In seinem Buch ›The return of inequality‹ rückt der britische Soziologe Mike Savage die im 21. Jahrhundert zu beobachtenden Veränderungen sozialer Ungleichheit in den Kontext länger wirkender historischer Verschiebungen. Er möchte die großen Fortschritte, die er für das räumliche bzw. globale Verständnis von sozialen Ungleichheiten konstatiert (vor allem durch die Studien und Datenbestände der Gruppe um Piketty u.a.), auch für eine verbesserte zeitliche bzw. historische Einbettung der Ungleichheitsforschung nutzen. Der Obertitel markiert ein spezifisches Verständnis der Ungleichheitskonstellationen des 21. Jahrhunderts, das diese mit früheren Konstellationen z.B. des 19. Jahrhunderts vergleicht. Mit dem Untertitel ›Social change and the weight of the past‹ wird darauf angespielt, dass sich die Fortschritts- und Modernisierungshoffnungen des 20. Jahrhunderts so nicht erfüllt haben und eher die Mächte der Vergangenheit an Einfluss gewinnen.
Überblick:
Struktur der Argumentation
Part 1: Inequality in Time and Space
Im ersten Teil des Buches wird die skizzierte Perspektive weiter ausgeführt, indem sich Mike Savage zunächst (Kapitel 1) mit ökonomischen Studien zur Entwicklung von Einkommen und Armut befasst und die Grenzen einer an Armutsmaßen und Verteilungen orientierten Analyse aufzeigt. Daran anschließend (Kapitel 2) untersucht er, wie weit eine soziologische Perspektive – das Feld-Modell Bourdieus und sein Konzept des sozialen Raums – zu einem besseren Verständnis von Ungleichheiten beitragen können. Er konstatiert, dass der phänomenologische Ansatz Bourdieus zwar zu einem besseren Verständnis von Ungleichheitsrelationen führe, dass er aber über die ›verräumlichte‹ Vorstellung von Ungleichheiten die Geschichte der ungleichheitsrelevanten Felder vernachlässige (S. 91f).
Schließlich (Kapitel 3) wendet er sich einer historischen Perspektive zu, indem er Prozesse der Akkumulation von Kapital untersucht bzw. indem er sich kritisch mit Konzepten der Modernisierung, der Epochenkonstruktion (»Epochalism«) und des sozialen Wandels befasst. So ermögliche es die Analyse der Entwicklung von Vermögen, Kapital als ein zentrales Moment der Fortschreibung vergangener historischer Konstellationen zu begreifen. Die Anerkenntnis dieser Macht der Vergangenheit, er spricht von »the weight of history« (S. 96), ermögliche es, zu einem Verständnis von Zeit und Dauer zu kommen, das in den Sozialwissenschaften allzu oft fehle. Die klassischen Konzepte der Moderne arbeiten mit einer Gegenüberstellung von ›Traditionellem‹ und ›Neuem‹, die stark durch koloniale und orientalistische Denkweisen geprägt sei (S. 91). Ein solcher Epochalismus und die damit verbundenen Fortschrittshoffnungen können nicht länger gerechtfertigt werden. Eine Theorie des sozialen Wandels lässt sich darauf nicht gründen: »Epochalist thinking therefore reworks and indeed accelerates the temporal ontology of modernity even as the ground is being cut away from the foundations of this thinking. So long as the past can only be rendered as passive, lost, and fixed, the only way of registering social change is by breaking from this past, with the result that an energized and active present needs to be reinvented on a regular basis« (S. 95).
Der Hintergrund dieser Argumentation wird deutlich, wenn Savage am Ende des ersten Teils zu einer sehr skeptischen Gegenwartsdiagnose kommt: »Contemporary society is trammeled by previous rounds of accumulation that are fundamental to our now-time. In the early twenty-first century, history exercises a hold over the present that has not been seen for centuries. The bold revolutionary hopes—endemic to modernity—of breaking from the past and ushering in a brave new world have been dashed. The debris of the past—accumulated in capital, urban infrastructures, military power, venerable institutions of learning, privileged families, and blue chip companies—now dominates the social landscape. The deeply held hopes for modernity to quash the past in the call of a brave new future have indeed burned brightly, but their light is going out« (S. 98).
