
Staatsbürgerschaft
Als Staatsbürgerschaften werden jene neuen Formen der sozialen und politischen Einbindung bezeichnet, die seit den bürgerlichen Revolutionen mit den sich herausbildenden Nationalstaaten 1) entstanden sind. Die Staatsbürgerschaft – synonym wird hier auch von citizenship 2) gesprochen – hat den Charakter eines Vertrages, der zwischen einer sozialen Gruppe und einer staatlichen Instanz mit Bezug auf ein Territorium geschlossen wird. Die Verträge beinhalten zum einen gewisse Rechte (z.B. zivile, politische und soziale Rechte) zum anderen aber auch Verpflichtungen (z.B. zu Besteuerung, Wehrdienst oder Sorgearbeiten). Schließlich entstehen darüber auch gewisse Zugehörigkeitsgefühle bzw. Repräsentationsansprüche. Charles Tilly (1997, S. 600) macht deutlich, dass diese ›Verträge‹ immer auch variabel, unvollständig und von Kontexten abhängig seien. Trotz des universalen Anspruchs spielen weiterhin gruppenspezifische Inklusionen und Exklusionen eine wichtige Rolle, wie sich z.B. an der Geschichte von Frauenrechten (z.B. Wahlrecht oder Zugänge zum Bildungs- und Erwerbssystem) aufzeigen läßt. Zudem entstehen (z.B. im Kontext von Migrationen) neue abgestufte Systeme von Vollbürger:innen, Bürger:innen mit eingeschränkten Rechten und Rechtlosen.
- Abgrenzungen und Definitionen
- Debatten um citizenship/ Staatsbürgerschaft
- Der klassische Ansatz
- Spannungsverhältnisse
- Jenseits des Nationalen
- Citizenship-Debatte im 21. Jahrhundert
- Erweiterung des Konzepts
- Anpassung an neue Rahmenbedingungen
- Anpassung an neue Akteurskonstellationen
- Fazit
- Anmerkungen
- Literatur
Staatsbürgerliche Einbindungen ruhen auf bewährten Mustern der Einbindung (z.B. in eine Stadtbürgerschaft, eine Zunft oder ein Lehensverhältnis) auf. Die (national betrachtet) universalen Einbindungen ersetzen oder erodieren solche partikularen Einbindungen bzw. verweisen sie auf eine nachgeordnete Ebene.
Abgrenzungen und Definitionen
Jürgen Mackert schlägt vor, »die moderne Staatsbürgerschaft als ein Bündel von Rechten und Pflichten [zu] begreifen (…), das Individuen eine formale, legale Identität verleiht (…). Diese Rechte und Pflichten ergeben sich aus der Mitgliedschaft in einer sozialen Einheit (…). Durch die bürgerlichen, politischen und insbesondere sozialen Rechte, die den Status des Staatsbürgers definieren (…), wird eine substanziell gehaltvolle Form der Mitgliedschaft institutionalisiert (…). Damit er seine Rechte wahrnehmen und seine Pflichten erfüllen kann, sind vom Bürger Autonomie, Urteilsfähigkeit und Loyalität gegenüber seinem Staat gefordert (…)« (2006, S. 25).
Dieter Gosewinkel verwendet den Begriff der Staatsbürgerschaft im weiteren Sinne als einen Oberbegriff, der zwei verschiedene Funktionen umfasst. Zum einen regelt die Staatsangehörigkeit die rechtliche Zugehörigkeitzu einem Staatsverband. Sie stellt »die ›äußere Seite‹ der Staatsbürgerschaft dar« (2016, S. 19). Zum anderen regelt die Staatsbürgerschaft im engeren Sinne den Zugang zu den individuellen (z.B. zivilen, politischen und sozialen) Rechten der Staatsbürger; man könnte von der ›inneren Seite‹ der Staatsbürgerschaft sprechen.
