Staatsbürgerrechte und soziale Ungleichheiten

In diesem Beitrag wird geklärt, welche Rolle Staatsbürgerrechte (z.B. zivile, politische und soziale Rechte) für das Verständnis von Sozialstrukturen bzw. die Analyse von sozialen Ungleichheiten auf einer nationalen wie einer transnationalen Ebene spielen.

Ausgehend von der miteinander verschränkten Entwicklung von Nationalstaaten und kapitalistischer Produktion muss sich eine historisch orientierte Sozialstrukturanalyse für die komplexen Wechselverhältnisse von eher ökonomischen und eher politischen Wirkfaktoren interessieren.

Der Beschäftigung mit Staatsbürgerrechten kommt in der Entwicklung der Sozialstrukturanalyse oft keine ausreichende Bedeutung zu; das hängt vor allem mit dem lange vorherrschenden Bezug auf den nationalstaatlichen Rahmen, aber auch mit der Fokussierung auf männliche und weiße Normal-Existenzen zusammen. Zudem spielte die Fokussierung auf materielle Ungleichheiten eine wichtige Rolle.

Staatsbürgerschaft als selektive soziale Schließung

Die Entstehung der Nationalstaaten geht mit Grenzziehungen einher: das sind zunächst einmal territoriale Grenzen. Indem dann die so abgegrenzten Territorien mit einem Staatsvolk verknüpft werden und Verbände von Staatsbürger:innen entstehen, kommt es auch zu sozialen Grenzziehungen, die eine soziale Gruppe einschließen, andere aber ausschließen. Grenzziehungen haben jedoch stets einen selektiven Charakter: das gilt für die territoriale Grenze, indem diese für verschiedene Personengruppen in unterschiedlicher Weise durchlässig ist; es gilt aber auch für die sozialen Grenzen, die über die Institution der Staatsbürgerschaft entstehen. So läßt sich zwischen territorialer Schließung (z.B. Verhinderung oder Erschwerung der Einreise) und interner Schließung (z.B. abgestufte Arbeitsrechte) unterscheiden.

Territoriale Schließung

»Eine von einem Staatsgebiet ausgeschlossene Person ist gleichbedeutend von jeder Interaktion innerhalb dieses Territoriums und von allen damit verbundenen Vorteilen und Lebenschancen ausgeschlossen. Dazu gehören solche Grundgüter wie öffentliche Ordnung und Sicherheit und der Zugang zu einem vielversprechenden Arbeitsmarkt. Für jemanden, der vor Armut oder Bürgerkrieg auf der Flucht ist, kann sich der Zutritt zum Gebiet eines wohlhabenden oder friedlichen Staates entscheidend auf seine Lebenschancen auswirken. Daß ein solcher Zugang Nichtbürgern verschlossen ist, bedeutet nicht absolute oder bedingungslose Schließung. Staaten brauchen ihre Macht, Nichtbürger auszuschließen, nicht auszuüben und tun dies auch oft nicht; und wenn sie diese Macht ausüben, dann tun sie es meist selektiv, nicht unterschiedslos. In globaler Perspektive führen die folgenreichen Auswirkungen selbst einer selektiven territorialen Schließung gegen Nichtbürger jedoch dazu, daß der Staatsbürgerschaft eine Schlüsselbedeutung für den Zugang zu den wichtigsten, die Lebenschancen bestimmenden Gütern und Möglichkeiten zukommt« (Brubaker 1994, S. 48 f.). Die letztere Überlegung wurde von Shachar (2009) treffend zusammengefasst, als sie von einer ›Birthright Lottery‹ sprach, bei der sich entscheide, wer welche Lebenschancen auf diesem Planeten habe.

