
Staatsbürgerschaft bei Tilly
Der Sozialhistoriker Charles Tilly definiert die Staatsbürgerschaft (citizenship) als »eine Reihe von wechselseitig durchsetzbaren Ansprüchen, die Kategorien von Personen mit Instanzen von Regierungen verbinden« (1997, S. 600, eigene Übersetzung). Eine Regierung steht dabei für eine Organisation, »die die wichtigsten Zwangsmittel in einem bestimmten Gebiet kontrolliert« (S. 599); das kann ein Staat, aber auch eine andere Form der Organisation sein.
- Staatsbürgerschaft als Vertrag
- Staatsbürgerschaft als Bindung
- Anmerkungen
- Literatur
Staatsbürgerschaft als Vertrag
Die Staatsbürgerschaft habe den Charakter eines Vertrages, wie es auch Verträge oder Übereinkünfte zwischen Arbeitnehmer:innen und Arbeitgeber:innen oder zwischen Ehepartnern gebe. Der Vertragscharakter impliziert nach Tilly, dass
- die Reichweite variabel ist
- die Inhalte des Vertrages nur bedingt spezifizierbar sind
- unbestimmte Annahmen über den Kontext eingehen
- der Vertrag immer wieder durch die Praxis modifiziert und durch das kollektive Gedächtnis eingeschränkt werden kann.
Der Vertrag ist jedoch »unausweichlich mit Rechten und Verpflichtungen verbunden, die ausreichend definiert sind, dass jede Partei wahrscheinlich ihre Empörung zum Ausdruck bringt und Korrekturmaßnahmen ergreift, wenn die andere die in die Beziehung gesetzten Erwartungen nicht erfüllt« (ebd.).
Die Rechte eines sozialen Akteurs (eine Regierungsorganisation) gegenüber einem anderen Akteur (eine Gruppe von Personen) umfassen alle einklagbaren Ansprüche, die gegenüber dem anderen geltend gemacht werden können. Entscheidend ist dabei, »dass maßgebliche Dritte eingreifen, um die Einhaltung der betreffenden Ansprüche (…) zu fördern« (S. 599). Verpflichtungen sind demgegenüber die gleichen durchsetzbaren Ansprüche aus der Sicht der Gruppe von Personen.
Die Staatsbürgerschaft ähnelt anderen Verträgen, »indem sie sichtbare Grenzen zwischen Insidern und Outsidern zieht und Dritte verpflichtet, ihre Bestimmungen zu respektieren und sogar durchzusetzen« (S. 600). Der wesentliche Unterschied gegenüber anderen Verträgen liegt darin, dass ganze Personengruppen (nicht nur Individuen) einbezogen sind, dass zwischen Graden der Mitgliedschaft unterschieden wird und dass letztlich die Zwangsgewalt einer Regierung dahintersteht. Darüber wird die Staatsbürgerschaft zu einer sehr starken, aber auch sehr umkämpften Vertragsform. Tilly verweist hier exemplarisch auf den Militärdienst, den Zugang zu öffentlichen Ämtern und Wahlen, die Erhebung von Steuern, aber auch auf den Zugang zur öffentlichen Bildung und anderen öffentlichen und sozialen Dienstleistungen. All dies ist seit Langem »Gegenstand ernsthafter Kämpfe« (S. 600).
Entwicklung von Bürgerschaft
Seit Jahrhunderten gebe es Bürgerschaftsverhältnisse, z.B. auf der Ebene von Städten; neu ist die Einbindung in große und zentralisierte Nationalstaaten. Diese haben die früheren Formen der bürgerschaftlichen Einbindung ersetzt, zerstört oder auf untergeordnete Ebenen verwiesen.
In den Nationalstaaten wird die Bürgerschaft aber auch differenziert, mindestens zwischen Heranwachsenden und Älteren, zwischen Inhaftierten und Freien oder zwischen Autochthonen und Zugewanderten. Zu feineren Unterscheidungen komme es, wenn Wahlrecht oder Militärdienst auf erwachsene Männer beschränkt wird, wenn Rechte an Eigentumsvoraussetzungen gebunden werden oder wenn sich differenzierte Status von Vollbürgern und anderen herausbilden. D.h. die Verträge sind somit keinesfalls für alle Gruppen gleich; ähnlich wie in einem großen Betrieb gebe es unterschiedliche Verträge entlang der betrieblichen Hierarchie.