Rogers Brubaker begreift die Staatsbürgerschaft als eine Institution der sozialen Schließung. Für das jeweilige Staatsvolk hat sie einen ›einschließenden‹ Charakter. »Sie ist ein fortdauernder persönlicher Status, der allein durch zeitweilige oder dauerhafte Ansässigkeit nicht erreicht wird und genausowenig bei zeitweiliger oder längerer Abwesenheit erlischt. In dieser Hinsicht ist der moderne Staat nicht einfach eine territoriale, sondern eine Mitgliedschaftsorganisation, ein Verband von Staatsbürgern« (1994, S. 45). Für andere wirkt sie ›ausschließend‹. So »besteht eine begrifflich klare, rechtlich konsequente und ideologisch aufgeladene Unterscheidung zwischen Bürgern und Ausländern. Der Staat (…) beansprucht Legitimität, indem er geltend macht, den Willen dieses Staatsvolkes auszudrücken und seine Interessen zu vertreten. Ein solches begrenztes Staatsvolk wird gewöhnlich als Nation begriffen als ein etwas enger Zusammenhängendes als eine bloße Ansammlung von Personen, die zufällig qua Gesetz dem Staat angehören« (ebd.).
Debatten um citizenship/ Staatsbürgerschaft
Der wissenschaftliche Diskurs nimmt in der Sozialwissenschaft, der Geschichtswissenschaft und der Rechtswissenschaft einen je anderen Verlauf.
In der Rechtswissenschaft ist das Konzept der Staatsbürgerschaft »von jeher ein genuiner Bestandteil rechtswissenschaftlicher Forschung und Dogmatik. Die Herausbildung der Landesuntertänigkeit als personale Zuordnung und Unterwerfung unter den Landesherrn des Territorialstaats ist eine wichtige frühneuzeitliche Rechtsinstitution, die die Staatsangehörigkeit des modernen Verfassungs- und Verwaltungsstaates an der Wende zum 19. Jahrhundert vorbereitet« (Gosewinkel 2019, S. 10).
In der (am nationalen Kontext orientierten) Geschichtswissenschaft blieb das Thema Staatsbürgerschaft über lange Zeit eher randständig. Während im Rahmen der großen Migrationsbewegungen nach dem Zweiten Weltkrieg die Frage der Staatsbürgerschaft kaum beachtet wurde, kommt sie mit den Migrationen jenseits des deutschen bzw. ostmitteleuropäischen Raums in den Blick. Dabei spielten im deutschsprachigen Raum auch die zeitgenössischen Debatten (z.B. um den Term ›Einwanderungsland‹) eine Rolle. »Diese Arbeiten erhielten vielfach ihren Anstoß aus politischen und sozialen Konflikten, die mit der spät- und postkolonialen Zuwanderung in die metropolitanen Gebiete, vor allem der ehemaligen Kolonialreiche Frankreich und Großbritannien, einhergingen« (S. 8). Hier sei exemplarisch auf einige Beiträge zu diesem Diskurs verwiesen: so erschienen zwei Sonderbände des International Review of Social History (1995) und von Theory and Society (1997); Tilly hat sich in verschiedenen Arbeiten (1995, 1997, 1999) mit dem Konzept der citizenship befasst und dies mit der Analyse sozialer Ungleichheiten verknüpft; Gosewinkel (2016) legte eine Geschichte der Staatsbürgerschaft in Europa im 20. und 21. Jahrhundert vor.
In den Sozialwissenschaften entsteht mit den Arbeiten von Thomas H. Marshall nach dem Zweiten Weltkrieg ein Diskurs um die Verknüpfung von Staatsbürgerschaft, sozialen Klassen und sozialer Integration. Im soziologischen Diskurs, in dem auch Talcott Parsons eine Rolle spielt, rückt »die Frage nach den Integrationsbedingungen moderner Gesellschaften ins Zentrum« (Mackert 2006, S. 28).