Interne Schließung

»Die interne Schließung gegenüber Nichtbürgern beruht auf diesem Verständnis moderner Staaten als begrenzter Nationalstaaten – Staaten, deren Ziel es ist, den Willen spezifischer und begrenzter Nationen auszudrücken und ihre Interessen zu vertreten; deren Legitimierung davon abhängt, daß sie dies tun oder zumindest zu tun scheinen. Der routinemäßige Ausschluß der Nichtbürger von den modernen Systemen ›allgemeinen‹ Wahlrechts ist in dieser Hinsicht exemplarisch« (S. 53). Interne Schließungen hatten häufig einen selektiven Charakter. Das läßt sich am Wahlrecht beobachten, wenn bei bestimmten Wahlen (z.B. EU-Wahlen oder Kommunalwahlen), neben den Vollbürgern auch andere Gruppen (EU-Staatsangehörige) wahlberechtigt sind. Zudem kommt es zu erheblichen Unterschieden zwischen verschiedenen Rechtsbereichen, so z.B. beim Zugang zum Arbeitsmarkt oder zu Sozialleistungen. Ein Blick in das Asyl- und Migrationsrecht eines Landes offenbart eine Vielzahl von Statusgruppen.

Interne Schließungen finden sich aber auch innerhalb jener, die vermeintlich zum Staatsvolk gehören; so z.B. gegenüber Frauen, denen über einen langen Zeitraum der Zugang zum Wahlrecht, aber auch zum Bildungs- und Erwerbssystem versperrt war.

Zugang zu Staatsbürgerrechten

Angesichts dieser Schließungen wird die Frage, ob und unter welchen Bedingungen die Staatsbürgerschaft erworben werden kann, zu einer wichtigen sozialen Frage.

Der Zugang zu Staatsbürgerrechten kann in einem askriptiven (zuschreibenden) Sinne erfolgen, indem Personen nach spezifischen Regeln (z.B. Geburtsort der Person oder Staatsbürgerschaft der Eltern) eine solche zugeschrieben wird; darüber hinaus können Staatsbürgerschaften auch durch eine Ehe oder Adoption erworben werden. Der Wandel dieser vermeintlich stabilen Muster 1) der Zuschreibung staatsbürgerlicher Rechte in Frankreich (ius soli – wörtlich ›Recht des Bodens‹) und Deutschland (ius sanguinis, wörtlich ›Recht des Blutes‹) macht deutlich, in welchem Maße staatsbürgerliche Rechte auch mit den zeitspezifischen politischen und ökonomischen Rahmenbedingungen zusammenhängen. Im 21. Jahrhundert wurden diese Rechte sowohl in Deutschland wie in Frankreich stufenweise verändert.

Daneben können Personen über Prozesse der Einbürgerung eine Staatsbürgerschaft erwerben. Auch hier werden immer wieder variierte Regulierungen erkennbar, die sich an bestimmten Voraussetzungen (z.B. Aufenthaltsdauer, Identitäts-Dokumente, Mindesteinkommen, Sprach- und Landeskenntnisse, Straffreiheit, politische Bekenntnisse) wie auch an der Duldung mehrfacher Staatsbürgerschaft festmachen.

Rechtsgruppen und Ressourcengruppen

Indem man bei Sozialstrukturanalysen neben der Verteilung von ökonomischen Kapitalien nach Rechten fragt, erscheinen soziale Ungleichheiten in ganz anderer Weise. Neben den Einkommens- und Vermögens-Armen und -Reichen kommen Rechts-Arme, Rechts-Beschränkte und Rechts-Reiche in den Blick. Damit entsteht ein veränderter Blick auf soziale Ungleichheiten:

