Von sozialen Milieus wird gesprochen, um soziale Gruppen gegeneinander abzugrenzen, die sich neben ihrer sozioökonomischen Positionierung auch durch sozioökonomische und kulturelle Praktiken (Lebensweise, Lebensführung) bzw. durch korrespondierende Orientierungsmuster oder Wertvorstellungen unterscheiden. Soziale Milieus manifestieren sich aber auch in der Herausbildung von Institutionen (z.B. Bildungs- und Kultureinrichtungen, Wohnquartiere). Wesentliche theoretische Grundlagen des Milieu- bzw. des verwandten Lebensstilkonzepts gehen auf Émile Durkheim, Max Weber und Pierre Bourdieu zurück.
Das Konzept des sozialen Milieus dient in der Forschung zum einen dazu, bestimmte Phänomene der Organisation sozialer Differenz in ihrem historischen und zeitgenössischen Kontext zu analysieren. Zum anderen entwickelt sich darüber ein spezifischer Forschungsansatz, der z.B. in der Sozialgeschichte und der Soziologie genutzt wird.
Soziale Milieus als gesellschaftliches Phänomen
Soziale Milieus im 19. und frühen 20. Jahrhundert
Im 19. Jahrhundert wandelt sich die ständisch organisierte und handwerklich/ bäuerlich produzierende Gesellschaft in eine nach Marktklassen organisierte industriell produzierende Gesellschaft. Man kann nun die sich im Gefolge der Stände und der Feudalstrukturen herausbildenden oder sich transformierenden Ordnungen auch als soziale Milieus beschreiben.
In dem folgenden Textauszug wird z.B. das (städtische) Arbeitermilieu am Ende des 19. Jahrhunderts als ein räumliches und soziales Milieu skizziert. »Arbeiterviertel gaben Halt, denn mobil waren vor allem die jungen, ledigen Arbeiter, die Dienstmädchen und Tagelöhner. Familienstrukturen dagegen stabilisierten das Leben, es gab nachbarschaftliche und verwandtschaftliche Netzwerke. Durch das beengte Wohnen wurde die Straße zum Kommunikationsort für die Erwachsenen, zum Sozialisationsort für die Kinder. Institutionell wirkten Arbeiterkneipen, der Laden der Konsumgenossenschaft oder des Einzelhändlers als Ankerpunkte im Quartier. Arbeiterfrauen übernahmen hier die Verknüpfungsarbeit. Hinzu kamen die Freizeitangebote der Arbeiterorganisationen, die besonders in Großstädten ihre je nach Stadtviertel spezifischen Ausprägungen besaßen. Das Schreckgespenst der Vereinsamung und Isolierung konnte in städtischen Arbeitermilieus sehr gut gebannt werden. Individuelle Freiheit und Individualität ließen sich mit Gemeinschafts- und Vergesellschaftungserfahrungen verbinden. Es entstanden so räumliche Traditionen, die sich bis weit ins 20. Jahrhundert fortsetzten« (Schmidt 2015, S. 63 f).
Schmidt macht aber auch deutlich, dass sich die Situation im ländlichen Raum, in dem der weitaus größte Teil der Arbeiterschaft lebte, recht anders gestaltet; charakteristisch ist vor allem die vielfältige Fragmentierung der ländlichen Unterschichten (vgl. S. 66).
Soziale Milieus in den Nachkriegsgesellschaften
Nach dem Zweiten Weltkrieg haben sich die Rahmenbedingungen der Milieubildung erheblich verändert. Die nationalsozialistische Gewaltherrschaft hatte die politischen und kulturellen Organisationen der Arbeiterschaft gezielt zerstört; die Nachkriegsprosperität, die nach und nach auch die Arbeiterschaft erreichte, und der expandierende Sozialstaat haben die Unterstützungsleistungen des Milieus teilweise ersetzt.
Ulrich Beck beschreibt die neue Situation so: »Die neuen materiellen und zeitlichen Entfaltungsmöglichkeiten treffen zusammen mit den Verlockungen des Massenkonsums und lassen die Konturen traditionaler Lebensformen und Sozialmilieus verschwinden. Das Mehr an Geld wie das Mehr an erwerbsarbeitsfreier Zeit kollidieren mit den traditionalen Tabuzonen klassen- und familienbestimmten Lebens. Das Geld mischt die sozialen Kreise neu und läßt sie im Massenkonsum zugleich verschwimmen. Nach wie vor gibt es Orte, wo die einen sich treffen und die anderen nicht. Aber die Überschneidungszonen wachsen, und die Grenzen zwischen Vereinen und Wirtshäusern, Jugendtreffs und Altenheimen, die noch im Kaiserreich und in der Weimarer Republik das Leben auch außerhalb der Arbeit erkennbar in Klassenwelten trennten, werden unkenntlich oder aufgehoben. An ihre Stelle treten ungleiche Konsumstile (in Einrichtung, Kleidung, Massenmedien, persönlicher Inszenierung usw.), die aber – bei aller demonstrativer Unterschiedlichkeit – die klassenkulturellen Attribute abgelegt haben« (Beck 1986, S. 124f).