Part 2: Inequality, Empire, and the Decline of Nations
Im zweiten Teil des Buches geht es um Prozesse der Herausbildung bzw. des Wandels von Nationalstaaten (Kap. 4 und 5), um die sich stetig verändernde Bedeutung kategorialer Ungleichheiten (Kap. 6 und 7) und schließlich um die kumulativen Effekte von städtischen Agglomerationen (Kap. 8) und Informationstechniken (Kap. 9). Angesichts der thematischen Schwerpunkte dieser Website sollen hier vor allem die Kapitel 4 bis 7 eingehender besprochen werden.
Das vierte Kapitel analysiert die Darstellung von Nationalstaaten in der sozialwissenschaftlichen Ungleichheitsforschung. Zunächst befasst sich Savage mit dem einflussreichen Buch von Richard Wilkinson und Kate Pickett ›The Spirit Level‹; der Untertitel der ersten Auflage (›Why Greater Equality Makes Societies Stronger‹) beschreibt bereits recht gut die dann auf vielfältige Weise empirisch plausibilisierte Kernbotschaft. Er begreift diese Studie als Exempel für ein zentrales Problem der jüngeren Forschung zu sozialen Ungleichheiten. »In the wake of the dramatic expansion of social science data, nearly all quantitative social scientists conduct secondary analyses of surveys that have been collected in the past-and not only the recent past-and over which they have had little direct control in setting up« (S. 110). Er generalisiert diese Beobachtung dann jedoch, indem er sie auf seine Basisthese bezieht und konstatiert: »The increasing weight of the past is also exerting its influence in the academy, too, and in this process undermining any useful distinction between history and social science« (ebd.). Schließlich erfolgt eine weitere Zuspitzung, indem behauptet wird: »nations are reduced to a basket of indicators« (ebd.). Dies stehe im weiteren Kontext einer Geopolitik, die nationale Statistiken zu einem Verständnis der Genese von Ungleichheiten benutze.
In der folgenden kritischen Analyse der national vergleichenden und hierarchisierenden Ungleichheitsforschung zeigt er auf: »The dominance of ranking procedures therefore needs to be placed in the light of this anglophone supremacy« (S. 123). Er verweist dann jedoch auf einen gewissen Widerspruch. Auf der einen Seite suggeriere das Ranking, dass die Nationen als gleichwertige Akteure zu begreifen seien, die das Geschehen durch ihre Politiken beeinflussen können. Umgekehrt führe dies jedoch zu globalen Rangtabellen, in denen die spezifischen nationalen Rahmenbedingungen in den Hintergrund treten und ein globaler Rahmen des Wettbewerbs dominiere. Die vermeintliche Objektivität metrischer Indikatoren werde so zu einem globalen Herrschaftsinstrument. Am Ende seiner kritischen Revision des ›Rankings of Nations‹ konstatiert Savage: »This pervasive ranking of nations by inequality indicators forms part of our now-time. It is implicated in a pervasive geopolitical contestation that values different areas of the globe differentially. I have shown that there are two major components in this space of contestation. The first of these is weighted toward European nations, which are generally relatively unequal and which report fewer obvious social problems, according to the battery of metrics and indicators that have been assembled. The other component is a technocratic politics embodying the values of a white anglosphere, in which the English language dominates« (S. 127).