  • Frauen wurden über Jahrhunderte in ihren zivilen, politischen und sozialen Rechten beschnitten; das hat sich in den letzten Jahrzehnten in den prosperierenden Ländern des globalen Nordens erheblich verändert. Eine genauere Analyse, die auch nach den Möglichkeiten der Wahrnehmung von Rechten fragt, zeigt jedoch ein anderes Bild.
  • Mit dem Blick auf Migrations- und Integrationsprozesse werden andere Formen der Rechtsungleichheit erkennbar. Hier geht es um die Möglichkeiten des Zugangs zu einem national abgegrenzten Territorium und des Zugangs zur Staatsbürgerschaft. In Migrationsgesellschaften (die gesellschaftliche Normalform) hat sich ein komplexes Geflecht von Rechtsgruppen eingestellt. Das sind neben (vermeintlichen) Vollbürger:innen Gruppen mit graduell unterschiedlichen Rechten; schließlich auch Rechtlose (im Sinne der Staatsbürgerrechte). Auch die Chancen der Wahrnehmung und Durchsetzung dieser Rechte variieren.
  • Indem über die Grenzziehungen in den Nationalstaaten je eigene Rechts- bzw. Unrechtssysteme entstehen, werden deren Bürger:innen zu mehr oder weniger Rechtsgleichen, die sich dann aber deutlich von den Bürgerschaften anderer Länder unterscheiden können, indem sie über ein Mehr oder Weniger an zivilen, politischen und sozialen Rechten verfügen und indem es mehr oder weniger gelingt, diese Rechte auch zu gewährleisten.

Schließlich stehen Rechts- und Ressourcengruppen oft in einem engen (aber vielschichtigen) Zusammenhang; für seine Analyse können intersektionale Konzepte genutzt werden.

Binnennationale Ungleichheiten

In der binnennationalen Perspektive können unterschiedliche staatsbürgerliche Rechte soziale Ungleichheiten sowohl abschwächen wie verstärken. Zudem können diese Rechte unter spezifischen politischen (und ökonomischen) Rahmenbedingungen auch selektiv und willkürlich eingegrenzt bzw. erweitert werden.

Variationen der sozialen Lage im Kontext von Staatsbürgerrechten

Idealerweise wird davon ausgegangen, dass alle Bürger eines Nationalstaats über gleiche Rechte verfügen und dass beobachtbare Ungleichheiten einzig auf Unterschiede der Bildung und oder der Leistung zurückgehen (s.u.). Dennoch wird die soziale Lage von Personen in nicht unerheblichem Maße durch Unterschiede bedingt, die mit den Staatsbürgerrechten von Personen zusammenhängen.

  • In den bisherigen Ausführungen wurden schon verschiedene Beispiele angeführt, wie sich aus einer Migrationsgeschichte aber auch aus der Zugehörigkeit zu einer Geschlechtergruppe rechtliche Benachteiligungen ergeben, die sich dann auch in der sozialen Lage ausdrücken. Ein Blick in die jüngere Vergangenheit läßt eingeschränkte Rechte auch für Transpersonen oder Personen mit einer nicht heterosexuellen Orientierung erkennen.
  • Eine weitere Gruppe von Ungleichheiten hängt damit zusammen,
    dass sozialpolitische Leistungen nicht allen in gleicherweise zugänglich sind: z.B. wenn das Alterssicherungssystem eher an den durchschnittlichen Erwerbsverläufen von Männern orientiert ist oder wenn das Bildungssystem systematisch fortgeschrittene Kenntnisse der deutschen Sprache voraussetzt
    dass Prinzipien der Chancengleichheit im Bildungs- und Erwerbssystem systematisch verletzt werden: z.B. wenn die soziale Herkunft der Eltern den wahrscheinlichen Bildungsabschluss beeinflusst oder Männer und Frauen bei gleichen Qualifikation und Erfahrungen unterschiedlich bezahlt werden.
  • dass es Personengruppen nicht gelingt, bestehende Rechte auch wahrzunehmen: z.B. die Einhaltung bestimmter arbeitsrechtlicher Standards oder die Bezahlung eines Mindestlohns.