Wie bereits erwähnt sind die Verträge und die damit verbundenen Rechte und Verpflichtungen stark umkämpft. Die Ansinnen der Staaten stoßen auf Widerstand, wenn diese Steuern erhöhen oder auf der Einhaltung von Dienstpflichten bestehen; es komme zu Verhandlungen und Vereinbarungen, die Rechte und Pflichten beinhalten, »z.B. wenn vom Volk gewählte Parlamente durch ihre Rolle bei der Erhebung von Steuern für die Kriegsführung an Macht gewinnen« (601). Dabei organisieren sich einzelne Gruppen der unterworfenen Bevölkerung in Interessengruppen, Parteien oder sozialen Bewegungen und fordern »die Umstrukturierung oder die Neuverteilung der staatlich kontrollierten Ressourcen« (ebd.).
Staatsbürgerschaft als Bindung
An anderer Stelle definiert Tilly Staatsbürgerschaft (idealtypisch) als eine bestimmte Art von Bindung, die sich als eine »kontinuierliche Reihe von Transaktionen zwischen Personen und Vertretern eines bestimmten Staates« darstellt. Beide haben »einklagbare Rechte und Pflichten, die sich aus (1) der Zugehörigkeit der Person zu einer exklusiven Kategorie, den Geborenen und den Eingebürgerten und (2) der Beziehung des Vertreters zum Staat« (1995, S. 8) ergeben. Die Staatsbürgerschaft stellt somit eine besondere Art von Vertrag dar. Verglichen mit vielen anderen Formen der besonderen Bindung zeichnet sich die staatsbürgerliche Bindung dadurch aus, dass sie »einklagbare Rechte und Pflichten mit sich bringt, die auf der kategorischen Zugehörigkeit von Personen und der Beziehung zum Staat beruhen. Die Staatsbürgerschaft kann dann von dünn bis dick reichen: dünn, wenn sie nur wenige Transaktionen, Rechte und Pflichten mit sich bringt; dick, wenn sie einen bedeutenden Anteil an allen Transaktionen, Rechten und Pflichten einnimmt, die von staatlichen Akteuren und den Menschen, die unter deren Rechtsprechung leben, getragen werden« (ebd.).
Bei der Herausbildung neuer Organisation läßt sich beobachten, dass Menschen vorrangig auf soziale Strukturierungsprinzipien zurückgreifen, die sich bereits gesellschaftlich bewährt haben. Im Vergleich zu neuen Strukturierungen, die oft mit hohen Transaktionskosten (für die Entwicklung, Begründung, Umsetzung und Einübung) verbunden sind, hat sich die Emulation (vgl. Tilly 1999, S. 95-97) bewährter Muster als effektiver erwiesen. »Im Fall der Staaten und ihrer Staatsbürgerschaft liefert das Geschlecht das treffendste Beispiel: Die Bindung der Staatsbürgerschaft an den Militärdienst und die vorausgesetzte wirtschaftliche Unabhängigkeit baute das System der Beziehungen zwischen Mann und Frau, das bereits in Haushalten, Unternehmen und Gemeinden vorherrschte, direkt in die Organisation des Staates ein. Es dauerte mehr als ein Jahrhundert bis Feministinnen für eine Neudefinition mobilisieren, die die fest gefügte Geschlechterschranke durchbricht« (1995, S. 9).
Auch (unterstellte) ethnische oder nationale Zugehörigkeiten werden bevorzugt als Einschluss- bzw. Ausschlusskriterium genutzt. »Sowohl ethnische wie nationale Gruppen fungieren als soziale Kategorien, die durch die Annahme von gemeinsamen Ursprüngen, Kulturen und sozialen Beziehungen definiert (und von anderen sozialen Kategorien unterschieden) werden« (S. 9).
