
Soziale Milieus bei Durkheim
Der französische Soziologe Émile Durkheim hat den Begriff des Milieus in seinen theoretischen Überlegungen verschiedentlich genutzt; daher wird ihm zugeschrieben, erstmals den Begriff in die sich seinerzeit formierende Soziologie eingebracht zu haben. Man sollte jedoch bedenken, dass der Begriff bei ihm nicht unbedingt eine zentrale Rolle spielt. Er findet sich in seiner 1893 entstandenen Dissertation ›Über soziale Arbeitsteilung‹ (Durkheim 2016) und in den 1894 bzw. 95 veröffentlichten ›Regeln der soziologischen Methode‹ (Durkheim 1984).
In der Dissertation nutzt Durkheim den Milieubegriff als Bezeichnung für verschiedene Umwelten; so unterscheidet er physische (2016, S. 308), organische (S. 411) und soziale Milieus (S. 308). Im sozialen Kontext spricht Durkheim dann zum einen von einem allgemeinen oder gesellschaftlichen Milieu, das er auf die Gesellschaft oder den Nationalstaat bezieht. Zum anderen spricht er von besonderen Milieus: dem häuslichen bzw. familialen Milieu, dem territorialen bzw. provinzialen Milieu, dem Arbeits- bzw. Berufsmilieu (oder dem kommerziellen bzw. industriellen Milieu) und schließlich dem religiösen Milieu.
Genese sozialer Milieus
Er interessiert sich in seinen Analysen dann dafür, wie sich diese Milieus in Prozessen der Arbeitsteilung historisch herausgebildet und verändert haben. Verallgemeinernd konstatiert er. »Sobald im Schoß einer politischen Gesellschaft eine bestimmte Anzahl von Individuen Ideen, Interessen, Gefühle und Beschäftigungen gemeinsam haben, die der Rest der Bevölkerung nicht mit ihnen teilt, ist es unvermeidlich, daß sie sich unter dem Einfluß dieser Gleichartigkeit wechselseitig angezogen fühlen, daß sie sich suchen, in Verbindung treten, sich vereinen und auf diese Weise nach und nach eine engere Gruppe bilden (…). Sobald aber die Gruppe gebildet ist, entsteht in ihr ein moralisches Leben, das auf natürliche Weise den Stempel der besonderen Bedingungen trägt, in denen es entstanden ist. Denn es ist unmöglich, daß Menschen zusammenleben und regelmaßig miteinander verkehren, ohne schließlich ein Gefühl für das Ganze zu entwickeln, das sie mit ihrer Vereinigung bilden. (…) Damit sich nun dieses Gefühl präzisieren und bestimmen (…) kann, überträgt es sich in bestimmte Formeln; und infolgedessen entsteht ein Korpus moralischer Regeln. Dieses Ergebnis entsteht aus sich selbst und aus der Macht der Verhältnisse heraus« (S. 55f).
Analog begreift Durkheim auch die Herausbildung der Familie. »Die Familie verdankt also ihre Tugenden nicht der Einheit der Abstammung: Es handelt sich einfach um eine Gruppe von Individuen, die einander innerhalb einer politischen Gesellschaft durch eine besonders enge Verbindung von Ideen, Gefühlen und Interessen nähergerückt sind. Die Blutsverwandtschaft hat diesen Zusammenschluß erleichtert (…). Aber auch viele andere Faktoren haben diesen Einfluß: die materielle Nachbarschaft, die Solidarität der Interessen, das Bedürfnis, sich zu vereinen, um gegen eine gemeinsame Gefahr zu kämpfen oder einfach, um sich zu vereinigen, das waren andere mächtige Ursachen für die Annäherung« (S. 57).
Eine wichtige Rolle misst Durkheim dann den (beruflichen) Korporationen zu, deren Rolle er in der ständischen und in der industriellen Gesellschaft untersucht. »Die Korporationen der Zukunft werden wegen ihrer noch größeren Ausmaße noch größere und noch komplexere Kompetenzen haben. Rund um ihre rein professionellen Funktionen werden sich noch weitere gruppieren, die derzeit den Gemeinden oder den privaten Unternehmungen zufallen; etwa die Fürsorgefunktionen, die zu ihrer Erfüllung zwischen den Unterstützungsempfängern und -gebern Solidaritätsgefühle voraussetzen und eine bestimmte intellektuelle und moralische Homogenität, wie sie die Ausübung, eines gleichen Berufes leicht zustande kommen läßt. Viele Erziehungsaufgaben (technischer Unterricht, Erwachsenenunterricht usw.) scheinen ebenfalls in der Korporation ihr natürliches Milieu finden zu müssen« (S. 69).