Stabilisierung sozialer Lagen durch Staatsbürgerrechte

Staatsbürgerechte tragen in erheblichem Maße zur Stabilisierung sozialer Lagen bei. Grundsätzlich hängt das mit dem Schutz des Privateigentums zusammen. Es ist aber auch das Erbrecht bzw. die nur moderate Besteuerung von Erbschaften, die einen wesentlichen Beitrag zur Reproduktion sozialer Ungleichheiten erbringt. Auf die Vererbung kulturellen Kapitals, die über das Bildungssystem kaum begrenzt und oft eher erleichtert wird, wurde bereits verwiesen. Schließlich fungiert in transnationaler Perspektive die Vererbung der Staatsbürgerschaft der Eltern an ihre Kinder als ein wesentliches Moment der Reproduktion globaler Ungleichheiten; vgl. auch das bereits erwähnte Konzept der ›Birthright Lottery‹ (Shachar 2009).

Zusammenspiel von sozioökonomischen Ungleichheiten und Staatsbürgerrechten

Thomas H. Marshall (1950) hat in seinen Analysen zum Verhältnis von Staatsbürgerrechten und Klassen die These vertreten, dass die Gleichheit in zivilen, politischen und sozialen Rechten eine wesentliche Rolle für die Akzeptanz sozialer Ungleichheiten in kapitalistischen Gesellschaften spiele.

Auf der einen Seite beobachtet Marshall am Beispiel Englands im 18. Jahrhundert die allmähliche Herausbildung ziviler Rechte (z.B. Redefreiheit, Glaubensfreiheit, Freiheit des Eigentums); im 19. Jahrhundert kommen politische Rechte (z.B. Wahl- und Partizipationsrechte) und schließlich im 20. Jahrhundert soziale Rechte hinzu (z.B. im Gesundheits- und Bildungsbereich oder bei der sozialen Sicherung). Darüber kommt es im Sinne der Staatsbürgerechte zu einem Mehr an Gleichheit und einer Zurückdrängung von (vererbbaren) Privilegien.

Auf der anderen Seite komme es aber mit der Entwicklung des Kapitalismus zu erheblichen Ungleichheiten im Erwerbssystem. Die sozialen Rechte im (idealerweise chancengleichen) Bildungsbereich und die enge Verknüpfung von Bildungs- und Erwerbssystem führen dann aber zu einer Neubewertung dieser Ungleichheiten. Marshall konstatiert, »dass durch die Bildung in ihren Beziehungen zur Beschäftigungsstruktur Staatsbürgerrechte als Instrument sozialer Schichtung wirken. Es gib keinen Grund, das zu beklagen. (…). Der durch die Bildung erlangte Status, der in die Welt hinausgetragen wird, trägt den Stempel der Legitimität, weil er durch eine Institution verliehen wird, die eingerichtet wurde, dem Bürger seine ihm zustehenden Rechte zu erfüllen« (S. 89).

Wandel von Staatsbürgerrechten

Insbesondere in den 1980er Jahren wird deutlich, dass sich die bei Marshall für England beschriebene Kompromisskonstellation, die sich aber auch in vielen anderen prosperierenden Ländern des globalen Nordens durchgesetzt hatte, in eine tiefe Krise gerät. Bottomore diagnostiziert bereits zu Beginn der 1990er Jahre: »The compromise or consensus of the 1950s and 1960s has largely broken down, and in Britain no longer exists at all, so that there is now more evidently a sharp division between left and right, between the contending principles of equality and inequality which Marshall regarded as being implicit in the relation between citizenship and capitalism« (1992, S. 80). Der Grad des Einbruchs bei den sozialen Rechten fällt sicherlich in den verschiedenen Nationalstaaten recht unterschiedlich aus; aber der Ausbau des Sozialstaates ist vielerorten an ein Ende gekommen. Zudem kommt es nach und nach zu einem veränderten Blick auf soziale Rechte. Während sie zunächst immer auch im Sinne von Ansprüchen begriffen wurden, erhalten sie nun eher den Charakter von Mindestleistungen, die dann aber auch mit bestimmten Pflichten der Unterstützten verknüpft wurden; so entspannte sich z.B. in Deutschland zu Beginn des 21. Jahrhunderts eine Debatte um ›Fordern und Fördern‹.