Der klassische Ansatz
In dem klassischen Ansatz von Marshall wird der Nationalstaat zur zentralen politischen Bezugsgröße, der gegenüber die Bürger:innen Ansprüche erheben können. Ökonomisch geht der Ansatz mit der Dominanz der industriellen Massenproduktion einher. Kulturell betrachtet wird von Nationalgesellschaften als kulturell homogenen Gemeinschaften ausgegangen. Der Verweis auf die besonderen Rahmenbedingungen des klassischen Konzepts macht dann aber auch deutlich, dass man es nicht mit einem allgemeinen Modell, sondern einem spezifischen (raum- und zeitgebundenen) citizenship-regime 3) zu tun hat. Mackert (S. 56 f.) hebt vier Charakteristika des modernen Verständnisses von Staatsbürgerschaft hervor:
- Es sei ein liberales Konzept, indem davon ausgegangen werde, dass es notwendig sei, ein gewisses Maß an Ungleichheit zuzulassen, um die wirtschaftliche Dynamik nicht zu gefährden. Diese Ungleichheiten müssten jedoch auf legitimen Regeln wie z.B. den Leistungen in einem (chancengleichen) Bildungssystem beruhen.
- Es sei ein egalitäres Konzept, indem es eine Gesellschaft der formal Gleichen voraussetze; diese Gleichheit bezieht sich auf zivile, politische, soziale, ökonomische und kulturelle Staatsbürgerrechte.
- Es sei ein auf soziale Gerechtigkeit zielendes Konzept, indem der Wohlfahrtsstaat möglichst einheitliche Voraussetzungen für die Wahrnehmung der Rechte schafft und illegitime Ungleichheiten abfedert.
- Schließlich sei es der kulturellen Einheitlichkeit von Nationalgesellschaften verpflichtet.
Bereits in den zeitgenössischen Debatten wurde das klassische Konzept, das eine Stufenleiter (von zivilen, über politische zu sozialen Rechten) unterstellt, wegen seiner teleologischen und von sozialen Kämpfen abstrahierenden Ausrichtung und seiner engen Verknüpfung mit Klassenkonflikten kritisiert. Zudem wurde in komparativer Perspektive verdeutlicht, dass es neben diesem liberalen Modell auch andere (z.B. autoritäre, monarchistische oder faschistische) Varianten der Institutionalisierung von Staatsbürgerschaft gebe.
In den 1980er Jahren kommt es ähnlich wie in der Geschichtswissenschaft zu einem erstarkten Interesse, indem Prozesse der Migration bzw. Integration untersucht werden und eine transnationale Perspektive an Bedeutung gewinnt. Exemplarisch ist auf die Forschungen der historischen Soziologie (z.B. Brubaker 1994) zu verweisen.
Spannungsverhältnisse
Zum einen werden verschiedene Spannungsverhältnisse diskutiert. Mackert (2006) unterscheidet die Spannung
- von formaler Gleichheit und realer Ungleichheit: Dabei gehe es um die Frage, ob die Staatsbürgerrechte bzw. das Gebot der Chancengleichheit in einem eher formalen Sinne (als Möglichkeitshorizonte) oder in einem eher realen Sinne (als Ergebnisgleichheit) zu begreifen seien. Im Kontext sozialstaatlicher Reformen komme es seit den 1980er Jahren schließlich zu einem Paradigmenwechsel, indem z.B. Marktelemente in das Sozialsystem einbezogen und die Pflichten von Wohlfahrtsempfängern neu gefasst werden.
- von Status und Praxis: Während im individualistisch-liberalen Denken eine »private und passive Konzeption des Bürgers« (S. 69) vorherrsche, dessen Pflichten vor allem darin bestehen, die Rechte anderer zu achten, werden in der bürgerlich-republikanischen Tradition die Bürger »als Teil einer spezifischen Gemeinschaft [begriffen], in der die sozialen Bande auf einer gemeinsam geteilten Vorstellung des guten Lebens beruhen; damit werden die Pflichten gegenüber dem Gemeinwesen betont« (69 f.).