Das fünfte Kapitel beginnt mit einer viel diskutierten Grafik aus dem World Inequality Report von 2018. Die Forschungsgruppe spricht von der sogenannten Elefantenkurve; diese befasst sich mit den (weltweiten) abweichenden Einkommensentwicklungen (zwischen 1980 und 2016) in den verschiedenen Einkommensbereichen (Perzentile). Bei den unteren 50% kommt es zu deutlichen Zuwächsen, die mit den Einkommensverbesserungen der ›emerging countries‹ verknüpft werden; in den Perzentilen zwischen 50 und etwa 95% (squeezed bottom 90% in the US and Western Europe) sind die Zuwächse nur gering; die höchsten Zuwächse finden sich schließlich in den obersten (und aller obersten) Gruppen (Prosperity of the global 1%). Ausgehend davon wird dann die Entwicklung in Asien, in anglophonen Ländern, in Europa und schließlich in afrikanischen bzw. südamerikanischen Ländern untersucht. Diese Analyse verdichtet Savage zu der These eines ›Return of Empire‹; so seien die wachsenden Ungleichheiten mit dem Wiederaufleben imperialer Formationen verbunden, die von einer Elite forciert werden (vgl. S. 162).
Die Entwicklungen stellen die Kohärenz der nationalstaatlichen Formationen in verschiedener Weise in Frage: »by reducing internal solidarities in nation spaces; by producing wealthy elites with inordinate influence over national bodies; by reducing civic engagement; and by accentuating competitive pressures among major national powers, thus generating greater global instability« (S. 162). Dementsprechend müsse die von vielen verfochtene Sichtweise von autonomen Nationalstaaten als Grundeinheiten der wissenschaftlichen Analyse hinterfragt werden. »It is much more helpful to identify these trends with resurgent empire building than the banal idea of globalization—a term that is too loose. In fact, it is growing regionalization, whereby different areas of the world form discrete power blocs that is more significant here« (ebd.).
Vor diesem Hintergrund schlägt Savage drei Wege vor, die die Ungleichheitsforschung angesichts der Erneuerung von Empires in einer postkolonialen Welt gehen könne: Zum einen verweist er auf Piketty’s Sorge, dass man zu den Ungleichheitsmustern des 19. Jahrhunderts zurückkehre. Zum zweiten erinnert er an das Konzept des ›state capture‹, nach dem nationale Regierungen Hand In Hand mit wichtigen ökonomischen Eliten agierten. Schließlich müsse der Verlauf von eher nationalen und eher imperialen Konstellationen genauer untersucht werden. So seien zwischen 1945 und 1970 die Nationalstaaten zu den wichtigsten politischen Akteuren geworden. Ab den 1980er Jahren sei es aber in vielen Ländern zu einer Trendwende und zu wachsenden sozialen Differenzierungen gekommen. »As middle-income earners are squeezed, so one’s shared national fate becomes less significant than whether one is at the top or bottom of the pile, thus enhancing competitive pressures within nations themselves. The wealthiest members of any nation become more intertwined in transnational networks and interactions, so their fortunes become less dependent on these national framings. However, those in the middle classes and more affluent working classes in the richer nations lose ground relatively, (…). Migration systematically allows greater potential for people to move away from their nation of origin and so further intensifies the breakdown of these national orders« (S. 163f). In der Zusammenfassung konstatiert er schließlich: »Inequality matters not simply because it reveals differential rewards among people, but also because it testifies to the return of history. Rising inequality within nations, allied to the patterns of global economic growth, testify to the waxing power of imperial blocs and the declining force of national entities that in the past have acted to damp down (to a lesser or greater extent) inequality within their borders« (S. 167).