Für den hier interessierenden Zusammenhang von Staatsbürgerrechten und sozialen Ungleichheiten ist zu konstatieren, dass die bei Marshall beschriebenen Entwicklungen (bislang) zwar nicht umgekehrt wurden, dass der Grad, indem es über soziale Rechte zu einer Begrenzung und Legitimierung von Ungleichheiten kommt, jedoch recht variabel ist.

Staatsbürgerrechte in Zeiten von Gewaltherrschaft und Krieg

Über die Analyse von Rechten und Pflichten lassen sich recht gut die Veränderungen von Sozialstrukturen in Zeiten von Kriegen und Gewaltherrschaften analysieren. Exemplarisch lässt sich dies an der deutschen Gesellschaft während der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft und des Zweiten Weltkriegs aufzeigen.

Während klassische Sozialstrukturen, die mit den verschiedenen ökonomischen Positionen oder mit der Distinktion zwischen sozialen Gruppen zusammenhängen, sich nur wenig verändern, kommt es mit der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft zu komplexen Verhältnissen der Entrechtung und Verfolgung nicht weniger Bevölkerungsgruppen. Schließlich führt auch der Krieg zu einer weiteren Komplizierung von Ungleichheitsverhältnissen. Gosewinkel konstatiert, dass es nach 1933 zu einem fundamentalen Bruch in der rechtsstaatlichen Tradition gekommen sei; Staatsbürgerrechte wurden von einem Faktor der Integration zu einem Faktor der Stigmatisierung, Ausgrenzung und Vernichtung. Mit dem deutschen Angriffskrieg verschärft sich die Situation: Staatsangehörigkeiten werden im Sinne einer »nationalsozialistischen Rassenpolitik« funktionalisiert (2019, S. 72); am Ende entsteht eine »koloniale Pyramide« (S. 74).

Transnationale Ungleichheiten

Unterschiedliche Staatsbürgerrechte und unterschiedliche Möglichkeiten, diese Rechte wahrzunehmen, bilden ein wichtiges Momentum globaler Ungleichheiten. Therborn (2013) hat vorgeschlagen, bei der Analyse von globalen Ungleichheiten drei Typen zu unterscheiden:

  • vital inequalities: Ungleichheiten, die mit der körperlichen Verfassung von Menschen zusammenhängen und zu unterschiedlichen Lebenschancen (z.B. physische und psychische Gesundheit, Lebenserwartung) führen
  • existential inequalities: Ungleichheiten, die mit den Persönlichkeitsrechten, den staatsbürgerlichen Rechten sowie mit der Würde und Autonomie von Personen zusammenhängen
  • resource inequalities: Ungleichheiten, die auf die soziale Herkunft, die Bildung oder auf soziale Netzwerke zurückgehen und sich z.B. in Einkommen und Vermögen ausdrücken.

Dabei sind Fragen der elementaren Menschenrechte (vital inequalities) und der Staatsbürgerrechte (existential inequalities) als eine wesentliche Erweiterung der ökonomischen Perspektive (resource inequalities) auf globale Unterschiede zu begreifen.

Amartya Sen macht ausgehend von der Analyse von Hunger-Krisen und globalen Ungleichheiten auf die Bedeutung von Rechten für die wirtschaftliche Entwicklung aufmerksam. Er begreift diese Rechte im Sinne von »Verwirklichungschancen«. Sie drücken sich in den substantiellen Freiheiten aus, die es einem Menschen »erlauben, ein mit Gründen erstrebtes Leben zu führen« (2000, S. 110). Vor diesem Hintergrund begreift Sen Armut nicht lediglich als einen Mangel an Ressourcen, sondern auch als einen Mangel an fundamentalen Verwirklichungschancen. Mit Bezug aus Martha Nussbaum (2011) spricht er auch von capabilities.