- von Universalismus und Partikularismus: Hier wird das Spannungsverhältnis zwischen dem universalen Anspruch von allgemeinen Menschenrechten und dem partikularen Anspruch von Bürgerrechten (im Kontext eines Nationalstaats) analysiert. Zudem entstehen in ›multikulturellen‹ Gesellschaften spezifische Konflikte, wenn der »Anspruch eines vermeintlich ›falschen‹ Universalismus moderner Staatsbürgerschaft« zurückgewiesen und »Gruppen- oder Sonderrechte« (S. 74) eingefordert werden.
- Inklusion und Exklusion: In Migrationsgesellschaften komme es zu einer neuen Konstellation, indem neben der externen Exklusion (Bürger anderer Nationalstaaten) auch interne Exklusionen (Bürger mit beschränkten Rechten innerhalb eines Nationalstaats) eine Rolle spielen. »Dem Begriffspaar Inklusion/Exklusion kommt unter modernen Bedingungen entscheidende Bedeutung zu, denn die Auseinandersetzung um die Inklusion von Migranten rückt die Frage nach ihrer Partizipation an den bürgerlichen, politischen, sozialen/ökonomischen und kulturellen Rechten der Gesellschaft, in die sie eingewandert sind, in den Mittelpunkt« (S. 81).
Jenseits des Nationalen
Zum anderen geht es um die Frage, wie das Konzept der citizenship im Rahmen von Europäisierung und Globalisierung zu denken sei. So habe man es im Kontext von ökonomischen (z.B. globale Produktions- und Finanzbeziehungen), politischen (z.B. supranationale Organisationen, aber auch international agierende Ratingagenturen), rechtlichen (z.B. Bindung an internationales bzw. europäisches Recht oder an internationale Schiedsgerichte) und kulturellen Globalisierungsprozessen (z.B. neue Techniken der Information und Kommunikation sowie transnationale Sozialbeziehungen) mit einer völlig neuen Konstellation zu tun. Damit stellt sich die Frage »nach der Handlungsfähigkeit des Staates, nach seinen Möglichkeiten, regulierend in ökonomische Abläufe einzugreifen, sozialpolitisch tätig zu sein oder auch über seine territorialen Grenzen hinaus Politik aktiv zu gestalten« (S. 91) in neuer Weise.
Bei der 1992 eingeführten EU-Bürgerschaft steht vor allem der Marktbürger im Vordergrund; die sozialen Rechte verbleiben eher auf der nationalen Ebene. So komme es zu einer »Koexistenz von nationaler und supranationaler Bürgerschaft« (S. 98).
Citizenship-Debatte im 21. Jahrhundert
Die wissenschaftlichen Debatten um das Konzept der citizenship haben sich im 21. Jahrhundert ausdifferenziert und es sind weitere Disziplinen hinzugestoßen. Verglichen mit der beinahe ›romantischen‹ Konstellation, die Marshall zu Beginn der 1950er Jahre darstellt, erscheinen die heutige Situation und mehr noch die sozialwissenschaftlichen Debatten um citizenship sehr unübersichtlich. Im Folgenden findet sich ein Versuch, hier ein wenig Ordnung anzubieten. Wenn man einmal die Arbeiten Marshalls aus den 1950er Jahren als den zentralen Referenzpunkt der Debatte um citizenship betrachtet, lassen sich drei Zielrichtungen unterscheiden:
Erweiterung des Konzepts
Zum einen gibt es in weiten Teilen berechtigte Kritiken an blinden Flecken in Marshalls Konzept und dementsprechende Versuche einer Erweiterung des Modells:
- So wurde kritisiert, dass Marshall wichtige Ungleichheitsverhältnisse, die sich in den Nationalgesellschaften entlang der Kategorien gender und race auftun, unzureichend berücksichtigt. Dementsprechend sind vielerlei Forschungsansätze entstanden, in denen versucht wird, die Perspektive zu erweitern, so z.B. indem die Perspektive der geschlechtlichen und sexuellen Orientierung einbezogen wird (Volpp 2017) oder indem die lange Geschichte rassistischer Unterscheidungen analysiert wird (FitzGerald 2017).