Das sechste und siebte Kapitel befasst sich mit der variierenden Bedeutung kategorialer Ungleichheiten (race, gender und class). In historischer Perspektive unterscheidet Savage dabei verschiedene Phasen danach, welchen Stellenwert diese kategorialen Differenzierungen haben und wie sie gesellschaftlich thematisiert werden. Er grenzt idealtypisch drei Phasen gegeneinander ab:
Zunächst analysiert er die unterschiedlichen Wege der Herausbildung dieser kategorialen Differenzierungen bis zum 19. Jahrhundert. Ausgehend von der These des ›racial capitalism‹ betont er, dass die Differenzierung nach ›races‹ in den imperialen und sich modernisierenden Nationalstaaten ein wichtiges Moment der internen Homogenisierung bildete, und regionale, sprachliche oder subkulturelle Differenzierungen überlagerte. Komplexer war die Differenzierung entlang von Geschlechtergrenzen, weil Frauen ja auch Teil der Familien und mitunter auch Teil der Eliten waren und somit nicht einfach ausgegrenzt werden konnten. Die Herausbildung von Klassendifferenzierungen bringt Savage schließlich mit den Erfordernissen des Militärs in den sich formierenden Nationalstaaten in Zusammenhang. Er verweist hier insbesondere auf die Analysen von E.P. Thompson: »the first protean forms of working-class mobilization took place during the later eighteenth and early nineteenth centuries, after Britain lost its American colonies and was engaged in bitter warfare with France, so requiring more of its population to be mobilized than hitherto. After this moment of military insecurity passed, and as British imperial expansion resumed during the later nineteenth century, overt class politics declined in significance« (S. 182).
Zu einer veränderten Konstellation kommt es im 20. Jahrhundert. Den Umbruch skizziert er so: »Profits could be made, and accumulation driven, not only (or even mainly) by the brute exploitation of slaves, penniless proletarians, female domestic labor but also by skilled expert workers, working on increasingly technologically advanced systems. This trend was massively amplified in the aftermath of the second and third industrial revolutions of the early and later twentieth century, respectively, which also underscored the economic advantages of the core metropolitan nations in Europe and North America (…). As productivity became central to capital accumulation, so classic categorical distinctions were overlain by probabilistic ones in which the differential capacities of various groups to be fully engaged in productive labor became central« (S. 184f). Es kommt zu einer Relativierung kategorialer Ungleichheiten. Die Differenzierung zwischen Zivilisierten und Anderen, die in der imperialen Phase eine zentrale Rolle spielte, wurde abgelöst von Rhetoriken der Chancenunterschiede und der sozialen Mobilität. Dabei spielten nicht zuletzt auch die Sozialwissenschaften eine wichtige Rolle (vgl. S. 185).
Schließlich komme es im 21. Jahrhundert zu einem ›visceral turn‹: »By insisting on the physicality of inequality, this visceral turn reaffirms the ongoing traction of fundamental distinctions of gender and race that were characteristic of the onset of imperial modernity«. Auch hier verfolgt Savage also eine Argumentation, die eine Art Rückfall ins 19. Jahrhundert nahelegt. »In the early twenty-first century, there is a collision of two worlds: a meritocratic belief that people should not have their lives dictated for them by their accident of birth, colliding with the actual reality that the accentuation of inequality is seeing the hardening of privilege in class, gender, and racial terms as the top pulls away from the rest. This conflict around sex, gender, and race is ab out worth and dignity set in the context of the accentuation of economic inequality and the hardening of processes of ascription and increasingly hereditary inheritance at the top. The bodily markers of these divides take on great importance, just as they did at the outset of imperial modernity. There is therefore no contradiction between declining relative inequality along the lines of class and gender (though not of race) and at the same time greater antagonisms along these same axes« (S. 225).
Das achte Kapitel analysiert die veränderte Bedeutung von großen städtischen Agglomerationen. Historisch betrachtet waren sie zunächst elitäre Orte der Akkumulation. Im 20. Jahrhundert dominiert dann eher eine kulturelle Perspektive, indem sie mit Anonymität und gewissen Sinneserfahrungen verknüpft wurden. Im 21. Jahrhundert finden sich nach Savage viele Hinweise auf eine Rückkehr zu ihrer alten Bedeutung. »Cities are the site for those who have privileged stocks of capital, and more specifically, they are sites that allow convertibility between these different stocks. Cities have become the prized and defining sites for elite formation today« (S. 249).