Kontinuität und Wandel
Ohne Zweifel haben sich wesentliche Rahmenbedingungen der sozialen Milieus verändert. Die Frage ist jedoch, wie ausgeprägt dieser Wandel ist, wann er eingesetzt hat und ob er alle Milieus in gleicher Weise verändert hat.
- Wie Beck geht auch Thomas Schwinn (2019, S. 153) davon aus, dass man von einer gänzlich neuen Konstellation auszugehen habe, in der Milieus nicht länger als »real vergesellschaftete Gruppen«, sondern als »soziale Aggregate« zu begreifen seien, die entlang von Ähnlichkeiten des Lebensstils konstruiert werden. Demgegenüber ist einzuwenden, dass viele institutionelle Komponenten der Milieudifferenzierung fortbestehen, auch wenn vielleicht die damit verbundenen Schließungseffekte schwächer geworden sind: segregierte Wohnquartiere und Bildungseinrichtungen, sozial spezifische Vereine, Organisationen, Kulturpraktiken etc. Dabei gilt es auch zu beachten, dass soziale Differenzierungen in Migrationsgesellschaften in hohem Maße durch ethnisierende und kulturalisierende Differenzierungen überlagert werden. Es sind somit neue Kondensationskerne für Milieubildungen hinzugetreten.
- Zudem muss die von Beck und anderen eher in der Nachkriegsphase angesiedelte Bruchlinie überdacht werden. Schon in dem Zitat Schmidts war deutlich geworden, dass die dort beschriebenen Arbeitermilieus bereits eine Reaktion auf (freiwillige wie unfreiwillige) Prozesse der Individualisierung sind. In der historischen Konsumforschung (vgl. Haupt/ Torp 2009) wird herausgearbeitet, dass z.B. die mit der industriellen ›Revolution‹ sich verbilligenden Textilien, aber auch die Konsumgüter aus der Kolonialwirtschaft schon seit langer Zeit genutzt wurden, um sozialkulturelle Ordnungen zu unterlaufen; einige Autoren sprechen gar von einer Konsumrevolution (vgl. Trentmann 2017, S. 297 f).
- Sicherlich hat auch das bildungsbürgerliche Milieu mit der Konkurrenz durch technisch naturwissenschaftliche Ausbildungsgänge, mit der Bildungsexpansion und mit veränderten Modi der Elitenrekrutierung an Geschlossenheit verloren. Wenn man jedoch den Schultyp des Gymnasiums und den Bedeutungsgewinn des privaten Schul- und Hochschulsystems betrachtet, so lassen sich auch recht einflussreiche Gegenbewegungen verzeichnen.
Im Sinne dieser Überlegungen spricht vieles dafür, auch in der Gegenwartsgesellschaft von ausgeprägten Milieustrukturen auszugehen, die weit über einfache Konsum- oder Lebensstilmilieus hinausreichen.
Soziale Milieus als Forschungsansatz
Das Konzept des sozialen Milieus wurde in verschiedenen Sozialwissenschaften genutzt (vgl. Marg 2022). Exemplarisch werden hier Ansätze aus der Sozialgeschichte und der Soziologie dargestellt.
Sozialgeschichtliche Milieuforschung
In der sozial- und kulturgeschichtlichen Forschung (vgl. Wehler 1987, 210 ff, 1995, S.125 ff) wird im 19. und 20. Jahrhundert z.B. vom Bildungsbürgertum bzw. einem bildungsbürgerlichen Milieu – der Milieubegriff hat in geschichtswissenschaftlichen Darstellungen einen eher nachgeordneten beschreibenden Charakter – gesprochen. Das Milieu zeichnet sich durch hohe (und damals noch seltene) Bildungsabschlüsse, entsprechende Berufe und sichere Einkommen, aber auch durch die Nähe zur Hochkultur, bevorzugte Wohnviertel, soziale Netzwerke etc. aus.
Im Kontext von Forschungen zu historischen Zusammenhängen von Sozialstruktur und Parteiensystem unterscheidet M. Rainer Lepsius (1993) für das Kaiserreich und die Weimarer Republik verschiedene sozialmoralische Milieus: das sozialistische Arbeiter- und Handwerkermilieu, das katholische Sozialmilieu, das agrarisch-protestantische (eher konservative) Milieu und das bürgerlich-protestantische (eher liberale) Milieu.
Neuere soziologische Milieuforschung
Im Kontext einer Renaissance der soziologischen Milieuforschung seit den 1980er Jahren werden soziale Milieus mit unterschiedlichen Zielsetzungen untersucht. Während die einen das Konzept der sozialen Milieus eher mit klassischen sozioökonomischen Fragestellungen und mit der Analyse von Politikmustern verknüpfen, stehen bei anderen eher kultursoziologische Fragen im Vordergrund. Exemplarisch sei auf die Ansätze der Forschungsgruppe um Michael Vester (2001) und die Konzepte Gerhard Schulzes (1992) verwiesen.