- Marshall erzählt die Entwicklung der Bürgerschaftsrechte als eine Fortschrittsgeschichte und lehnt sich dabei an Modernisierungstheorien an. Bereits Tilly (1996, S. 6) hatte darauf verwiesen, dass die mit der citizenship verknüpften Rechte stets umkämpft sind (Mackert/ Turner 2017). Turner spricht an anderer Stelle von einer Erosion der staatsbürgerlichen Rechte (2024, S. 151 ff.).
- Marshall fokussiert auf die britische Konstellation und blendet andere Entwicklungslinien seiner Epoche (z.B. monarchistische, autoritäre oder faschistische Varianten) aus (Mann 2000). Demgegenüber sind vielerlei Forschungen entstanden, die sich in vergleichender Perspektive mit den Entstehungsbedingungen (Gosewinkel 2016) und der Verfasstheit verschiedener citizenship-regimes befassen (Vink 2017) oder die Länder des globalen Südens (Chung 2017 oder Mahon 2018) in den Blick nehmen.
- Marshall arbeitet mit einer dualen Sichtweise auf Staatsbürgerschaft, indem er Vollbürger und andere unterscheidet. Morris (2024) macht demgegenüber deutlich, dass es im Zusammenspiel von Menschenrechten, EU-Recht (z.B. Schengener bzw. Dubliner Übereinkommen) und dem jeweiligen nationalen Recht zu komplexen Zwischenlagen kommt.
Anpassung an neue Rahmenbedingungen
Zum zweiten haben sich gegenüber Marshalls Zeiten (prosperierende Industriegesellschaften nach dem Zweiten Weltkrieg) wesentliche Rahmenbedingungen verändert; demensprechend ist eine Anpassung bzw. Relativierung des Konzepts erforderlich.
- Es kommt seit den 1980er Jahren zu einer Erosion und einer paradigmatischen Neuorientierung von Sozialpolitiken. Viele Forscher:innen begreifen diese im Kontext einer »neo-liberalen Revolution« (z.B. Turner 2024, S. 20). Die Diagnose ist sicherlich nicht falsch; sie unterschlägt jedoch die großen Unterschiede zwischen den Nationalstaaten. So lassen sich sowohl bei der Einschränkung sozialpolitischer Leistungen wie bei der paradigmatischen Neuorientierung (z.B. die ›Fordern und Fördern‹-Debatte in Deutschland) vielerlei nationale Besonderheiten ausmachen. Mitunter gibt es auch (begrenzte) Gegenbewegungen (z.B. in Deutschland von Hartz-IV-Leistungen zum Bürgergeld). Schließlich wird mit dem Narrativ vom neoliberal motivierten Sozialstaatsabbau auch die Ausweitung von Rechten (z.B. für queere Menschen) und Unterstützungssystemen (z.B. für Gewaltopfer) geringgeschätzt.
- Mit Prozessen der Europäisierung und Globalisierung, mit neuen Kriegsschauplätzen aber auch mit der einsetzenden Flucht vor den Folgen des Klimawandels kommt es zu komplexen Migrationsbewegungen. Auch wenn nur der kleinere Teil dieser Fluchtbewegung Europa erreicht, zeigt sich eine größere Heterogenität von Migrationsgruppen; Vertovec (2024) spricht von »Superdiversität«. Mit der EU-Bürgerschaft oder mit Konzepten der doppelten Staatsbürgerschaft gehen Debatten einher, inwieweit von einer post-nationalen Bürgerschaft (Tonkiss 2022) gesprochen werden könne.