Im neunten Kapitel geht es schließlich um Veränderungen des gesellschaftlichen Wissens und der Informationsverarbeitung. Während (wissenschaftliches) Wissen und Informationen lange Zeit eine treibende Kraft des Wandels, aber auch des Fortschritts waren und mit dementsprechenden Hoffnungen verknüpft wurden – nicht zuletzt im Projekt einer Wissensgesellschaft –, habe sich die Konstellation in der gegenwärtigen ›Informationsgesellschaft‹ nach und nach verändert. Auch hier gewinne die Macht der Geschichte zunehmend an Bedeutung: »Any and all kinds of data can be meshed into assemblages, allowing them to be built up in huge accumulations, so that extensive historical precedents can be used to make inferences. These accumulations of information and knowledge rendered in visual forms (which array them into narratives) can then be deployed by strategically powerful agents to gain relative advantages over those without the resources to access and analyze such information« (S. 271).
Part 3: The Politics of Inequality in the Twenty-First Century
Der dritte Teil des Buches befasst sich schließlich mit der Frage, wie angesichts dieser Diagnosen Politiken des 21. Jahrhunderts aussehen können. Das zehnte Kapitel analysiert zunächst die spezifischen Rahmenbedingungen politischen Handelns im Kontext der veränderten Bedeutung der Nationalstaaten. Während insbesondere in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts der Bedeutungsgewinn der Nationalstaaten mit einer Blüte liberaler Demokratien einherging und Verteilungskämpfe in einen nationalen Konsens eingebunden waren, kommt es am Ende des 20. Jahrhunderts zu einem Wandel: »However, as the political field stabilizes and becomes routinized, political capital accumulates, and insiders seek to manage the political process through effectively applying the rules of the game. Those without this political capital increasingly come to feel like outsiders on the political stage and become less energized and engaged. Those who remain vested in the political field fragment between ›Brahmin left‹ and ›merchant right‹, to use Piketty’s (2020) terms, but can fail to recognize that they are not engaging large swathes of a disenchanted electorate. Over time, they feel alienated and unrepresented. This weakens the political field so that it becomes easier for those without political capital to enter the field of politics with a view to challenging the status quo. This liberal democratic political field (…) is breaking down as a result of the increasing weight of history associated with rising inequality« (S. 306).
Das elfte Kapitel wendet sich schließlich der politischen Frage zu, was angesichts der von Savage entfalteten Ungleichheits- bzw. Zeitdiagnosen zu tun sei. Er plädiert (1) für ein ›Revival of Radicalism‹. Sowohl die Erschöpfung des Modernisierungsprojekts wie die Erschöpfung der natürlichen Ressourcen erforderten (2) ein Ende des Wachstumsmodells. Weiterhin (3) plädiert er für eine erneuerte Form des Sozialismus: »This a way of recasting socialism away from a doctrinal redistributionism and toward a politics directed at scrutinizing, criticizing, and holding to account those with undue resources, power, and authority. This approach thereby moves away from a personalized criticism of specific individuals (though at times it can certainly be this) to a wider critique of the structural arrangements that allow elite power to flourish« (S. 319). Vor diesem Hintergrund favorisiert er (4) ein verändertes Verständnis von Wohlstand und Wohlergehen. »Increasingly, we are surrounded by terms trying to register a richer concept of human well-being than that within a rationalist liberal tradition. The appeal of terms such as ›resilience‹ point—albeit vaguely—to the value of a richer concept of human life. Amartya Sen’s concept of ›capabilities‹ has enjoyed particular traction in pinpointing the decisive virtues of this approach. Sen deliberately uses this term to capture the way that individuals should be supported to achieve forms of human flourishing according to their own values and priorities, and not judged by some external criteria« (S. 322). Schließlich (5) spricht sich Savage für einen ›nachhaltigen Nationalismus‹ aus: »In this context, sustainable nationalism can be a reasonable, indeed radical, way of defining communities that share some kind of collective commitment to act responsibly together through commitments to all their members. These forms of nationalism are best able to modulate the mission-oriented thinking (…), so that it is detached from imperial and elite-driven values and is not simply anchored in the wishes of wealthy individuals (…). This recovers a model of the nation-state that sees the commitment to dialogical exchange and communication as central to its practices and self-identity. Sustainable nationalism invokes working with other nations on a shared basis, with no assumed supremacy for any specific nation or group of nations« (S. 324).
