Der zunächst in Deutschland tätige Soziologe Theodor Geiger wurde 1933 aus politischen Gründen entlassen und musste nach Dänemark und später nach Schweden emigrieren. Er hat in seiner wissenschaftlichen Laufbahn eine Vielzahl von Publikationen zu Fragen der Sozialstrukturanalyse hinterlassen. In einer Würdigung dieser Arbeiten hebt Rainer Geißler hervor: Geiger »präzisiert das bislang eher metaphorische Bild sozialer Schichten zu einem soziologischen Grundbegriff und erhebt ihn gleichzeitig zu einem allgemeinen Oberbegriff, der zur Analyse aller Gesellschaften tauglich ist. Schichten sind danach in verschiedenen historischen Ausprägungen vorfindbar, u. a. auch in der historischen Sonderform von Klassen im marxistischen Sinn (…). Mit diesem geschickten begrifflichen Schachzug erreicht Geiger zweierlei: Er befreit die Klassenanalyse aus ihrer allgemeinen dogmatischen Fixierung auf den Widerspruch von Arbeit und Kapital. Gleichzeitig bleibt jedoch die Sozialstrukturanalyse der modernen Gesellschaft offen für die Marx’sche Fragestellung« (Geißler 1995, S. 276). Im Folgenden sollen zwei in Deutschland publizierte Beiträge Geigers genauer dargestellt werden.
Die soziale Schichtung des deutschen Volkes
Theodor Geiger hatte 1932 eine Studie ›Die soziale Schichtung des deutschen Volkes‹ vorgelegt. Er spricht dort von ökonomisch-sozialen Schichten und möchte damit eher ökonomische Merkmale der Abgrenzung von Bevölkerungsgruppen mit eher sozialen Merkmalen verknüpfen. Unter den ökonomischen Merkmalen diskutiert er »Höhe oder Art des Einkommens; Größe oder Art des Anteils am Produktionsmittelfonds; Art der Wirtschaftstätigkeit, Rang der wirtschaftlichen Stellung«. Er verweist auch auf andere Merkmale wie »Rasse, Alter, Geschlecht, Bildungsgrad, Bildungsform« (1932, S. 4); diese spielen dann aber in der weiteren Analyse keine Rolle. Zu den sozialen Merkmalen rechnet er Wirtschaftsinteressen bzw. Mentalitäten. »Die Gesamtheit derer, die einen solchen Mentalitätstypus repräsentieren, ein solches Interesse verfechten«, bezeichnet er als sozialen Block. »Diese sozialen Blocks sollen ökonomisch-soziale Schichten heißen« (S. 5).
Vor diesem Hintergrund geht er von einer Vielzahl sozialer Schichten aus: »soviel Antagonismen und Varianten ich im Wirtschaftsdenken der Bevölkerung beobachte, soviel verschiedene Schichtungen finde ich vor« (S. 5). Als Mentalität bezeichnet er eine »geistig-seelische Disposition«, eine »unmittelbare Prägung des Menschen durch seine soziale Lebenswelt und die von ihr ausstrahlenden, an ihr gemachten Lebenserfahrungen« (S. 77). Für die empirische Bestimmung von Mentalitäten führt er auf: »Lebenshaltung, Gewohnheiten des Konsums und der sonstigen Lebensgestaltung, Freizeitverwendung, Lesegeschmack, Formen des Familienlebens und der Geselligkeit« (S. 80). Diese Informationen verweisen auf den Typ des Lebensduktus, der wiederum als Ausdruck der Mentalität begriffen wird. In der 1932 vorgelegten Studie muss sich Geiger dann aber mit den zeitgenössisch verfügbaren Sekundärinformationen zu verschiedenen Sozialgruppen begnügen. Ausgehend von diesem offenen Schichtungskonzept begreift Geiger dann ökonomisch-soziale Klassen (mit Bezug auf Marx) als einen Sonderfall der Schichtung. »›Klasse‹ heißt eine Schicht dann, wenn das kennzeichnende Merkmal des Bevölkerungsteiles, der ihr als Rekrutierungsfeld entspricht, das spezifische Verhältnis der Menschen zu den Produktionsmitteln ist« (S. 5).
Geiger versteht soziale Schichten wie auch soziale Klassen als ein theoretisches Konzept. »Als Großkollektive mit bestimmter Intention sind sie ganzheitliche Gebilde, gleich allen Sozialgebilden abstrakte Größen, und demnach dem Mengenmaß und der Zahl entrückt. Auch dort, wo Schichten (Klassen) als Inbegriffe der Menschen gelten, denen eine Haltung oder sonst ein psychisches Merkmal gemein ist (…) hat die Statistik keinen unmittelbaren Zugriff auf sie« (S. 12). Messbar seien allein die Lagen bestimmter Bevölkerungsteile. Er plädiert demnach für ein zweischrittiges Vorgehen; im ersten Schritt werden sozialstatistische Informationen verwandt, um soziale Lagerungen zu bestimmen; in einem zweiten Schritt werden soziographische Untersuchungen genutzt, um auf dieser Basis Aussagen über soziale Schichten treffen zu können.
In dem 1932 vorgelegten Modell unterscheidet Geiger:
- Kapitalisten (0,9 %),
- den Mittelstand (35,8 %): differenziert nach dem alten (mittlere und kleinere Unternehmer) und neuen Mittelstand (Lohn- und Gehaltsbezieher höherer Qualifikation)
- und proletarische Lagen (63,4 %): differenziert nach Proletaroiden (Tagewerker für eigene Rechnung) und Proletariat (Lohn- und Gehaltsbezieher minderer Qualifikation).