Milieus als Momente der sozialen Entwicklung
Für Durkheims Argumentation spielt der kollektive Charakter von Milieus eine wichtige Rolle, so z.B. um Prozesse der sozialen Evolution verstehen zu können. »Also finden sich die entscheidenden Ursachen der sozialen Evolution nicht im Individuum, sondern in dem es umgebenden Milieu. Wenn sich die Gesellschaften ändern und wenn das Individuum sich ändert, so darum, weil sich das Milieu ändert« (S. 308). Da aber das physische Milieu recht stabil sei, sieht er die ursächlichen Bedingungen sozialer Veränderungen in den sozialen Milieus. Damit schlägt Durkheim vor, wesentliche Momente gesellschaftlicher Entwicklung auf der Meso-Ebene sozialer Milieus zu suchen; weder auf der Mikroebene der Individuen noch auf einer Makroebene großer gesellschaftlicher Aggregate.
In den Regeln der soziologischen Methode wird, das noch ein wenig systematischer ausgeführt. Er sagt dort, dass sich Milieus aus Personen und Dingen zusammensetzen. »Unter den Dingen sind außer den der Gesellschaft einverleibten materiellen Objekten die Produkte früherer sozialer Tätigkeit zu verstehen, das gesatzte Recht, die geltende Moral, literarische und künstlerische Monumente usw.«. Er macht dann jedoch deutlich, dass die eigentlichen aktiven Faktoren beim menschlichen Milieu liegen, aber man müsse mit den Dingen rechnen: »Sie lasten mit einem gewissen Gewicht auf der sozialen Entwicklung, deren Geschwindigkeit und selbst deren Richtung mit ihnen variiert. Doch besitzen sie nichts, was erforderlich ist, um die Entwicklung in Gang zusetzen« (1984, S. 195).
Die Milieus werden dann über zwei Eigenschaften näher bestimmt: »Es ist die Zahl der sozialen Einheiten, oder, wie wir auch sagten, das Volumen der Gesellschaft und der Konzentrationsgrad der Masse, oder, wie wir es nannten, die dynamische Dichte. Unter dem letzteren Ausdruck muß nicht nur das rein materielle Zusammenrücken des Aggregats verstanden werden (…), sondern vielmehr das moralische Zusammenrücken, das durch das erstere nur unterstützt wird und dessen Begleiterscheinung es im Allgemeinen ist. Die dynamische Dichte kann ebenso wie das Volumen durch die Zahl der Individuen definiert werden, die nicht nur in kommerziellen, sondern auch in moralischen Beziehungen zueinander stehen« (ebd.).
Fazit
An diesen Ausführungen wird ersichtlich, dass Milieus bei Durkheim mehr sind als soziale Gruppen oder Wertegemeinschaften. Indem er auf die Bedeutung von Dingen und von Produkten aus früheren sozialen Tätigkeiten verweist, macht er deutlich, dass es bei der Analyse von Milieus darum geht, deren Genese, die damit verbundenen Institutionen und Regelsysteme zu untersuchen. Delitz resümiert Durkheim sei ein »Denker der Institutionen jenseits des Dualismus von Individuum und Gesellschaft und in ihrem einrichtenden, produktiven, auch imaginären Charakter« (2018, S. 126). Vester konstatiert, dass Durkheim mit dem Milieubegriff den der Klasse nicht ersetzen wolle. »Er versteht die beruflichen Milieus als soziale Grundeinheiten, die funktional notwendig sind und die daher (…) keine Unterschiede im Machtrang begründen. Stände, Kasten und Klassen sind demgegenüber historische Spezialformen, die entstehen, wenn berufliche Milieus in bestimmte Herrschaftsformen eingefügt werden« (2017, S. 140).
Literatur
Delitz, Heike 2018: Émile Durkheim, Fernuniversität in Hagen, Fakultät für Kultur- und Sozialwissenschaften
Durkheim, Émile 1984: Die Regeln der soziologischen Methode, Frankfurt: Suhrkamp
Durkheim, Émile 2016: Über soziale Arbeitsteilung. Studie über die Organisation höherer Gesellschaften, Frankfurt am Main: Suhrkamp
Vester, Michael 2017: Die Gesellschaft als Kräftefeld. Klassen, Milieus und Praxis in der Tradition von Durkheim, Weber und Marx, in: Christina Wessely/ Florian Huber (Hrsg.), Milieu. Umgebungen des Lebendigen in der Moderne, Paderborn: Wilhelm Fink, S. 136-175