Die Forschungsgruppe um Olaf Groh-Samberg hat für den Sechsten Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung ein multidimensionales Lagemodell entwickelt, das auf Quer- wie Längsschnittdaten des Sozioökonomischen Panels (SOEP) aufbaut. Das Modell zielt auf eine Verknüpfung verschiedener Ansätze der Lebenslagenforschung. In Abgrenzung zu einem rein monetären Verständnis von Armut und Reichtum begreifen die Autor_innen soziale Lagen als ein haushaltliches Zusammenspiel von Einkommenslagen und Lebenslagen. Gegenüber weitergehenden Ansätzen der Ermittlung von Lebenslagen beschränken sich die Autor_innen jedoch auf materielle Lebenslagen.

Die Einkommenslage wird über die (über 5 Jahre) gepoolten relativen (bezogen auf das Medianeinkommen) Einkommenspositionen bestimmt. Die Lebenslagen werden als additiver Index aus der Erwerbssituation, der Wohnsituation und der Vermögenssituation ermittelt. Diese Information werden in einer Kreuztabelle zusammengetragen. Durch die inhaltlich begründete Zusammenfassung einzelner Felder, werden sechs Gruppen konstruiert, die sich durch eine gemeinsame multidimensionale Lage auszeichnen. So werden z.B der multidimensionalen Gruppe Armut alle diejenigen zugerechnet, deren Einkommen unterhalb der Armutsschwelle von 60% liegt und deren Lebenslagen depriviert oder prekär sind; zusätzlich werden auch Personen mit einem prekären Einkommen und einer deprivierten Lebenslage der Armutsgruppe zugerechnet. Die grau markierten Lagen zeichen durch eine inkonsistente Kombination von Einkommens- und Lebenslagen aus, z.B. Einkommensarme in einer gehobenen oder privilegierten Lebenslage. Die Gruppe der Inkonsistenten macht jedoch nur sehr wenige Prozent der Befragten aus, insbesondere wenn das gesamte 5-Jahresintervall berücksichtigt wird.

Für das Fünfjahresintervall zwischen 2013-2017 lässt sich die Größe (Groh-Samberg et al. 2021, S. 68) der farblich markierten Gruppen wie folgt bestimmen:

• Armut: 11,0%
• Prekarität: 5,9%
• Untere Mitte: 10,5% + 9,9%
• Mitte: 37,0%
• Wohlstand: 13,2% + 3,4%
• Wohlhabenheit: 9,1%

Der unteren Mitte bzw. dem Wohlstand wurden auch zwei Zwischengruppen (Armut–Mitte: 9,9% bzw. Wohlstand-Mitte: 3,4%) zugerechnet. Diese unterscheiden sich in ihrer durchschnittlichen Einkommens- bzw. Lebenslage nicht von der jeweiligen Gruppe; sie weisen jedoch eine hohe Dynamik der Einkommens- bzw. Lebenslagenwerte aus.

Wenn man die Verteilung der Gruppen mit der gemittelten Einkommensverteilung der Jahre 2015 bis 2018 vergleicht, werden die Spezifika des Ansatzes deutlich. Nach den Angaben im Datenreport 2021 (S. 233), der mit einer etwas anderen Abgrenzung arbeitet, stellt sich die Einkommenslage in diesem Zeitraum so dar:

• Armut (unter 60% des Medianeinkommens): 16,1%
• Prekarität (60-75% des Med.): 11,2%
• Mitte (75-125% des Med.): 41,1%
• Gehobene Einkommen (125-200% des Med.): 25,0%
• Reichtum (mehr als 200% des Med.): 6,6%

Verglichen mit dieser (gemittelten) Querschnittsbetrachtung fällt in der multidimensionalen Perspektive der Studie die Gruppe der Armen geringer aus; es sind jene, die längerfristig arm sind und jene, bei denen sich die Armut auch in der Erwerbs-, der Wohn- und der Vermögenssituation ausdrückt. Ähnliches gilt für die Gruppe der Prekären. Die Mitte fällt gegenüber der querschnittlichen Einkommensperspektive in dem integrierten Ansatz breiter aus. Auch die beiden Wohlstandsgruppen sind in der integrierten Perspektive kleiner aus als im Querschnitt.

Diese Studie liefert ein gutes Beispiel, wie die Panel- bzw. Haushaltsdaten des SOEP für komplexere sozialstrukturelle Analysen genutzt werden können. Indem neben der reinen Einkommenssituation unterschiedliche Aspekte der materiellen Lebenslage mitberücksichtigt werden und indem Einkommensverläufe betrachtet werden, modifiziert sich der Blick auf Armut bzw. Wohlstand. Zugleich werden die Grenzen der für Längsschnitte verfügbaren Datensätze erkennbar; so mussten sich die Autor:innen gezwungenermaßen auf die materiellen Aspekte der Lebenslage beschränken.

Groh-Samberg, Olaf/ Theresa Büchler/ Jean-Yves Gerlitz 2020: Soziale Lagen in multidimensionaler Längsschnittbetrachtung. Begleitforschung zum Sechsten Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung, Berlin: Bundesministerium für Arbeit und Soziales

Bundesministerium für Arbeit und Soziales 2021: Lebenslagen in Deutschland. Der Sechste Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung, Berlin: Bundesministerium für Arbeit und Soziales