Acemoglu und Robinson (2014) verweisen in ihrer historisch orientierten Analyse globaler Ungleichheit auf die herausragende Bedeutung von Institutionen für die wirtschaftliche Entwicklung. Länder, in denen sich inklusive wirtschaftliche und politische Institutionen herausbilden können, sind erfolgreicher. »Inklusive Wirtschaftsinstitutionen, die den Schutz von Eigentumsrechten durchsetzen, faire Wettbewerbsbedingungen herstellen sowie Investitionen in neue Technologien und Fertigkeiten fördern, sind für das Wachstum« nützlich. Sie »stützen ihre politischen Pendants und werden ihrerseits von ihnen gestützt. Die Letzteren verteilen die Macht auf pluralistische Art und erzeugen eine gewisse politische Zentralisierung, wodurch sie Recht und Ordnung, die Grundlagen sicherer Eigentumsrechte und eine inklusive Marktwirtschaft herstellen können« (S. 505). Am Beispiel der beiden Amerikas zeigen sie auf, wie die institutionellen Unterschiede zwischen Nord- und Südamerika auch mit der Form der Kolonisierung dieser Gebiete (S. 508) zusammenhängen.

Fazit

Grundsätzlich kann die Analyse von Staatsbürgerrechten als eine wichtige Erweiterung von sozialstrukturellen Analysen fungieren. Das betrifft sowohl die binnenstaatliche als auch eine komparative bzw. transnationale Analyse von Sozialgruppen und Sozialstrukturen; es betrifft aber auch die Analyse des sozialstrukturellen Wandels über die Zeit.

Ein wesentliches Problem liegt jedoch darin, dass die Institution der Staatsbürgerschaft, nur einen Teil all jener Praktiken abbildet, mit denen die Nationalstaaten ermöglichend und regulierend in das wirtschaftliche und soziale Geschehen eingreifen. Gosewinkel hatte vorgeschlagen, das Konzept der Staatsbürgerschaft als eine »Sonde« (2019, S. 41) zu begreifen, um die Binnenstruktur von Nationalgesellschaften wie deren globale Positionierung zu analysieren. Über die Erkenntnis, dass die nationalstaatlichen Institutionen und Praktiken weit über Staatsbürgerschaften hinausgreifen, wird dann auch verständlich, dass eine theoretische Erschließung der Staatsbürgerschaft kaum gelungen ist – das gilt sowohl für evolutionär bzw. modernisierungstheoretisch orientierte Ansätze (z.B. Marshall 2000), wie für historische Analysen, bei denen die Entwicklung von Staatsbürgerrechten mit der Herausbildung verschiedener Nationenmodelle verknüpft wurde (z.B. Brubaker 1994). Viel eher sind Staatsbürgerrechte im Kontext von »zeitgebundenen Konstellationen« (Gosewinkel 2019, S. 58) zu begreifen, die sich immer auch verändern können.

Diese zeitgebundenen Konstellationen lassen sich jedoch durchaus genauer bestimmen, indem man die Institution der Staatsbürgerschaft im Kontext der Gesamtheit nationalstaatlicher Institutionen und Praktiken begreift. Ansätze hierfür liegen vor. So ist auf die Systematisierung verschiedener Produktions- bzw. Regulationsmodelle, z.B. die Konzepte der Regulationstheorie (Sablowski 2014) oder des Varieties of Capitalism-Ansatzes (Hall/ Soskice 2001) und auf die Typologisierung von Sozialpolitiken (Esping-Andersen 1989) zu verweisen. Ansätze einer Integration finden sich bei Jane Jenson, die citizenship als ein »by-product of the invention of the national state« begreift. Über diese Idee werde die Entwicklung der modernen Staaten mit der des Kapitalismus in Bezug gesetzt (1997, S. 631). Jenson schlägt vor, von citizenship-regimes zu sprechen. »A citizenship regime includes: the institutional arrangements, rules and understandings that guide and shape state policy; problem definition employed by states and citizens; the range of claims recognized as legitimate« (ebd.). Sie verknüpft ein solches Regime aber auch mit einer polit-ökonomischen Perspektive, indem sie das kanadische Modell der Nachkriegsphase im Rahmen des fordistischen Regulationsmodells verortet. Dieser Ansatz von Jenson wird bei Paquet et al. (2018 ) weiter ausgeführt.