Anpassung an neue Akteurskonstellationen und Perspektiven
Zum dritten hat man es in den letzten beiden Jahrzehnten mit einer veränderten Akteurskonstellation und neuen Perspektiven zu tun. Seit den 1970er Jahren hatte sich mit den verschiedenen Frauenbewegungen, mit den queeren Bewegungen und mit den rassismuskritischen Bewegung das Feld der zivilgesellschaftlichen Akteure erheblich verändert. Lange blieb unberücksichtigt, dass immer auch rechte Gegenkräfte an Bedeutung und Diskursmacht gewonnen haben.
So ist es in der Mehrheitsgesellschaft zu einer wachsenden Sensibilisierung für Ungleichheiten gekommen, die sich aus der Verletzung staatsbürgerlicher Rechte bzw. den Schwierigkeiten ihrer Durchsetzung ergeben. Insbesondere der in politischen (aber auch in wissenschaftlichen) Diskursen allgegenwärtige Begriff der ›Identität‹ kann hier als ein Indikator begriffen werden. Brubaker resümiert: »Die Gesellschaftsanalyse wurde in den vergangenen Jahrzehnten massiv und dauerhaft für die Partikularität sensibilisiert, und die Literatur über Identität hat Wertvolles zu diesem Unternehmen beigetragen« (2007, S. 95). Während Tilly (1995) dafür plädiert hatte, dass ›Identität‹ zwar ein sehr unscharfes, aber auch unverzichtbares Konzept ist, schlägt Brubaker vor, über das Konzept hinauszugehen. Es transportiere als Praxiskategorie eine Reihe sehr problematischer Annahmen (2007, S. 61), so z.B., dass alle Menschen bzw. Gruppen eine Identität haben oder erstreben sollten, dass Identität ›entdeckt‹ werden könne oder dass über Identitäten klare Grenzen gezogen werden könnten. Er plädiert dementsprechend für eine Strategie, »das Gewirr der Bedeutungen, das sich um den Begriff der ›Identität‹ gebildet hat, aufzulösen« (S. 66 f.) und für die analytische Arbeit andere weniger belastete und möglichst prozedurale Begriffsgruppen zu nutzen: Identifikation und Kategorisierung; Selbstverständnis und gesellschaftliche Verortung; Gemeinsamkeit, Verbundenheit und Zusammengehörigkeitsgefühl.
Fazit
Das Konzept der Staatsbürgerschaft und die Analyse der damit verbundenen zivilen, politischen und sozialen (aber auch der ökonomischen und kulturellen) Rechte eröffnet einen Zugang zur Analyse von Sozialstrukturen und sozialen Ungleichheiten, der systematisch über die klassische sozioökonomische Perspektive hinausweist.
- In der binnenstaatlichen Perspektive können insbesondere die sozialen Rechte zu einem Abbau sozialer Ungleichheiten beitragen. Es werden aber auch die feinen Abstufungen staatsbürgerlicher Rechte zwischen Vollbürgern und verschiedenen Gruppen von Anderen erkennbar. Die bei Marshall analysierten Wechselverhältnisse von staatsbürgerlicher Gleichheit und sozioökonomischer Ungleichheiten eröffnen wichtige Einblicke in die komplexen Verhältnisse der Aushandlung und Legitimierung sozialer Ungleichheiten. Auch Fragen der (nationalen) ›Identität‹ müssen in komplexen Migrationsgesellschaften neu verhandelt werden.
- In der transnationalen Perspektive wird die große Variation von nationalen citizenship-regimes erkennbar. Sie lassen die Bedeutung von sozialstaatlichen und anderen Institutionen erkennen, die diese bei der Entwicklung von Nationalstaaten spielen.
- In historischer Perspektive interessieren die verschiedenen Wege der Herausbildung und Veränderung von citizenship-regimes. Sie lassen neben der sozioökonomischen Entwicklung eine mal gleichläufige, mal gegenläufige Entwicklung von staatsbürgerlichen Rechten erkennen.