Diese Rekonstruktion der von Savage verfolgten Argumentation wäre schließlich um seine mitunter sehr detaillierten quantitativen Analysen zu ergänzen, mit denen er jeweils versucht, wesentliche Argumente zu unterlegen.
Kommentar und Kritik
Das Buch von Mike Savage besticht durch die beeindruckende Breite und an sehr vielen Stellen auch durch die Tiefe seiner Argumentation. Er führt verschiedene Welten der Ungleichheitsanalyse und -forschung gekonnt zusammen. Besonders hervorzuheben sind zum einen die Zusammenführung von sozioökonomischen und sozialgeschichtlichen Ansätzen und zum anderen deren Verschränkung mit einer intersektionalen Perspektive auf kategoriale Ungleichheiten.
Es gelingt, einen langen argumentativen Faden zu entwickeln und zu verfolgen. Der von Savage in der Einleitung eingeforderte Bruch mit den Paradigmen der ›Normalwissenschaft‹ der Ungleichheitsforschung ist gelungen; er liefert wichtige Impulse für eine Erneuerung des theoretischen Rahmens der Analyse sozialer Ungleichheiten. Auch für die (überaus wünschenwerte) Transzendierung der oft disziplinär begrenzten Perspektiven auf Phänomene sozialer Ungleichheit hat er einen wichtigen Beitrag geleistet.
Ein solch kühnes Unternehmen birgt dann aber auch manche Risiken. Um letzteres auf den Punkt zu bringen, läßt sich konstatieren: Viele Diagnosen sind spannend, originell und diskutierenswert; das Problem liegt eher in der Art und Weise, wie sie von Savage zu einer zusammenhängenden Argumentation verdichtet werden. Sicherlich ist der These vom Gewicht oder der Macht der Vergangenheit umstandslos zuzustimmen. Das Problem entsteht erst dann, wenn sie in ganz unterschiedlichen Feldern in einer stets gleichen Form vorgebracht wird.
Die grundsätzlichen Probleme der von Savage favorisierten Zusammenführung verschiedenster Analyse- und Diskussionsstränge hängen nach meinem Verständnis nicht unerheblich auch mit seinem recht universell verwandten Begriff der Sozialen Ungleichheit zusammen, der sozioökonomische Ungleichheiten innerhalb und zwischen Nationalstaaten bzw. Weltregionen umfasst, der sich auf Ungleichheiten bezieht, die mit Prozessen des othering bzw. der Inkorporierung verknüpft sind, der sich aber auch in Verstädterungen oder in Wissensordnungen dokumentiert. Ein zweites damit eng zusammenhängendes Problem liegt darin, dass Savage Ungleichheitsverhältnisse als eine Totalität begreift, die zeitlich betrachtet bestimmte Phasen durchlaufen und räumlich betrachtet kaum Variationen aufweisen. Damit legt er dann schließlich auch nahe, dass es einheitliche Ursachen dieser Entwicklungen gebe.