Anmerkungen

1) Eine fundamentale Kritik dieser dichotomen Perspektive findet sich bei Gosewinkel (2019, S. 47ff.).

Literatur

Acemoglu, Daron/ James A. Robinson 2014: Warum Nationen scheitern. Die Ursprünge von Macht, Wohlstand und Armut, Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag

Bottomore, Tom 1992: Citizenship and Social Class. Forty Years On, in: Thomas H. Marshall/ Tom Bottomore, Citizenship and Social Class, London: Pluto Press, S. 55-93

Brubaker, Rogers 1994: Staats-Bürger. Deutschland und Frankreich im historischen Vergleich, Hamburg: Junius

Esping-Andersen, Gøsta 1989: Die drei Welten des Wohlfahrtskapitalismus, in: Zur Politischen Ökonomie des Wohlfahrtsstaates, Frankfurt am Main: Campus-Verlag, S. 19-56

Gosewinkel, Dieter 2019: »Staatsbürgerschaft« als interdisziplinäres Feld historischer Forschung, in: Angster, Julia/ Gosewinkel, Dieter/ Gusy, Christoph, Staatsbürgerschaft im 19. und 20. Jahrhundert, Tübingen: Mohr Siebeck, S. 1-78

Hall, Peter A./ Soskice, David 2001: Varieties of Capitalism. The Institutional Foundations of Comparative Advantage, Oxford: Oxford University Press

Jenson, Jane 1997: Fated to Live in Interesting Times. Canada’s Changing Citizenship Regimes, in: Canadian Journal of Political Science, Vol. 30, No. 4, S. 627-644

Marshall, Thomas H. 2000: Staatsbürgerrechte und soziale Klassen, in: Jürgen Mackert/ Hans-Peter Müller (Hrsg.), Citizenship – Soziologie der Staatsbürgerschaft, Opladen: Westdeutscher Verlag, S. 45-102

Nussbaum, Martha C. 2011: Creating Capabilities. The Human Development Approach. Harvard University Press

Paquet, Mireille/ Nora Nagels/ Aude-Claire Fourot (Hrsg.) 2018: Citizenship as a Regime. Canadian and International Perspectives, Montreal: McGill-Queen’s University Press

Sablowski, Thomas 2014: Regulationstheorie, in: Joscha Wullweber, Antonia Graf, Maria Behrens (Hrsg.), Theorien der Internationalen Politischen Ökonomie, Wiesbaden Springer VS, S. 85-99

Sen, Amartya 2000: Ökonomie für den Menschen. Wege zu Gerechtigkeit und Solidarität in der Marktwirtschaft, München, Wien: Carl Hanser

Shachar, Ayelet 2009: The Birthright Lottery. Citizenship and Global Inequality, Cambridge Mass.: Harvard University Press

Therborn, Göran 2006: Meaning, Mechanisms, Patterns, and Forces, in: ders. (Hrsg), Inequalities of the World. New Theoretical. Frameworks, Multiple Empirical Approaches. London/, New York: Verso, S. 1-58

Tilly, Charles 1995: Citizenship, Identity and Social History, in: International Review of Social History, Vol. 40, Suppl. 3, S. 1-17

Tilly, Charles 1997: A Primer on Citizenship, in: Theory and Society, Vol. 26, No. 4, Special Issue on Recasting Citizenship (Aug. 1997), S. 599-602

Tilly, Charles 1999: Durable Inequality, Berkeley, Los Angeles, London: University of California Press