Die folgende Zusammenstellung soll präzisieren, wie diese Begriffe im Kontext der hier favorisierten Protheorie sozialer Differenzierung verstanden werden.
Manche dieser Begriffe finden sich selbstverständlich auch im Kontext anderer Ansätze der Sozialstrukturanalyse. Die hier vorgeschlagenen Begriffsbestimmungen wurden für den Argumentationszusammenhang der Protheorie präzisiert und systematisiert; auf eine vertiefende Erläuterung wird jeweils am Ende der folgenden Einträge verwiesen.
Soziale Ungleichheiten/ soziale Differenzen
Von sozialen Ungleichheiten (oder sozialen Differenzen) wird in sozialwissenschaftlichen und politischen Zusammenhängen gesprochen, wenn sich in einem gesellschaftlichen Bezugsrahmen die soziale Situation verschiedener Gruppen strukturell unterscheidet. Die soziale Situation lässt sich an Unterschieden im ökonomischen (Einkommen und Vermögen) und kulturellen (z.B. Bildung) Kapital festmachen, an unterschiedlichen Rechten und Chancen oder an Unterschieden in der sozialen Anerkennung. Von strukturellen Unterschieden wird gesprochen, wenn diese Unterschiede überindividuell mit bestimmten Gruppenmerkmalen verknüpft sind: z.B. mit spezifischen Erwerbspositionen, mit der sozialen Herkunft oder mit geschlechtlichen oder ethnisch/kulturellen Markierungen.
Auch die erheblichen Wohlstandsunterschiede zwischen Nationalstaaten und Weltregionen sind als soziale Ungleichheiten zu begreifen. Der gesellschaftliche Bezugsrahmen, in dem soziale Ungleichheiten analysiert und thematisiert werden, ist typischerweise der Nationalstaat gewesen; es kann aber auch ein regionaler oder ein europäischer oder weltweiter Bezugsrahmen sein. Wenn man soziale Ungleichheiten jenseits des nationalstaatlichen Rahmens betrachtet, werden auch Fragen der Migration und der Handelsbeziehungen zu sozialen Fragen.
Während soziale Ungleichheiten im wissenschaftlichen Zusammenhang eher in einem beschreibenden und analytischen Sinne verstanden werden, geht es in politischen Zusammenhängen immer auch um die Bewertung von Ungleichheiten und um Strategien ihrer Beeinflussung.
Soziale Positionen
Soziale Positionen sind Positionen, die Personen im Erwerbssystem, im Haushaltszusammenhang oder in sozialstaatlichen Institutionen einnehmen; sie üben einen Beruf aus, sind Hausmann oder Schülerin oder Rentnerin. Soziale Positionen sind auch durch den jeweiligen nationalstaatlichen Rahmen geprägt. Mit diesen Positionen sind Einkommen oder Transferansprüche, aber auch Erwartungen und Voraussetzungen verbunden und sie sind sozial mehr oder weniger anerkannt. Soziale Positionen sind historisch in Prozessen der gesellschaftlichen Arbeitsteilung und mit der Herausbildung von National- und Sozialstaaten entstanden.
Soziale Positionen werden im Rahmen von Rankingprozessen (z.B. Prozessen der Teilung und Bewertung von Arbeit) gegeneinander abgegrenzt und mit bestimmten Leistungen verknüpft; so entstehen z.B. unterschiedliche Berufe mit unterschiedlichen Tätigkeitsfeldern, Bezahlungen und Bewertungen oder die Position von Arbeitslosen bzw. Positionen in den privaten Haushalten. Diese Positionen werden dann in Sorting-Prozessen (die Vergabe einer Stelle, die Gewährung einer Sozialleistung oder die haushaltlichen Aushandlungen zwischen Lebenspartnern) besetzt. Den eigentlichen Sortingprozessen gehen typischerweise Presorting-Prozesse voraus, indem sich Personen schulisch und beruflich qualifizieren; das impliziert dann auch Self-Sortingprozesse, indem sich Menschen für oder gegen einen Bildungsweg oder eine Stelle entscheiden.
Soziale Lagen
Soziale Lagen entstehen zum einen, indem Personen im Lebensverlauf unterschiedliche soziale Positionen einnehmen und im Laufe der Zeit die Erträge oder Belastungen aus diesen Positionen anhäufen (temporale Kumulierung). Diese temporalen Kumulierungen können auch generationenübergreifend begriffen werden, indem materielle Werte, Rechte (wie eine Staatsbürgerschaft), aber auch soziale Prägungen vererbt werden. Soziale Lagen entstehen zum anderen, indem sich Personen zu Haushalten zusammenschließen und innerhalb des Haushalts umverteilt und gemeinsam gewirtschaftet wird (soziale Kumulierung).