Man kann die national sehr unterschiedlichen staatsbürgerschaftlichen Rechte als eine spezifische Form von Kapital begreifen, das vererbt, erworben, mitunter sogar erkauft werden kann und somit entscheidend zur Reproduktion (Shachar 2009), aber auch zur Abschwächung (z.B. durch Migrationen und die Rückflüsse von ökonomischen, kulturellen und sozialen Kapitalien) globaler Ungleichheiten beiträgt.
Diesen Potentialen stehen aber auch einige Schwachstellen gegenüber:
- So kommt es zu einer Engführung auf zivile, politische und soziale Rechte. Damit werden die mit den Nationalstaaten verbundenen Innovationen jedoch unterschätzt. Sie stellen wesentliche Infrastrukturen und Institutionen bereit und greifen regulierend in das wirtschaftliche und soziale Geschehen ein. Die Analyse von Staatsbürgerschaftsregimen muss daher mit der Untersuchung von Produktionsweisen, Regulationstypen und Wohlfahrtsregimen verknüpft werden.
- Auch die Frage nach den Chancen, bestehende Rechte durchzusetzen, mithin die Frage nach gesellschaftlichen Machtverhältnissen, wird nicht systematisch erörtert.
- Die Fortschrittsgeschichte, die in dem Ansatz von Marshall erkennbar wird, erscheint in einem anderen Licht, wenn man die Geschichte des politisierten Nationalismus betrachtet. So spricht Michael Mann (2007) von einer dunklen Seite der Demokratie und rekonstruiert die lange Geschichte ethnischer Säuberungen seitens der Nationalstaaten; sie reicht von zwanglosen Assimilationen, über institutionelle Formen der Unterdrückung bis hin zu Massenmorden (S. 26).
- Schließlich fokussiert die citizenship-Forschung vorwiegend auf die prosperierenden Nationalstaaten des globalen Nordens.
Anmerkungen
1) Die sich seit dem 19. Jahrhundert herausbildenden Nationalstaaten können als »Erfindung Westeuropas« (Osterhammel 2009, S. 581) begriffen werden. Über sie werden Nationen und Staaten in einen Zusammenhang gebracht. »Demnach wäre der Nationalstaat (..) nicht das nahezu unvermeidliche Resultat einer massenhaften Bewusstseinsbildung und Identitätsformierung ›von unten‹, sondern das Produkt eines konzentrierenden Machtwillens ›von oben‹. Der Nationalstaat ist in diesem Verständnis nicht die staatliche Hülle einer gegebenen Nation. Er ist ein ›Projekt‹ von Staatsapparaten und machthabenden Eliten, aber auch (…) von revolutionären oder antikolonialen Gegeneliten. Der Nationalstaat knüpft meist an ein bereits vorhandenes Nationalgefühl an, instrumentalisiert es dann aber für eine Politik der Nationsbildung. Diese Politik setzt sich zum Ziel, mehreres zugleich zu schaffen: einen aus eigenen Kräften lebensfähigen Wirtschaftsraum, einen handlungsfähigen Akteur der internationalen Politik und manchmal auch eine homogene Kultur mit eigenen Symbolen und Werten« (S. 583). Als ›äußere Form‹ entstehen die Nationalstaaten im 19. und 20. Jahrhundert, indem sie von einer großen Mehrheit anderer Staaten anerkannt werden; die Entwicklung einer ›inneren Form‹, die institutionelle Erschließung des zunächst nur territorial bestimmten Gemeinwesens, währt oft mehrere Jahrzehnte.
2) Während der Begriff der Staatsbürgerschaft auf staatliche Einheiten verweist, kann sich der Begriff der citizenship auch in einem allgemeineren Sinne auf die Zugehörigkeit zu Bürgerschaften (z.B. in Städten) beziehen.
3) Von citizenship-regimen wird gesprochen, um das gesamte Bündel von rechtlichen Bestimmungen und Praktiken zu typisieren, die sich in spezifischen Nationalstaaten in einer bestimmten Phase herausgebildet haben. Eine spezifischere Lesart wurde von Jane Jenson (1997) entwickelt.
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