In der Marktforschung, wird das Konzept des sozialen Milieus genutzt, um Gruppen mit unterschiedlichen ökonomisch-kulturellen Ressourcen, Orientierungsmustern und Lebensstilen darzustellen. Dabei werden die Gruppen neben einer vertikalen (soziale Lage) auch in einer horizontalen Ordnung (z.B. traditionale oder moderne Orientierung) verortet. Besonderes einflussreich waren die laufend aktualisierten Studien des SINUS-Instituts, die auch in der wissenschaftlichen Forschung rezipiert wurden.
Kommentar
Das Konzept des sozialen Milieus bietet eine gute Möglichkeit, soziale Lagen jenseits einer rein sozioökonomischen Perspektive zu analysieren, indem man z.B. im Weberschen Sinne untersucht, welche Überlebensstrategien (Lebensstile) und Orientierungsmuster (Habitus) verschiedene soziale Gruppen angesichts je begrenzter Ressourcen und Möglichkeitsräume (Lebenschancen) ausbilden. Zum Verständnis solcher Milieus ist es dann aber erforderlich, sich neben der Individualebene auch für die ökonomischen und politischen Rahmenbedingungen, für Infrastrukturen und beziehungsstiftende Instanzen, für Formen der Institutionalisierung und Organisierung und für die Herausbildung kollektiver Orientierungs- und Handlungsmuster in diesen Milieus zu interessieren. In sozialhistorischen Analysen zu einzelnen Milieus ist dies häufig gelungen.
Eine auf standardisierten Befragungen basierende Milieuforschung kann diesem Anspruch kaum nahekommen; sie kann je nach Schwerpunktsetzung ›Milieus‹ konstruieren, deren Angehörige sich entlang von Wertemustern, Konsum- und Kulturpraktiken oder politischen Präferenzen ähneln. Diese Praktiken und Präferenzen werden dann aber »als Ergebnis eines individuellen Lebensstils verstanden, weniger (…) als Milieueffekt« (Schwinn 2019, S. 153).
Weblinks
Begriffsgeschichte: Milieu
Literatur
Beck, Ulrich 1986: Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt a. M.: Suhrkamp
Bennett, Tony/ Mike Savage/ Elizabeth Silva/ Alan Wardem Modesto Gayo-Cal/ David Wright 2009: Culture, Class, Distinction, London: Routledge
Bohnsack, Ralf 2018: Milieu als Erfahrungsraum, in: Müller, Stella/ Zimmermann, Zens (Hrsg.): Milieu – Revisited. Forschungsstrategien der
qualitativen Milieuanalyse, Wiesbaden: VS Verlag, S. 19–52
Groh-Samberg, Olaf/ Schröder, Tim/ Speer, Anne 2023: Social Milieus and Social Integration. From Theoretical Considerations to an Empirical Model, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Vol. 75, Issue 2 [Link]
Haupt, Heinz-Gerhard/ Torp, Claudius 2009: Die Konsumgesellschaft in Deutschland 1890-1990. Ein Handbuch, Frankfurt am Main: Campus
Lepsius, M. Rainer 1993: Parteiensystem und Sozialstruktur, in: ders. Demokratie in Deutschland. Ausgewählte Aufsätze, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht
Marg, Stine 2022: Milieuperspektiven. Eine kritische Diskussion der Erklärungskraft aktueller Milieustudien, Bonn: Friedrich-Ebert-Stiftung [Link]
Schmidt, Jürgen 2015: Arbeiter in der Moderne. Arbeitsbedingungen, Lebenswelten, Organisationen, Frankfurt: Campus
Schulze, Gerhard 1992: Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart, Frankfurt a. M.: Campus
Schwinn, Thomas 2019: Soziale Ungleichheit in differenzierten Ordnungen. Zur Wechselwirkung zweier Strukturprinzipien, Tübingen: Mohr Siebeck
Trentmann, Frank 2017: Herrschaft der Dinge. Die Geschichte des Konsums vom 15. Jahrhundert bis heute, München: Deutsche Verlags-Anstalt
Vester, Michael u.a. 2001: Soziale Milieus im gesellschaftlichen Strukturwandel. Zwischen Integration und Ausgrenzung, Frankfurt a.M.: Suhrkamp
Wehler, Hans-Ulrich 1987: Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Band 2: 1815-1845/49. Von der Reformära bis zur industriellen und politischen ”Deutschen Doppelrevolution”, München: Beck
Wehler, Hans-Ulrich 1995: Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Band 3. 1849 – 1914. Von der „Deutschen Doppelrevolution“ bis zum Beginn des 1. Weltkrieges, München: Beck