In den Ranking- und Sorting-Prozessen aber auch in den Kumulierungsprozessen spielen Kategorisierungen (Othering) von Menschen (z.B. nach dem Geschlecht, nach der Hautfarbe, nach der sozialen Herkunft oder nach religiösen, kulturellen bzw. anderen Merkmalen) eine zentrale Rolle. Entlang dieser Kategorisierungen entscheidet sich (direkt oder indirekt), wer welchen Job bekommt, wer welchen Schulabschluss erreicht, wer die Haushaltsarbeit macht oder wer Zugang zur Staatsbürgerschaft erhält. Diese Kategorisierungen sind zunächst nichts als soziale Konstrukte, die sich an recht beliebigen Äußerlichkeiten festmachen; diese Konstrukte werden dann aber bewertet und mit ihrem erfolgreichen Einsatz in Sortingprozessen wirkmächtig, indem sie über unterschiedliche Lebenswege in unterschiedlichen soziale Positionen und Lagen führen.
Die Unterscheidung von sozialen Positionen und sozialen Lagen ist bedeutsam: so kann eine prekäre soziale Position im Kontext ganz unterschiedlicher Lebenszusammenhänge stehen (z.B. eine Student_in, eine Langzeitarbeitsloser, eine Asylsuchende). Relativ offene und wohlfahrtsstaatliche regulierte Gesellschaften zeichnen sich dadurch aus, dass sich die Verknüpfung von sozialer Position und sozialer Lage lockert.
Rankingprozesse
In Rankingprozessen werden soziale Positionen definiert und gegeneinander abgegrenzt; sie werden in einer bestimmten Quantität geschaffen und sie werden mit Einkommen, Rechten und Bewertungen verknüpft. Am deutlichsten wird das bei sozialen Positionen in der abhängigen Erwerbsarbeit, also beruflichen Positionen. Aber auch bei der sozialen Position von Selbstständigen und freiberuflich Tätigen lässt sich das Konzept sinnvoll nutzen.
Sortingprozesse
In Sortingprozessen werden Personen soziale Positionen zugeordnet. Man kann dabei unterscheiden:
Sortingprozesse im engeren Sinne
Sortingprozesse im engeren Sinne bezeichnen den unmittelbaren Akt der Zuordnung einer Person zu einer sozialen Position; also z.B. die Neubesetzung einer Stelle in einem Unternehmen, der meist ein spezifisches Auswahlverfahren zu Grunde lag. Im übertragenen Sinne trifft das auch auf soziale Positionen im Sozialsystem zu; einer Antragstellerin wird eine gewisse Sozialleistung gewährt.
Pre-Sortingprozesse
Die Sortingprozesse im engeren Sinne sind oft an Voraussetzungen gebunden. Insbesondere im beruflichen Bereich sind bei qualifizierten Positionen lange Ausbildungsgänge erforderlich. Pre-Sortingprozesse umfassen mithin all jene Phasen der schulischen und beruflichen Qualifizierung oder auch der Weiterbildung, die Personen für die Besetzung einer Stelle absolvieren müssen.
Self-Sortingprozesse
Die Sorting- und die Presortingprozesse implizieren, dass sich eine Person für einen bestimmten Ausbildungsweg entscheidet oder sich für eine bestimmte Stelle bewirbt. Nicht selten entscheiden sich Menschen gegen eine bestimmte Ausbildung, weil sie davon ausgehen, dass das ›nichts für sie ist‹ oder weil sie sich das ›nicht zutrauen‹.
Sorting-out-Prozesse
Damit sind die Prozesse gemeint, in denen ein Sorting-Prozess rückgängig gemacht wird, indem also eine Person von einer sozialen Position entfernt wird. Das kann z.B. im Rahmen einer Entlassung geschehen oder einer Person wird eine zugesagte Sozialleistung entzogen.
Kumulierungsprozesse
Kumulierung oder Akkumulierung bedeutet Anhäufung. Hier werden temporale und soziale Prozesse der Kumulierung unterschieden.
Temporale Kumulierung
Temporale Kumulierungen entstehen, indem einzelne Personen in ihrem Lebensverlauf, aber auch im Generationenverlauf verschiedene soziale Positionen durchlaufen und die damit verbundenen Ressourcen, Rechte oder Erfahrungen kumulieren. So kann man Kapitalien, aber auch Schulden akkumulieren; auch Erfahrungen der gesellschaftlichen Anerkennung oder der Verachtung können akkumuliert werden. Im Kontext von Migrationen kann sich ein solcher temporaler Kumulierungsprozess auch soziale Positionen in verschiedenen Nationalstaaten umfassen.
Soziale Kumulierung
Soziale Kumulierungen entstehen, indem sich einzelne Personen zu Haushalten zusammenschließen und die Ressourcen der Haushaltsmitglieder gemeinsam nutzen.