Es fehlt meines Erachtens die (dekonstruktive) Einsicht, dass Phänomene der sozialen Ungleichheit im Zusammenspiel ganz unterschiedlicher Akteure, Institutionen und Handlungsebenen zu begreifen sind (vgl. Marshall 2000, S. 65) und in hohem Maße von ihrer gesellschaftlichen Thematisierung und Bewertung z.B. durch soziale Bewegungen oder durch regulierende Nationalstaaten abhängen. In der Darstellung bleiben Analysen zu den ›Varieties of Capitalism‹ oder zu verschiedenen Typen von Sozialstaaten unberücksichtigt. D.h. die wichtige Rolle, die verschiedene Institutionen bei der Regulierung von Kapitalismen und bei der Moderierung von Ungleichheiten spielen, wird nicht systematisch erschlossen; der Schluss von der ökonomischen Formation auf Phänomene sozialer Ungleichheit erfolgt ohne Berücksichtigung vermittelnder Instanzen.
Etwas genauer sollten abschließend noch einmal einzelne Argumentationen beleuchtet werden:
- Die wissenssoziologische Perspektive auf die Rolle der Sozialwissenschaften (i.w.S.) liefert bedeutsame Einblicke in die Geschichte der Ungleichheitsforschung. Sie wird aber an nicht wenigen Stellen überzogen; so z.B. in historischer Perspektive bei der Begründung und Legitimierung von kategorialen Ungleichheiten, bei dem an Goldthorpe illustrierten Wandel zu einer probabilistischen Perspektive (S. 189) und bei der Kritik an dem quantifizierenden Ranking von Nationalstaaten (S. 103ff).
- Die Argumentation, dass die kategorialen Differenzierungen (race, gender und class) mit der Bildung von Imperien und Nationalstaaten zusammenhängen, ist ohne Zweifel richtig; sie werden jedoch auf einem so hohen Niveau der Verallgemeinerung betrachtet, dass wesentliche nationale und zeitspezifische Unterschiede, aber auch Unterschiede zwischen den hier summarisch betrachteten Kategorien verschwinden.
- An vielen Stellen wird auf das Gewicht der Vergangenheit verwiesen; das wird dann aber nur ganz allgemein an Prozessen der Kumulierung verdeutlicht. Die vielfältigen Wege, wie das Gewicht der Vergangenheit die Gegenwart prägt, werden nicht recht deutlich, so z.B. als materielles Erbe im engeren Sinne, als Erbe, das in der Positionierung der Nationalstaaten steckt, als institutionelles Erbe, als symbolisches Erbe oder als habitualisiertes Erbe.
- Die Bourdieu-Kritik leuchtet nicht so recht ein. Vor allem wird sie den möglichen Beiträgen Bourdieus zum Verständnis des ›weight of the past‹ nicht gerecht. Diese finden sich bereits in den ›Feinen Unterschieden‹, wenn es um die dritte Dimension des sozialen Raums (die Zeit), um die Bedeutung des Habitus oder um die Rolle von Bildungseinrichtungen geht. Im Übrigen finden sie sich auch an vielen Stellen in seinem umfangreichen Werk.
- Trotz des Kapitels, das sich mit dem Ranking von Nationalstaaten befasst, und trotz der Diagnose ihres Einflussverlusts bzw. -wandels wird die Bedeutung der Nationalstaaten für das übergreifende Thema der sozialen Ungleichheit doch recht wenig beleuchtet. Das bezieht sich sowohl auf ihre Bedeutung für die Regulation von Außenbeziehungen (z.B. über Bündnispolitik, Handelspolitik, Migrationspolitik etc.) wie auf ihre Rolle bei der Regulation binnenstaatlicher Ungleichheiten (z.B. über Bildungspolitik, Sozialpolitik etc.).
Inhaltsübersicht
INTRODUCTION: WHAT IS THE CHALLENGE OF INEQUALITY?
1: Turning the Telescope: The Rich as a Social Problem
2: The Crisis of Social Science
3: Equality as a Transcendental Ideal
4: The Stakes of the Inequality Paradigm
5: Outline of the Book
PART 1: INEQUALITY IN TIME AND SPACE
1. Turning the Telescope: The Economic Analysis of Income Distribution
1.1: Income Distributions and the Critique of Poverty Measures
1.2: Income Distributions as Icons
1.3: Limits of Income Distributions
2. Society as a Sports Field: The Challenge of Bourdieu
2.1: Bourdieu’s Distinction
2.2: Field Analysis
2.3: Pitfalls of Field Analysis
3. Renewing Marx: Capital Accumulation and the Weight of History
3.1: Why Does Wealth Inequality Matter?