In seinem Beitrag von 1995 versucht Tilly, die Bezüge zwischen Staatsbürgerschaften und Identitäten genauer zu bestimmen. Er definiert Identität als »die Erfahrung eines Akteurs mit einer Kategorie, einer Bindung, einer Rolle, einem Netzwerk, einer Gruppe oder einer Organisation, gekoppelt mit einer öffentlichen Darstellung dieser Erfahrung; diese Darstellung hat oft die Form einer gemeinsamen Geschichte, einer Erzählung« (S. 7). Auch die einzelnen Begriffe dieser Bestimmung werden definiert 1). Das Konzept der ›Identität‹ sei in der politischen und sozialen Geschichte unverzichtbar; er führt dafür drei Gründe an:
- »erstens ist das Phänomen der Identität nicht privat und individuell, sondern öffentlich und relational;
- zweitens umspannt es das gesamte Spektrum von der Kategorie bis zur Organisation;
- drittens verfügt jeder Akteur über mehrere Identitäten, mindestens eine pro Kategorie, Bindung, Rolle, Netzwerk, Gruppe und Organisation, der der Akteur verbunden ist. Dass Akteure oft typisiert und adressiert werden, indem sie einer dieser vielfältigen Identitäten – Ethnie, Geschlecht, Klasse, Beruf, religiöse Zugehörigkeit, nationale Herkunft oder anderen – zugerechnet werden, begründet keineswegs die Einheit oder auch nur die enge Verbindung zwischen diesen Identitäten. Dass (…) Fanatismus gelegentlich eine Identität zum zentralen Bezugspunkt des Bewusstseins und Verhaltens eines Akteurs erhebt, ändert nichts an dem Vorhandensein multipler Identitäten bei Menschen« (S. 7).
Tilly konstatiert, dass »die staatlichen Vorstellungen über die Beziehung zwischen ethnischer Zugehörigkeit oder Nationalität und Staatsbürgerschaft entlang zweier Dimensionen« (S. 10) differieren:
- von exklusiven zu inklusiven Definitionen von Bindungen an relevante Ethnien und Nationalitäten
- von ursprünglichen (primordial) bis hin zu erlernten (learned) Auffassungen dieser Bindungen.
Demnach unterscheidet er exemplarisch die Variation der staatsbürgerlichen Konzepte:
exklusiv | inklusiv | |
ursprüngliche Bindung | Israel | Osmanisches Reich |
erlernte Bindung | Frankreich | USA |
Am Beispiel der USA verweist er dann aber auch auf die große historische Variabilität der Konzepte. Während bis zum Bürgerkrieg Versklavten der Zugang zu Bürgerrechten verwehrt wurde, traten danach vor allem Verwandtschaftsverhältnisse mit amerikanischen Bürgern in den Vordergrund. Im Laufe des 20. Jahrhunderts fokussiert das Zuwanderungsrecht auf Qualifikationen und die erfolgreiche Einbindung in den Arbeitsmarkt. Ergänzend werden aber weiterhin Verwandtschaft, Abstammung, kulturelle Verbundenheit und Verbindungen zu ehemaligen Kolonien berücksichtigt; auch die (Nicht-)Zugehörigkeit zu religiösen Sekten, politischen Parteien oder militärischen Organisationen spielte bei der Gewährung oder Verweigerung der Staatsbürgerschaft eine Rolle.
Während es grundsätzlich zu einem Bedeutungsverlust religiöser Faktoren kommt, besteht sowohl in der Bevölkerung wie in politischen Instanzen eine Bigotterie fort; das zeige sich am politischen Antisemitismus in weiten Teilen Europas. Zudem zeige sich, dass nicht selten Wohlstand und Religionszugehörigkeit miteinander korrelierten (vgl. S. 11).
Anmerkungen
1) »Actor: any set of living bodies (including a single individual) to which human observers attribute coherent consciousness and intention.
Category: a set of actors distinguished by a single criterion, simple or complex. (…)
Tie: a continuing series of transactions to which participants attach shared understandings, memories, forecasts, rights and obligations.
Role: a bundle of ties attached to a single actor.
Network: a more or less homogeneous set of ties among three or more actors.
Group: coincidence of a category and a network.
Organization: group in which at least one actor has the right to speak authoritatively for the whole« (Tilly 1995, S. 6 f.).
Literatur
Brubaker, Rogers 1994: Staats-Bürger. Deutschland und Frankreich im historischen Vergleich, Hamburg: Junius
Gosewinkel, Dieter 2019: »Staatsbürgerschaft« als interdisziplinäres Feld historischer Forschung, in: Angster, Julia/ Gosewinkel, Dieter/ Gusy, Christoph, Staatsbürgerschaft im 19. und 20. Jahrhundert, Tübingen: Mohr Siebeck, S. 1-78
Tilly, Charles 1995: Citizenship, Identity and Social History, in: International Review of Social History, Vol. 40, Suppl. 3, S. 1-17
Tilly, Charles 1997: A Primer on Citizenship, in: Theory and Society, Vol. 26, No. 4, Special Issue on Recasting Citizenship (Aug. 1997), S. 599-602
Tilly, Charles 1999: Durable Inequality, Berkeley, Los Angeles, London: University of California Press