Theorie der sozialen Schichtung
Für ein 1955 erschienenes ›Wörterbuch der Soziologie‹ verfasste Geiger einen Beitrag zum Schichtungsbegriff. Dabei tritt das Konzept der Mentalität zurück; er hält jedoch an dem dualen Verständnis von Schichtung fest. »Die Gesellschaft ist in ― mindestens zwei, zumeist mehrere ― Schichten gegliedert. Jede Schicht besteht aus vielen Personen (Familien), die irgendein erkennbares Merkmal gemein haben und als Träger dieses Merkmals einen gewissen Status in der Gesellschaft und im Verhältnis zu andern Schichten einnehmen. Der Begriff des Status umfaßt Lebensstandard, Chancen und Risiken, Glücksmöglichkeiten, aber auch Privilegien und Diskriminationen, Rang und öffentliches Ansehen« (Geiger 1955, S. 186).
Verglichen mit der Analyse aus den 1930er Jahren lassen sich viele Überlegungen wiedererkennen; zugleich ist der Text jedoch – so ist zu vermuten – nicht unerheblich durch die zeitspezifischen politischen wie wissenschaftlichen Entwicklungen geprägt, wenn die Abgrenzung gegenüber dem Marxschen Konzept schärfer ausfällt und wenn er den in der amerikanischen Schichtungsforschung bedeutenden Statusbegriff übernimmt. Er plädiert für eine lose Kopplung von eher statistisch bestimmten Lagen und Mentalitäten bzw. Haltungen. Er betont, »daß der Schichtbegriff über die bloße Beschreibung und Klassifikation hinaus darauf abzielt, gewisse soziale Haltungen, Willensrichtungen, Bewegungen usw. auf gewisse Daseinsbedingungen, Lagen oder dergleichen zu beziehen, ihnen zuzurechnen. Ebenso richtig ist, daß erfahrungsgemäß keine strenge Entsprechung zwischen beschriebenen Soziallagen einerseits und Mentalitäten anderseits besteht. (…) Indem man Lagen und Haltungen zuerst getrennt erfasst dann aber die Verteilung der Lagen und die der Haltungen miteinander vergleicht, wird man gewisse Haltungen als typisch für gewisse Lagen erkennen« (S. 194).
Dem verallgemeinernden Verständnis von Schichten (Klassen als ›Sonderfall‹) folgend, kommt Geiger dann (auch mit Bezug auf Max Weber) zu einem stärker graduellen Verständnis der historischen Veränderungen in der Sozialstruktur. Er begreift ständische Gesellschaften und Klassengesellschaften nicht als eine historische Abfolge, sondern als sich verschiebende Gewichtungen in den Schichtungsdeterminanten. »Ständische Gesellschaft heißt dann nicht, daß es keine Klassen im Marxschen Sinne gebe, sondern daß die Schichtung nach dem Produktionsverhältnis minder scharf hervortrete als die nach der Berufsart. Klassengesellschaft dagegen heißt nicht, daß die Berufsstände ausgelöscht sind, sondern nur, daß sie an Bedeutung gegenüber dem Produktionsverhältnis zurücktreten« (S. 196).
Kommentar
Man kann zunächst der oben angeführten Einschätzung Geißlers nur zustimmen.
- Das betrifft die konzeptionellen Überlegungen zu einem erweiterten Schichtenbegriff, der (verschieden begründete) Klassenkonstellationen nicht ausschließt.
- Auch die von ihm vorgeschlagene lose Kopplung von einer eher quantitativen Analyse sozialer Lagen mit einer eher qualitativen Analyse der damit verknüpften Mentalitäten war wegweisend.
- Schließlich ist auch seine an Weber anschließende Vorstellung eines Nebeneinanders von Elementen der ständischen Gesellschaft und Elementen der Klassen- oder marktvermittelten Gesellschaft hervorzuheben.
Das von Geiger gezeichnete Schichtungsbild steht jedoch trotz der vorgenommenen Differenzierungen noch ganz in der Marxschen Tradition; im Zentrum stehen all jene, die erwerbstätig sind. Frauen werden über die Berufszugehörigen lediglich rechnerisch einbezogen; die große Zahl der Arbeitslosen oder auch die nicht mehr Arbeitsfähigen erscheinen in diesem Bild nicht. Auch der Verweis auf die aufgeführten weiteren Differenzierungen (s.o.) kann – vermutlich angesichts der verfügbaren Daten – nicht weiter verfolgt werden.
Literatur
Gardemin, Daniel 2006: Soziale Milieus der gesellschaftlichen ›Mitte‹. Eine typologisch-sozialhistorische und multivariat-sozialstatistische Makroanalyse des Leistungsorientierten Arbeitnehmermilieus und des Kleinbürgerlichen Arbeitnehmermilieus, Hannover: Gottfried Wilhelm Leibniz Universität, Dissertation
Geiger, Theodor 1932: Die soziale Schichtung des deutschen Volkes. Soziographischer Versuch auf statistischer Grundlage, Stuttgart: Enke
Geiger, Theodor 1955: Theorie der sozialen Schichtung, in: ders., Arbeiten zur Soziologie, Neuwied, Berlin: Luchterhand, S. 186-205
Geißler, Rainer 1995: Die Bedeutung Theodor Geigers für die Sozialstrukturanalyse der modernen Gesellschaft, in: Siegfried Bachmann (Hrsg.), Theodor Geiger. Soziologe in einer Zeit „zwischen Pathos und Nüchternheit“. Beiträge zu Leben und Werk, Duncker & Humblot: Berlin, S. 273-297