit eher zu einer Essentialisierung des Konzepts beigetragen.
Inhaltsübersicht
1. Einleitung
2. Superdiversität und ihre Auswirkungen
3. Die vielen Bedeutungen von »Superdiversität«
4. Diversifizierungsprozesse
5. Reaktionen auf Diversifizierung
6. Soziale Komplexität
7. Schluss
Literatur
Vertovec, Steven 2007: Super-diversity and its implications, in: Ethnic and Racial Studies 30(6), S. 1024-1054
Vertovec. Steven 2015: Introduction. Formulating Diversity Studies, in: Steven Vertovec, (Hg.), International Handbook of Diversity Studies, London/ New York: Routledge, S. 1-20
Vertovec, Steven 2022: Superdiversity. Migration and Social Complexity, London: Routledge
DOI https://doi.org/10.4324/9780203503577
Vertovec, Steven 2024: Superdiversität. Migration und soziale Komplexität, Suhrkamp: Berlin