Othering
Othering, wörtlich übersetzte könnte man von Veranderung sprechen, bezeichnet einen Prozess, indem Menschen zu Anderen gemacht werden, indem sie mit bestimmten Kategorien (z.B. geschlechtsbezogenen Kategorien wie Mann, Frau oder Divers, rassifizierenden oder ethnisierenden Kategorien) etikettiert werden. Demnach wird statt Othering auch von Kategorisierungen gesprochen.
In der sozialwissenschaftlichen Forschung steht Othering für einen Prozess, in dem Andere markiert und damit von einer vorgestellten Eigengruppe abgegrenzt werden. Meist ist mit dem Prozess des Othering auch eine Bewertung verbunden, typischerweise eine Abwertung der Veranderten bzw. eine Aufwertung der Eigengruppe. Zudem stellt sich häufig ein homogenisierender (vereinheitlichender) Effekt ein, indem Binnendifferenzen der Eigengruppe wie der Anderen ausgeblendet werden. Prozesse des Othering machen sich häufig an vermeintlich ›objektiven‹ Merkmalen der Anderen (z.B. wahrgenommenen Geschlechtsmerkmalen, Hautfarben, Religionen, Herkunftsvermutungen) fest. In Prozessen des Othering wird oft auf historisch bewährte Muster der Markierung und Bewertung von anderen zurückgegriffen, wie die lange Geschichte von Sexismen und Rassismen (z.B. Antisemitismus, Antiziganismus, Orientalismus) aber auch des Ausschlusses von ›Unehrenhaften‹, ›Unterständigen, ›Unreinen‹ oder ›Ungläubigen‹ aufzeigt.
Indem diese Markierungen von Anderen von vielen (als Selbst- oder Fremdbezeichnung) genutzt werden, indem sie medial verstärkt werden oder indem sie in amtliche Klassifizierungen (z.B. das Geschlecht, die Staatsbürgerschaft und andere rechtliche Bestimmungen) Eingang finden, gewinnen diese Konstrukte eine neue Qualität; sie werden wirkmächtig.
Praktiken des Othering können für die Herabsetzung und Diskriminierung von Gruppen genutzt werden; sie spielen eine zentrale Rolle bei der Zuweisung von sozialen Positionen und bei der Legitimierung von daraus entstehenden Ungleichheiten. Zunächst sind Prozesse des Othering als soziale Konstruktionen zu begreifen, die dann jedoch über ihren (erfolgreichen) Einsatz bei Diskriminierungen und sozialen Schließungen, tatsächlich Andere hervorbringen.
Praxeologische Protheorie
Der Begriff der Protheorie ist bei den niederländischen Soziologen Veit-Michael Bader und Albert Benschop entlehnt. Eine solche Protheorie zielt den Autoren folgend auf die »Klärung von Grundbegriffen und Problemstrukturierungen«. Ich übernehme den Begriff in durchaus ähnlicher Absicht; es geht darum, einen kategorialen Rahmen zu liefern und für soziale Differenzierungen wesentliche Prozesse zu benennen. Es geht nicht um eine neue Supertheorie. Eine solche Protheorie macht es dann möglich, ganz unterschiedliche Theorieansätze im Sinne der zu klärenden Fragen und Probleme aufeinander zu beziehen. So kann man bei der Analyse von Rankingprozessen Bezug nehmen auf theoretische Ansätze zur Analyse von Kapitalismen oder auf regulationstheoretische Konzepte. Für die Analyse von Sortingprozessen kann Bezug genommen werden auf Ansätze der Arbeitsmarktforschung, auf intersektionale Theorien, auf Bildungs- und Sozialisationstheorien etc.
In dem hier verlinkten Vorwort der Autor_innen kann man in die (aufgeregten) Debatten der 1980er Jahre eintauchen; viele der Absichten der Autoren kann ich auch heute noch durchaus teilen. Der Weg, den ich hier einschlage, ist vielleicht etwas anders; es wird aber auch deutlich, wie viel ich von den beiden Kollegen gelernt habe.
Von einer praxeologischen Protheorie wird gesprochen, weil das Ziel einer Protheorie mit den Konzepten der sogenannten Praxistheorie verknüpft wird. Damit wird eine Gruppen von theoretischen Ansätzen bezeichnet, die die zu untersuchenden sozialen Phänomene in einem systematischen Zusammenhang mit sozialen Praktiken, mit den Handlungen (und Deutungen) verschiedenster Akteure bringen. In dem hier interessierenden Kontext geht es darum, beobachtbare Sozialstrukturen mit den strukturierenden Praktiken von Individuen, sozialen Gruppen oder Institutionen in Zusammenhang zu bringen.