3.2: Rethinking Modernity
3.3: Epochalism and Social Change Revisited
PART 2: INEQUALITY, EMPIRE, AND THE DECLINE OF NATIONS
4. The Ranking of Nations
4.1: The Spirit Level
4.2: The Ordinal Comparison of Nations
4.3: Eurocentrism, Empire, and the Return of History
5. The Return of Empire: Inequality on a Global Scale (Gliederungsfehler korrigiert)
5.1: The Historical Return of Asia
5.2: The Geopolitics of American Global Dominance
5.3: European Exceptionalism?
5.4: The South American and African “Squeeze”
5.5: The Return of Empire
6. Insiders and Outsiders: Race, Gender, and Class in Long-Term Perspective
6.1: Visualizing the Stuff of Inequality
6.2: Insiders and Outsiders: White Anxieties in the Genesis of Classic Categories
6.3: Unequal Chances: The Relativization of Categorical Inequality, 1900–2000
7. Visceral Inequality in the Twenty-First Century
7.1: From Identity Politics to Visceral Inequality
7.2: The Decline of Probabilistic Inequality: Social Class
7.3: De-gendering?
7.4: The Racial Divide
7.5: Visceral Inequalities and Economic Inequality
8. Cities, Elites, and Accumulation
8.1: Economic Inequality in the City
8.2: Cities as Sites of Accumulation
8.3: A New Urban Cultural Capital
9. The Force of Information and Technology
9.1: The Time of Technology
9.2: History in the Remaking of Cultural Capital
9.3: Cultural Capital, Visualization, and the Aesthetic Stakes of the Technological Sublime
PART 3: THE POLITICS OF INEQUALITY IN THE TWENTY-FIRST CENTURY
10. Reinstating the Time of Politics
10.1: Restating the Time of National Politics
10.2: The Political Field and the Rules of the Game
11. What Is to Be Done?
11.1: The Revival of Radicalism
11.2: The End of Growth Models
11.3: From a Politics of Scarcity to Holding Capital to Account
11.4: Rounded Conceptions of Well-Being
11.5: Sustainable Nationalism
Literatur
Alvaredo, Facundo/ Lucas Chancel/ Thomas Piketty/ Emmanuel Saez/ Gabriel Zucman 2017: World Inequality Report 2018, World Inequality Lab
Bhattacharyya, Gargi 2018: Racial Capitalism. Questions of Reproduction and Survival, London: Rowman & Littlefield International
Marshall, Thomas H. 2000 [1950]: Staatsbürgerrechte und soziale Klassen, in: Jürgen Mackert/ Hans-Peter Müller (Hrsg.), Citizenship – Soziologie der Staatsbürgerschaft, Opladen: Westdt. Verl., S. 45-102
Piketty, Thomas 2014: Das Kapital im 21. Jahrhundert, München: C.H. Beck
Piketty, Thomas 2020: Kapital und Ideologie, München: C.H. Beck
Savage, Mike 2021: The return of inequality. Social change and the weight of the past, Cambridge, Massachusetts: Harvard University Press
Savage, Mike 2023: Die Rückkehr der Ungleichheit. Sozialer Wandel und die Lasten der Vergangenheit, Hamburg: Hamburger Edition
Thompson, Edward P. 1987 [1963]: Die Entstehung der englischen Arbeiterklasse (Bd. 1 & 2), Frankfurt: Suhrkamp
Wilkinson, Richard G./ Pickett, Kate 2009: The spirit level. Why more equal societies almost always do better, London: Allen Lane